15.03.1996

Stimmen aus Frankreich und Deutschland

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Stimmen aus Frankreich und Deutschland

SEIT der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags im Jahre 1963 bis zum heutigen Tag stellen die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ein Verhältnis ganz besonderer Art zwischen zwei Staaten dar, auch wenn nun die deutsche Vereinigung eine gewisse Unordnung ins Spiel gebracht hat. Diese Verbindung ist allerdings das Ergebnis eine voluntaristischen Politik der offiziellen Stellen: Trotz anhaltender Bemühungen zahlreicher Organisationen, insbesondere des Deutsch-Französischen Jugendwerks, hat, zumindest in Frankreich, die Idee der Partnerschaft nicht wirklich auf die Bevölkerung übergegriffen.

Alle „deutsch-französischen Belange“ sind im großen und ganzen Sache der engagierten, hochmotivierten Profis geblieben, der politisch Verantwortlichen, der höheren Beamten und der Universitätsgermanisten. Gerade für letztere ist der Brückenschlag nach Deutschland von Bedeutung, und er verleiht ihnen Bedeutung: Sie gewinnen dabei, und sei es nur, weil sie so wenige sind, eine weitaus engere Verbindung mit den Strukturen der Macht und den Institutionen der Zusammenarbeit als beispielsweise die Hispanisten mit Spanien und Lateinamerika oder die Anglisten mit der anglophonen Welt.

Zwei Sammelbände zeugen von der Vielfalt der Ergebnisse, die dieses germanistische und deutsch-französische Geflecht von Beziehungen zwischen Universitäten und einschlägigen Forschungsinstituten hervorgebracht hat. Das erste Buch, das Beiträge des 28. Kongresses der Vereinigung französischer Hochschulgermanisten (AGES) enthält, zieht eine Bilanz der fünf Jahre, die seit der deutschen Wiedervereinigung vergangen sind.1 Eine ausführliche Studie über die historischen Bedingungen der Einheit leitet eine Serie von Analysen ein, die sich so unterschiedlichen Themen widmen wie der Frage der Eingliederung der Nationalen Volksarmee in die Bundeswehr, der Arbeit der 1994 aufgelösten Treuhandanstalt, oder auch der Presse und ihrer Leserschaft in den neuen Bundesländern. Die letzten acht Beiträge handeln davon, welche Auswirkungen die Wende von 1989 auf die Literatur und die Schriftsteller in Deutschland gehabt hat, denn nach wie vor teilt sich der Literaturbetrieb in Ost und West, und es bestehen zwei deutlich voneinander getrennte Öffentlichkeiten.

In seinem Vorwort unterstreicht Alfred Grosser die positiven Folgen der Wende für die französische Germanistik, die den Apologeten der DDR wie der BRD die Chance bot, zum kritischen Geist zurückzufinden – wenn auch nicht allen, wie man aus den Reaktionen der versammelten Germanisten auf die Worte des Schriftstellers Rolf Schneider ersehen konnte. Mit seiner Bemerkung, daß in Deutschland die Gespenster der Vergangenheit wieder lebendig werden könnten, stieß er beim anwesenden Publikum auf heftigen Widerstand. Bei vielen Germanisten gilt nach wie vor das typische Phänomen, daß Universitätsangehörige und Wissenschaftler sich im eigenen Land zum Sprachrohr der herrschenden Ideen jenes Landes machen, das ihr Forschungsgegenstand ist.

DIESE Haltung kommt auch in dem Buch über die deutsch- französischen Beziehungen seit dem Ende des Kalten Kriegs zum Ausdruck, das aus der Zusammenarbeit von vier Forschungsinstituten entstanden ist: in Deutschland waren die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und das Deutsch-Französische Institut (DFI) beteiligt, in Frankreich das Institut Français des Relations Internationales (Ifri) und das Centre d'Information et de Recherche sur l'Allemagne contemporaine (Cirac).2

Allerdings bietet dieser Band Betrachtungen verschiedener Fragen aus beiden Blickrichtungen: es werden die offiziellen Positionen beider Länder vorgestellt oder analysiert. Im Teil über die Außen- und Sicherheitspolitik findet man beispielsweise Kapitel über die Rolle, die den Vereinigten Staaten, Polen oder Rußland innerhalb der deutsch-französischen „Paarbeziehung“ zukommt. Im zweiten Teil werden die Unterschiede zwischen Bonn und Paris im Umgang mit den Fragen der Industriepolitik und der Wettbewerbsfähigkeit aufgezeigt. Beim Thema Währungspolitik herrscht keinerlei Mißklang: Hier verteidigt ein französischer Autor die Sache der Deutschen Bundesbank.

B.C.

1 „L'Allemagne unifiée cinq ans après“, Beiträge zum 28. Kongreß der Association des germanistes de l'enseignement supérieur (AGES), herausgegeben von Jérôme Vaillant, mit einem Vorwort von Alfred Grosser, AGES, Presses de l'université de Valenciennes 1995, 404 Seiten, 145 F.

2 Karl Kaiser, René Laserre, Thierry de Montbrial, Robert Picht (Herausgeber), „Agir pour l'Europe. Les relations franco-allemandes dans l'après-guerre froide, Paris (Masson-Ifri) 1995, 371 Seiten, 249 F; auf deutsch erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1995 unter dem Titel „Handeln für Europa. Deutsch- französische Zusammenarbeit in einer veränderten Welt“.

Le Monde diplomatique vom 15.03.1996, von B.C.