Bürgersinn gegen zwiefache Barbarei
Von
SALIMA
GHEZALI *
DEN Kampf gegen den Terrorismus kann man nicht mit Samthandschuhen und mit der Erklärung der Menschenrechte in der Hand führen.“ So oder ähnlich hört man es immer wieder von Männern und Frauen, die in der algerischen Politik eine Rolle spielen. Zweifel an der repressiven Politik des Staates gegen die islamistische Bewegung werden sofort gleichgesetzt mit einer Kapitulation vor Fortschrittsfeindlichkeit und Barbarei; jeder Versuch einer Diskussion scheitert an diesem unumstößlichen Grundsatz: Wer zum Lager der „Modernen“ und der „Patrioten“ gehören will, muß deutlich gegen Terrorismus und Islamismus Stellung nehmen und sich jeder Kritik an der staatlichen Gewalt enthalten.
Es steht außer Frage, daß der islamistische Terrorismus eine Form der Barbarei ist. Die Vorstellung, daß der Kampf um die Macht jedes noch so entsetzliche Mittel rechtfertigt, hat in nicht geringem Maße zur Entfesselung der Gewalt in Algerien beigetragen. Die Wunden, die der islamische Terrorismus der algerischen Gesellschaft geschlagen hat, werden sich lange nicht schließen. Ein schmerzhafter Riß geht durch die Gemeinschaft – aber diese Spaltung ist auch die Folge der harten Repressionspolitik des Staates, der sich als „modern“ ausgibt und sich aus dem Begriffsarsenal der demokratischen Gesellschaft bedient, um seine Privilegien und seine autoritäre Macht zu verteidigen. Meist stehen sich die Maßnahmen der beiden kriegführenden Parteien jedoch an Grausamkeit in nichts nach. Und zwischen diesen Polen: eine Bevölkerung, die der Terror in all seinen Formen mit voller Härte trifft, die – zum Schweigen gebracht – immer nur dazu gedrängt wird, Partei zu ergreifen und ohne jeglichen Skrupel den „Feind“ zu vernichten, im direkten, physischen Sinne des Wortes.
Diese Logik des Krieges bestärkt alte irredentistische Neigungen, ruft traditionelle Rivalitäten und Stammesdenken wach und nährt sich von den Ängsten, die unablässig durch eine Propaganda der selektiven Information geschürt werden. In diesem Land, das nur von 1989 bis 1991 pluralistische Verhältnisse gekannt hat (eine viel zu kurze Zeitspanne, als daß sich ein demokratisches Bewußtsein hätte verankern können), begegnet man der Diskussion um die Menschenrechte mit Mißtrauen – sie erscheint vielen bloß als ein verdeckter Stellungskrieg auf seiten des einen oder anderen Lagers. Hinzu kommt, daß die Informationspolitik der Einheitspartei die Bevölkerung über Jahrzehnte zur Kritiklosigkeit erzogen hat. Mehr noch als die Presse ist das Fernsehen Teil der Kriegsmaschinerie geworden: Auf Anweisung der Machthaber werden Ereignisse groß herausgestellt, ja gar geschaffen oder völlig unterschlagen.
So wird der Graben täglich tiefer: Die einen lassen sich von der offiziellen Propaganda blenden, die anderen, die Islamisten, werden in ihrer gnadenlosen Revolte bestärkt, weil man ihre Leiden nicht zur Kenntnis nimmt. Recht und Gesetz zu beschwören ist unter solchen Umständen nicht einfach, zumal wenn die Gesetze nur der weiteren Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten dienen, wie etwa das neue Gesetz über sicherheitsrelevante Informationen. Daß angesichts eines solchen politischen Klimas die wichtigsten Kräfte der Opposition – vor allem die Nationale Befreiungsfront (FLN), die Islamische Heilsfront (FIS) und die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) – im Januar 1995 in Rom eine Übereinkunft geschlossen haben1, in der jede Gewaltanwendung verurteilt und zur Einhaltung der internationalen Menschenrechtsabkommen aufgerufen wird, stellt einen unleugbaren Fortschritt dar.
Die Bekräftigung der Unverletzlichkeit jedes einzelnen Menschen bedeutet einen Sieg der Vernunft über Angst und Leidenschaft. Demokratische Haltung zeigt sich darin, daß man auch seinem Gegner gewährt, was Fanatismus und Willkürherrschaft ihm verweigern: das Recht auf Menschenwürde. Die Radikalen beider Lager verweisen meist auf die Ideologie des Gegners, um ihre eigene Mißachtung der Menschenrechte zu rechtfertigen – so nehmen die blutigen Exzesse ihren Lauf.
Die verabscheuungswürdigen Terroranschläge in der algerischen Tragödie – immer wieder Autobomben und verstümmelte Leichen – sind zu Recht jedes Mal angeprangert worden. Einen schrecklichen Höhepunkt markierte der Anschlag vom 30. Januar 1995 vor dem Polizeipräsidium von Algier, der 42 Tote und 286 Verletzte forderte. Aber weshalb herrscht ein nahezu völliges Schweigen über jene Brutalität, mit der die Operationen zur Wiederherstellung der Ordnung durchgeführt werden? Internationale Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international und Human Rights Watch haben schließlich immer gegen die Übergriffe beider Seiten protestiert.
In verschiedenen Menschenrechtsorganisationen ist es allerdings zu heftigen internen Auseinandersetzungen gekommen, weil die extremen Positionen der Islamisten ebenso wie die Entsetzlichkeit ihrer Anschläge bei einigen Aktivisten Zweifel geweckt haben, ob der humanitäre Einsatz für diese Konfliktpartei noch zu vertreten sei. Sollte diese Haltung weitere Anhänger gewinnen, so käme das sowohl den religiösen Fundamentalisten wie den Vertretern der staatlichen Gewaltherrschaft nur gelegen. Die Staatsmacht wäre den heilsamen Druck los, den die Menschenrechtsorganisationen auf sie ausüben, und könnte ihre Politik der völligen Unterjochung der Bevölkerung durchführen, ohne noch auf den geringsten Widerstand zu stoßen. Die Fundamentalisten ihrerseits, ob in der Opposition oder an der Macht, sähen sich in ihrer Überzeugung bestätigt, daß es in der Menschenrechtsfrage keine universell gültigen Prinzipien gibt.
Einige Islamisten haben bereits argumentiert, die passive Haltung des demokratischen Lagers angesichts der Menschenrechtsverletzungen, die sie zu erdulden hätten, sei Beweis genug, daß es jenes universelle Prinzip, demzufolge alle Männer und Frauen gleich sind, gar nicht gebe. Mit diesem Argument agitieren die Radikalen unter ihnen all jene Jugendlichen, die gegen das vielfache Unrecht aufbegehren, das ihnen widerfährt. Über dieses Unrecht herrscht allgemein Schweigen – aber um die Gewalt gegen andere soziale Schichten wird großes Aufheben gemacht. Den Ausgegrenzten bleibt somit nur der Weg des Märtyrertums – und das lassen sie ihre Opfer spüren, in der vollen Überzeugung, daß die Menschen nichts gemeinsam haben jenseits ihrer Verschiedenheit.
Zwar haben viele Experten die Spezifika der verschiedenen Kulturen beschrieben, radikale Oppositionsbewegungen jedoch entstehen bekanntlich immer dort, wo Gewaltherrschaft ausgeübt wird. Wenn sich die Extreme aufschaukeln, besteht die Gefahr, daß die Leidenschaften überhandnehmen. Nur eine Rückbesinnung auf die Grundprinzipien der menschlichen Gemeinschaft und eine Wachsamkeit gegenüber dem Terror beider Lager, des Staates wie der bewaffneten Gruppen, kann dazu führen, daß schließlich das der Bürgersinn gegenüber der zwiefachen Barbarei den Sieg davonträgt.
dt. Edgar Peinelt
1 Zum „Nationalen Vertrag“ von Rom siehe Le Monde diplomatique, März 1995.
* Herausgeberin der Wochenzeitung La Nation, Algier.