15.03.1996

Major wählt die Waffen

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Major wählt die Waffen

DIE sechzehnmonatige Waffenruhe in Nordirland hatte die Hoffnung geweckt, daß dieser für unlösbar gehaltene Konflikt nach einem Vierteljahrhundert endlich, wie die Konflikte in Südafrika und im Nahen Osten, zu einer friedlichen Lösung kommen würde. Auslöser für den Wiederbeginn von Terroraktionen der republikanischen Bewegung auf britischem Boden war die umstrittene Frage der Waffenabgabe seitens der IRA und der protestantischen Milizen – ein eher symbolisches als militärisches Problem. John Major, der aus Gefälligkeit gegenüber den neun unionistischen Abgeordneten, von denen sein politisches Überleben abhängt, plötzlich die Waffenabgabe zur Vorbedingung für Allparteienverhandlungen erklärte, hat sich damit keineswegs als Staatsmann erwiesen, vielmehr als ein Regierungschef, der in der Zwickmühle steckt.

Von PIERRE JOANNON *

Waren die verheerenden Attentate vom 9. und 18. Februar dieses Jahres in London lediglich eine brutale Warnung, oder sind sie ein Zeichen, daß sich in der republikanischen Bewegung Nordirlands allgemein und in der IRA im besonderen die „Falken“ gegen die „Tauben“ durchgesetzt haben? Von der Antwort auf diese Frage hängt das Schicksal des Friedens in Nordirland ab, der bei den vielen Hindernissen und Schlaglöchern auf dem Weg der Verhandlungen nur mit äußerster Mühe zustande gebracht worden war.1

Dublin und London hatten sicherlich keine Anstrengung gescheut, um in der gemeinsamen Erklärung vom 15. Dezember 1993 in Downing Street und in dem Neuen Rahmenabkommen (New Framework for Agreement) vom 22. Februar 1995 die Grundlinien für den Kompromiß festzulegen, den die politischen Parteien Nordirlands kurzfristig aushandeln sollten, damit aus der ungewissen Beendigung der Feindseligkeiten ein echter Frieden werden könnte. Doch kaum auf den Weg gebracht, stießen die Vereinbarungen schon auf ein unvorhergesehenes Hindernis, das in den Grundlagentexten nicht erwähnt war: Die paramilitärischen Organisationen der Nationalisten und der Loyalisten behielten ihre Waffenarsenale, und die britische Regierung forderte die zumindest partielle Entwaffnung als Vorbedingung jeglicher Verhandlung.

Die Erklärung vom 15. Dezember 1993 beschränkt sich auf die Präzisierung, daß die beiden Regierungen in gegenseitigem Einvernehmen bestätigen, der Weg zum Frieden führe über den endgültigen Gewaltverzicht. Unter dieser Voraussetzung „haben die demokratisch gewählten Parteien, die sich zur Anwendung ausschließlich friedlicher Mittel verpflichten und gezeigt haben, daß sie das demokratische Verfahren akzeptieren, die Möglichkeit, sich in vollem Umfang und zur rechten Zeit am Dialog zwischen den Regierungen und den politischen Parteien zu beteiligen“. Ist es angesichts der Fülle von Details in diesem Text vorstellbar, daß das Problem der Waffen, wenn es denn ein Problem war, nicht erwähnt und dadurch in eine Grauzone verwiesen wurde?

Im Laufe der achteinhalb Monate, die zwischen der Veröffentlichung dieser Erklärung und der Verkündung der Waffenruhe seitens der Republikaner vergangen sind, hat sich der britische Premierminister John Major bereit erklärt, nähere „Erläuterungen“ zur Position seiner Regierung zu liefern. Zu keinem Zeitpunkt war von der Herausgabe oder der Vernichtung der Waffen im Besitz der paramilitärischen Organisationen die Rede; ebensowenig wie während der ersten beiden Monate der Waffenruhe. Was Major zu diesem Zeitpunkt von der IRA und ihrem politischen Arm, der Sinn Féin, forderte, war die Zusicherung in Form einer klaren Verpflichtung, daß das Ende der Feindseligkeiten definitiv und dauerhaft sei. Folge davon war eine Flut von Forderungen nach „Klarstellung“ an die Sinn Féin, denen sie schlecht und recht nachkommt.

Nachdem die vereinigte militärische Führung der Loyalisten, welche die Ulster Defense Association (UDA), die Ulster Volunteer Force (UVP) und die Kommandos der Roten Hand umfaßte, am 13. Oktober 1994 ihrerseits verkündet hatte, „alle militärischen Operationen generell einzustellen“, erklärte sich John Major schließlich „bereit, den republikanischen Waffenstillstand als dauerhaft zu betrachten“, und kündigte die Aufnahme von Sondierungsgesprächen mit der Sinn Féin noch vor Jahresende an, um die Modalitäten ihrer Integration in den politischen Prozeß festzulegen und die Möglichkeiten zu prüfen, „Waffen und Sprengstoff aus dem Leben Nordirlands zu verbannen“. „Verbannen“ bedeutete nicht zwangsläufig „vernichten“, schon gar nicht vor Beginn der Gespräche über die Zukunft der Provinz.

Auf politischer Ebene trat man weiter auf der Stelle: Am 7. März 1995 stellte Patrick Mayhew von Washington aus drei Bedingungen, denen die irischen Republikaner sich unterwerfen sollten, um sich an den Verhandlungstisch setzen zu dürfen: „die grundsätzliche Bereitschaft zur schrittweisen Entwaffnung, ein Übereinkommen über die Modalitäten der Vernichtung sowie die sofortige Vernichtung einiger Waffen als Bestätigung für den Beginn des Prozesses“. Diese Forderung wurde von Sinn Féin und der IRA – wie übrigens anschließend auch von den Loyalisten – abgelehnt. Zwar räumte die republikanische Bewegung ein, die Waffen grundsätzlich herausgeben zu wollen. Aber ihrer Meinung nach sollte dies bei den Verhandlungen auf die Tagesordnung gesetzt und in dem daraus hervorgehenden Friedensvertrag geregelt werden, wie die anderen Grundsatzfragen auch.

Appelle der Vermittler verhallen ungehört

ABGESEHEN von den Traditionen und den historischen Präzedenzfällen, die dazu geführt haben, daß man in Irland die Waffen wohl niemals wirklich ablegen wird, darf man auch nicht vergessen, daß die heutige IRA im Frühjahr 1970 zunächst als Miliz zur Selbstverteidigung der nationalistischen katholischen Viertel entstanden war, als diese von protestantischen Unruhestiftern belagert und von einer überforderten oder gleichgültigen, um nicht zu sagen sympathisierenden Polizei schlecht oder gar nicht geschützt wurden. Man darf das Problem der illegalen Waffen auf seiten der IRA oder der Loyalisten nicht von dem Problem der legalen Waffen trennen, die sich zu Tausenden hauptsächlich im Besitz der Protestanten befinden. Erst die Verhandlungen – so ist wenigstens zu hoffen – können das Bedürfnis nach Selbstverteidigung überflüssig werden lassen; und das ist einer der Gründe, warum die IRA nicht bereit ist, im voraus ihre Waffen abzugeben.

Man darf auch den internationalen Kontext nicht vernachlässigen, denn die Entwicklung der Situation im Nahen Osten und in Südafrika hat den Beweis geliefert, daß es eine friedliche Lösung für die Konflikte gab, sobald die PLO und der ANC – mit denen sich die IRA in der Vergangenheit gern identifiziert hat – am Verhandlungstisch zugelassen wurden, ohne daß sie zuvor ihre Waffen abgegeben hatten. Sicher ist die Situation in Nordirland eine andere, denn der Verhandlungswille wird nicht von allen Protagonisten geteilt. Die Unionisten als Hauptopfer des IRA- Terrors empfinden einen offensichtlichen Widerwillen gegen die Vorstellung, den Dialog mit den Republikanern aufzunehmen. Sie haben bis zum Überdruß erklärt, es komme für sie nicht in Frage, an eine Aufnahme von Verhandlungen mit der Sinn Féin zu denken, solange diese nicht erreiche, daß die IRA ihre Waffen niederlege und ihre Befehlsstrukturen auflöse.

Im Sommer 1995 wird die Situation explosiv. Der britische Fallschirmjäger Lee Clegg, der wegen des Mordes an einem katholischen Mädchen zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war, wird freigelassen, ohne daß für die republikanischen Gefangenen ein ähnliches Zugeständnis gemacht wird. Am 8. September wählt die Ulster Unionist Party (UUP) einen neuen Präsidenten, David Trimble, der die Wahl einer nordirischen Versammlung mit begrenzten Kompetenzen vorschlägt. Damit ließe sich seiner Ansicht nach der demokratisch repräsentative Charakter der Sinn Féin nach der Waffenruhe auf die Probe stellen und zugleich ein geeigneter Rahmen für die Verhandlungen zwischen den Parteien finden. Weil sie ein stark nach interner Lösung riechendes Verzögerungsmanöver wittern, das mit der dringenden Notwendigkeit globaler Verhandlungen und der von beiden Regierungen anerkannten Forderung nach „Gleichrangigkeit“ unvereinbar ist, lehnen Dublin, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDLP) mit John Hume an der Spitze und die Sinn Féin das vergiftete Angebot ab.

Am 28. November 1995, kurz vor dem offiziellen Besuch von Präsident Bill Clinton im Königreich und in Irland, einigen sich John Major und sein irischer Kollege John Bruton auf eine Vorgehensweise, die darauf abzielt, die mit der Waffenvernichtung und der Aufnahme von Allparteienverhandlungen verbundenen Probleme parallel in Angriff zu nehmen. Eine internationale Kommission unter dem Vorsitz des früheren amerikanischen Senators George Mitchell, der auch Harri Holkeri, der frühere Premierminister Finnlands, und General John de Chastelain, der kanadische Generalstabschef, angehören, wird beauftragt, bis Mitte Januar 1996 einen Bericht zur Vernichtung der Waffen zu erarbeiten.

Gleichzeitig fordern die beiden Regierungen die Parteien schon zu vorbereitenden Gesprächen im Hinblick auf die Beendigung des parallelen Vorgehens auf, damit die Grundsatzverhandlungen zwischen allen betroffenen Seiten Ende Februar 1996 beginnen können. Diese Initiative machte den Weg für den triumphalen Besuch des amerikanischen Präsidenten frei, der, beflügelt von seinen diplomatischen Erfolgen in Bosnien und im Nahen Osten, fest entschlossen ist, mitten im Wahljahr auch noch Nordirland auf seine Erfolgsliste zu setzen.

Die drei Weisen beginnen mit ihren Anhörungen. Am 10. Januar stellt die Sinn Féin eine gewisse Flexibilität unter Beweis, als sie sich einer seinerzeit von den Briten vorgeschlagenen Option anschließt: Die IRA gibt ihre Waffen nicht ab, sondern führt unter der Kontrolle einer „dritten, unabhängigen Partei“ die Vernichtung ihres Arsenals selbst durch. Dieser Vorschlag, der ausgesprochen positiv beurteilt wurde, blieb allerdings hinter den britischen Forderungen zurück. Denn die Sinn Féin präzisierte, daß die Vernichtung der Waffen „im Rahmen der Friedensregelung“ erfolgen müsse und auf keinen Fall eine Vorbedingung für die Verhandlungen darstellen könne. Am 22. Januar 1996 übergibt Senator Mitchell den Regierungen in London und Dublin seinen Bericht. Das Problem der Waffenvernichtung – so ist dort in aller Deutlichkeit zu lesen – sei lediglich ein Symptom, hinter dem sich ein tieferliegendes Übel verberge: der Mangel an gegenseitigem Vertrauen. Deshalb gibt die Kommission Empfehlungen zweierlei Art: zum einen politische Empfehlungen, die darauf abzielen, die Verständigung zu verbessern, zum andern militärische oder sicherheitspolitische Empfehlungen, die auf eine Entwaffnung abzielen.

Im Hinblick auf eine Verständigung wird von den anwesenden Parteien gefordert, daß sie sich uneingeschränkt verpflichten, die Regeln der Demokratie zu respektieren und politische Differenzen mit friedlichen Mitteln zu lösen. Sie sollen einer umfassenden und überprüfbaren Entwaffnung aller paramilitärischen Organisationen zustimmen, den Verhandlungsverlauf nicht durch Gewalthandlungen beeinflussen, die Klauseln des am Ende der Verhandlungen zwischen den Parteien geschlossenen Vertrags einhalten und sich dafür einsetzen, daß die gewalttätigen und mörderischen „Straf“-Aktionen aufhören: eine ernsthafte Herausforderung an die IRA wie an die bewaffneten Fraktionen der Loyalisten.

Zum Thema Entwaffnung erklärt die Kommission: „Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß die paramilitärischen Organisationen ihre Waffen nicht vor Beginn der Verhandlungen niederlegen werden.“ Infolgedessen empfiehlt sie als Kompromiß, daß die Entwaffnung der paramilitärischen Gruppierungen während der Verhandlungen und vor Vertragsabschluß stattfinden solle. Weiter regt sie verschiedene vertrauensbildende Maßnahmen an, von denen die vorletzte eventuelle Wahlen zum Inhalt hat, sofern sie eine breite Zustimmung finden und sich in den Rahmen der Gesamtregelung des Nordirlandkonflikts einfügen. Abschließend fordert sie von allen anwesenden Parteien „die Bereitschaft, für den Frieden auch Risiken einzugehen“.

Die innenpolitische Situation in Großbritannien ist kaum dazu angetan, John Major für solche Risiken zu gewinnen. Seine Mehrheit im Parlament hat sich inzwischen auf wenige Stimmen reduziert, was ihn von den neun unionistischen Abgeordneten abhängig macht. Seine Rede vom 24. Januar dieses Jahres vor dem Unterhaus zeigt dies deutlich: Sie kommt einem scharfen Abbremsen des Friedensprozesses gleich. Zwar spricht Major zunächst der Mitchell-Kommission sein Lob aus, doch deren Schlußfolgerungen weicht er aus. Er ignoriert den Appell, endlich von der Forderung nach Vorabentwaffnung Abstand zu nehmen, und überhört auch ihren Vorschlag, die Vernichtung der Waffen während der Verhandlungen durchzuführen.

Da sie die Waffen nicht niederlegen, sollen die Parteien „sich ein Wahlmandat für die Verhandlungen sichern“, erklärt der Premierminister, womit er sich dem Vorschlag eines „Wahlvorganges“ anschließt, den die Unionisten schon immer befürwortet haben. Dadurch vertagt er die Verhandlungen, die spätestens Ende Februar beginnen sollten, auf unbestimmte Zeit. John Major betont allerdings, daß die Wahlen nur stattfinden werden, wenn der Vorschlag einen breiten Konsens findet. Der Verstoß gegen die Waffenruhe von seiten der IRA und ihre Terrorakte, die im Februar in London den Tod von drei Menschen, darunter einer der Bombenleger, gefordert haben, sind der Entstehung eines solchen Konsenses nicht gerade förderlich. Aber vielleicht kann der drohende Abgrund die verschiedenen Protagonisten dazu bringen, durch eine Lockerung ihrer jeweiligen Positionen endlich die Hindernisse für die Verhandlungen zu beseitigen. Die Bevölkerung bringt jedenfalls deutlich zum Ausdruck, daß sie die Aufrechterhaltung des Friedens in der Provinz befürwortet.

dt. Sigrid Vagt

1 Vgl. Maurice Goldring, „Espoirs de paix en Irlande du Nord“, Le Monde diplomatique, Januar 1994, sowie Florence Beaugé, „Laborieuse réconciliation en Irlande du Nord“, Manière de voir, Nr. 25, und „Le bouleversement du monde“, Le Monde diplomatique, Februar 1995.

* Chefredakteur der Etudes irlandaises, Lille.

Le Monde diplomatique vom 15.03.1996, von Pierre Joannon