Alphaville – Ein Stück heiles Brasilien
WIR sind so daran gewöhnt, selbst für unsere Sicherheit zu sorgen, daß wir es erstaunlich finden, wenn jemand darüber staunt.“ Angesichts der Unfähigkeit der Polizei, der städtischen Gewalt Herr zu werden, haben viele Brasilianer wie dieser Geschäftsmann aus São Paulo eine sonderbare Mentalität und recht einfallsreiche Techniken zum Schutz ihres Eigentums entwickelt. Rund um die Avenida Paulista, die Champs-Elysées von São Paulo, sind aus Pförtnern wieder Wachtposten geworden, und Bürgervereinigungen haben Leute angeheuert, die in ihrer Straße nach dem Rechten sehen sollen. Allerdings nicht immer die richtigen, wie man mittlerweile weiß, denn die Einbrecher haben so schon manchen heißen Tip bekommen ...
Anfang der siebziger Jahre hatten zwei Bauunternehmer, Takaoka und Albuquerque, eine brillante Idee: Sie beschlossen, 25 Kilometer außerhalb von São Paulo eine Siedlung zu errichten, die alle Vorzüge einer Stadt haben sollte, jedoch entfernt genug gelegen wäre, so daß man vor den Unannehmlichkeiten der städtischen Armut und Gewalt effektiv abgeschottet zu sein hoffte. In einer überaus glücklichen Eingebung nannten sie ihr Projekt „Alphaville“ (in Erinnerung an Jean-Luc Godard und seinen gleichnamigen Film) und wählten sich als Ort eine ländliche Umgebung, die eines Alphonse Allais würdig gewesen wäre. Eine ganz natürliche Auslese – nämlich die des Geldes – sorgt automatisch für die Fernhaltung alles nicht Standesgemäßen.
Um nach Alphaville zu gelangen, muß man auf der Südtangente in Richtung Castello Branco fahren. Hierbei durchquert man die Vorstädte und ein Industriegebiet, wo man lieber den Atem anhält, und wechselt über auf das andere Ufer des Tietê, dieses neuzeitlichen Styx am Stadtrand von São Paulo. Was dann vor einem auftaucht, ist die bislang verrückteste Ausgeburt aller Versuche, aus dem Gefühl der Unsicherheit Kapital zu schlagen: In einer „umweltlich korrekten“ Zone liegt ein von hohen Mauern umgebener Siedlungskomplex, der sich in Luxus, Stille und Geborgenheit sonnt.
EINZIGE Voraussetzung, um in „Club Alpha“ aufgenommen zu werden, ist es, Besitzer eines der Häuser zu werden. Der Preis bewegt sich zwischen 600000 und 2,5 Millionen Mark. Dafür bekommen die neuen Mitglieder eine Plakette, die sie auf die Windschutzscheibe ihres Autos kleben und die ihnen am Eingang der Festung als Passierschein dient. Auch sonst ist die Marke hier und da als Erkennungszeichen von gleich zu gleich einsetzbar. So sieht man immer wieder rührende Szenen, in denen ein Bewohner von Alphaville einem anderen Plakettenbesitzer zu Hilfe eilt, weil dieser unterwegs mit seinem Wagen ausgerechnet in einer der gefährlichen Gegenden liegengeblieben ist.
Es läßt sich schwer leugnen: Alphaville gleicht einer Oase der Sicherheit in einer Welt der Brutalität. Uniformierte Waffenträger sind hier in ihrem Element. Ständig wird in den schattigen Alleen patrouilliert, während Wachtposten vor dem einzigen Eingang die Identität jedes Eigentümers oder der etwaigen Gäste überprüfen, welche stets als potentielle Eindringlinge betrachtet werden. Diese eigenartige Atmosphäre hat nicht nur Nachteile: Bankdirektor Silvio R., der seit 1985 in Alphaville wohnt, freut sich: „Seit zehn Jahren brauche ich meine Haustür nicht mehr abzuschließen.“
Man lebt einigermaßen autark und muß nicht nach São Paulo fahren, um Besorgungen zu machen. Ganz in der Nähe gibt es ein Einkaufszentrum und alles, was man sonst noch braucht: Schulen, Ärzte, Friseure, Lebensmittelgeschäfte, Restaurants, Kinos, aber auch Büros, Banken, Dienstleistungsbetriebe und sogar produzierendes Gewerbe, das allerdings nicht die Umwelt belasten darf.
AUCH wenn für die persönliche Sicherheit noch so gut gesorgt ist, beschleicht einen hier doch ein gewisses befremdliches Gefühl, weil es an wichtigen urbanen Elementen fehlt (es gibt kein Zentrum, keine Kneipen, keine Cafés, kurz, keinen öffentlichen Raum). „Wenn man mal vergessen hat, Salz zu kaufen, oder ein Gläschen trinken will“, sagt Silvio lachend, „muß man das Auto nehmen.“ Doch immerhin verkehren zwischen Alphaville und einem der größten Einkaufskomplexe São Paulos seit einiger Zeit spezielle Pendelbusse (in Brasilien der Gipfel des Luxus).
Ein gelungenes Modell also? Gewiß, sieht man davon ab, daß der Normalbürger, der keine 600000 Mark flüssig hat, der brasilianischen Wirklichkeit nicht so leicht entrinnen kann. Doch „man sollte sich nicht täuschen“, sagt Sandra, eine junge Produzentin, die mehrere Jahre in der Gegend von Alphaville gearbeitet hat, „was die Paulistas nach Alphaville treibt, ist die Angst, und nicht etwa ein Widerwille gegen die anderen.“
Der Erfolg ist so groß, daß die elf bereits existierenden Alphaville-Siedlungen nicht ausreichen, um die Nachfrage zu befriedigen. Allabendlich drängen sich fast 30000 Menschen am Eingang ihres Hochsicherheitsviertels. Der 18-Uhr-Stau ist zweifellos der einzige Nachteil der Sache. Abgesehen vielleicht von einem anderen Problem, das kürzlich aufgetaucht ist: In diesem künstlichen Paradies herrscht – großer Wassermangel. Die Planer haben den Verbrauch zu niedrig veranschlagt. „Die Wirklichkeit hat uns eingeholt“, stellt Silvio nüchtern fest.
Michel Raffoul *
* Journalist.