Demokratische Hoffnungen in Palästina
DIE mörderischen Attentate in Jerusalem und Tel Aviv, zu denen sich die fundamentalistische Hamas-Bewegung bekannt hat, sind für den derzeitigen israelischen Ministerpräsidenten Schimon Peres nur wenige Wochen vor den Wahlen ein schwerer Schlag. Um so entscheidender wird es für ihn sein, daß er die Palästinenser dazu bewegen kann, alle Artikel der Palästinenser-Charta zu streichen, die jede Anerkennung der Existenz eines jüdischen Staates ablehnen. Die Entscheidung über eine Änderung der Charta liegt beim Palästinensischen Nationalkongreß, der im Verlauf der nächsten Monate zusammentreten wird, dessen Zusammensetzung, Funktion und exklusiver Legitimitätsanspruch inzwischen jedoch bei zahlreichen Palästinensern – insbesondere seit den Wahlen vom 20. Januar dieses Jahres im Westjordanland und im Gazastreifen – umstritten sind.
Von GRAHAM USHER *
„Eine Krisensituation läßt sich wie folgt definieren: Die alte Ordnung ist am Absterben, und das Neue kommt noch nicht zur Entfaltung. In diesem Interregnum treten allerlei Krankheitssymptome zutage.“ In diesen Worten beschrieb Ende der zwanziger Jahre der italienische Schriftsteller und Marxist Antonio Gramsci die „organischen Krisen“, von denen eine Gesellschaft in Perioden rascher politischer Umwälzungen erfaßt wird. Unter den zahlreichen „Krankheitssymptomen“, die durch die Wahlen vom 20. Januar 1996 in Palästina zum Vorschein kamen, ist die Krise der politischen Gesellschaft das augenfälligste: Eine neue Kultur kämpft verzweifelt um ihr Entstehen, während die alte Kultur noch nicht gestorben ist.
Auf der einen Seite bedeuten die Wahlen einen weiteren Statusverlust der PLO als einer „extraterritorialen“ Befreiungsbewegung, die den Auftrag hat, das palästinensische Volk, wo auch immer es sich befinden möge, zu vertreten. Auf der anderen Seite wurde durch die hohe Wahlbeteiligung die Legitimität der palästinensischen Autonomiebehörde gestärkt, deren Funktionen von seiten Israels strikt auf die Verwaltung der Zivilangelegenheiten im Westjordanland und im Gazastreifen beschränkt worden war.1 Schließlich stellen die Wahlergebnisse – was die Lage zusätzlich kompliziert – eine massive und eindeutige Unterstützung für Jassir Arafats Führungsanspruch dar.
Dieser erhielt bei den Präsidentschaftswahlen 87,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Von den 88 Abgeordneten des Autonomierates präsentierten sich 66 als offizielle oder „unabhängige“ Kandidaten der bedeutendsten Palästinenserbewegung, der Fatah. Trotz des Boykottaufrufes diverser Oppositionskräfte innerhalb der PLO und der Islamisten gingen im Gazastreifen 86 Prozent und im Westjordanland 73 Prozent der Wähler an die Urnen.
Die unmittelbar nach der Wahl durchgeführten Umfragen zeigen, daß 90 Prozent der Anhänger der „Ablehnungsfront“ innerhalb der PLO – also der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) – sich über die Haltung ihrer Führung hinwegsetzten und an den Wahlen teilnahmen. Dasselbe gilt für 60 Prozent der Hamas-Anhänger. „Ein solches Ergebnis kann nur als Legitimierung der Hegemonie der palästinensischen Autonomiebehörde durch die Wähler gesehen werden“, konzediert ein PFLP-Führer aus dem Westjordanland.
Indem Arafat auch das Osloer Abkommen einer Volksabstimmung unterwarf, stellte er jedoch auch das unklare Verhältnis zwischen PLO und palästinensischer Autonomiebehörde in Frage. Es war zu befürchten, daß das Wahlsystem2 die lokalen Abhängigkeiten verstärkt zur Geltung bringen würde, und zwar zu Lasten der politischen Gruppenzugehörigkeit – darauf schien auch Jassir Arafat zu setzen. Doch die Palästinenser erteilten den einzelnen Clans oder Gruppierungen zumeist eine empfindliche Abfuhr. Unter den 676 Kandidaten bevorzugten sie eindeutig all jene, die eine wichtige Rolle in den politischen Auseinandersetzungen gespielt hatten; und das heißt nicht nur „nationale Persönlichkeiten“, die der Palästinenserführung im Exil nahestehen, sondern auch Aktivisten, die sich während der Intifada hervorgetan hatten und für ihre deutliche Sprache gegenüber Jassir Arafat bekannt sind.
Diese Persönlichkeiten stellen etwa ein Viertel des neuen Autonomierates und wurden auf Listen gewählt, die erneut die nationalen Ziele der Palästinenser – das Rückkehr- ebenso wie das Selbstbestimmungsrecht – hervorheben, zugleich aber auch für den Ausbau der politischen Demokratie eintreten. Inzwischen setzen sie sich insbesondere dafür ein, daß der neue Autonomierat das Recht erhält, an den Verhandlungen über den endgültigen Status des Westjordanlandes und des Gazastreifens direkt beteiligt zu werden. Diese Verhandlungen sollen nach den israelischen Parlamentswahlen beginnen und ein für allemal die brennenden Fragen regeln: sowohl den Status Jerusalems, der Flüchtlinge und der jüdischen Siedlungen als auch die Grenze der zukünftigen palästinensischen Einheit.
In dieser reformorientierten Tendenz spiegelt sich deutlich das gegenwärtige politische Klima wider. Wie Meinungsumfragen nach den Wahlen zeigen, sind 51 Prozent der palästinensischen Wähler der Ansicht, der neue Rat solle die Verhandlungen über den endgültigen Status „leiten“; 79 Prozent meinen sogar, er solle über „gleich viel oder mehr Macht“ verfügen als der Präsident. „Wir werden keine Beschlüsse tolerieren, die einseitig von Arafat angenommen werden“, betont Haidar Abdel Schafi, ehemaliger Führer der palästinensischen Verhandlungsdelegation an der Madrider Konferenz 1991, der in Gaza gewählt wurde. „Wir wollen, daß der Rat in den Schlußverhandlungen ein Wort mitzureden hat.“ Abdel Schafi, seit langem ein unabhängiger Kopf, der das Osloer Abkommen sehr kritisch sieht, erhielt am 20. Januar unter allen Kandidaten die meisten Stimmen.
Eine äußerst diffizile Aufgabenteilung
SOLCH demokratische Ansprüche sind für Jassir Arafat und letzten Endes auch für Israel ausgesprochene Störfaktoren. Denn sie widersprechen einer der Grundlagen der Nationalbewegung: der Anerkennung der PLO als alleiniger legitimer Vertretung des palästinensischen Volkes. Ebenso stellen sie die verschiedenen Osloer Abkommen in Frage, denen zufolge die PLO – und nicht der am 20. Januar des Jahres gewählte Autonomierat – mit Israel über den endgültigen Status zu verhandeln hat. Der neue Rat sollte lediglich die anschließende Aufgabe übernehmen, eine Übergangsverfassung auszuarbeiten, und die legislative Macht ausüben, die auf die inneren Belange wie Wirtschaftspolitik, lokale Verwaltung, Gesundheit und Erziehung beschränkt sein sollte.
Gerade diese seltsame Aufgabenteilung – bei der eine designierte „nationale“ Führung den Vorrang gegenüber der gewählten „lokalen“ Führung hat – droht heute den politischen Zusammenhalt zu sprengen. Für die seit kurzem „frei gewordenen“ Palästinenser in Westbank und Gaza hat die PLO seit langem aufgehört, ein funktionales politisches Organ zu sein. Azmy Baschara, ein palästinensischer Intellektueller, der selbst nicht Mitglied der PLO ist, bringt dieses Gefühl unbarmherzig auf den Punkt: „Die PLO ist tot. Was hingegen existiert, ist Arafat und ein Gebilde, das sich palästinensische Nationalbehörde nennt.“ Das erklärt die von Haidar Abdel Schafi beredt beschworene und von vielen seiner Landsleute geteilte Befürchtung, Jassir Arafat werde auf seine theoretischen Vollmachten pochen, die ihm von der PLO erteilt wurden, um dem gewählten Autonomierat keine Rechenschaft ablegen zu müssen.
Diese Angst, die einige lediglich für eine abstrakte halten, verweist tatsächlich auf eine entscheidende politische Frage: ob nämlich die Nationalcharta abgeändert werden soll oder nicht. So ließ Schimon Peres unmittelbar nach den palästinensischen Wahlen verlauten, Israel werde die Abhaltung eines Palästinensischen Nationalkongresses (PNC) – des palästinensischen Exilparlamentes, das zugleich höchstes Organ der PLO ist – im Westjordanland oder im Gazastreifen unter der Bedingung gestatten, daß die Artikel der Charta, die indirekt zur Zerstörung des jüdischen Staates aufrufen, abgeändert würden. Diese Charta, die auf dem ersten PNC 1964 angenommen und im Juli 1968 – kurz vor der Übernahme der PLO-Führung durch die Fedayin-Organisationen, zu denen Arafats Fatah zählt – geändert wurde, gilt seitdem als sakrosankt.
Dabei spiegelt dieses Dokument mehr die Umstände seiner Entstehung als die aktuellen Gegebenheiten wieder. Sein Ton wie seine Zielsetzung schrecken die meisten Israelis ab, egal ob sie für oder gegen die Osloer Abkommen sind. In Artikel 19 wird der israelische Staat als „vollkommen illegal“ definiert, während Artikel 22 den Zionismus als eine politische Bewegung darstellt, die „organisch mit dem internationalen Imperialismus verbunden (...), ihrem Wesen nach rassistisch und fanatisch, aggressiv, von ihrer Zielsetzung her expansionistisch und kolonialistisch und in ihren Methoden faschistisch ist“.
Im Zuge der Osloer Verhandlungen 1993 hatte Arafat von diesen Klauseln erklärt, sie seien „außer Kraft“ und „nicht mehr gültig“. Doch jede Änderung der Charta erfordert eine Zweidrittelmehrheit des PNC. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des israelisch-palästinensischen Abkommens und des Teilrückzuges der israelischen Armee im September 1995 war der PLO-Vorsitzende so zuversichtlich, daß er sich in diesem Punkte verbindliche Zusagen zutraute. In Artikel 31 des Oslo- II-Abkommens heißt es entsprechend: „Die PLO verpflichtet sich, in den zwei Monaten nach Einführung des Autonomierates den Palästinensischen Nationalkongreß einzuberufen, und billigt die notwendige Abänderung der palästinensischen Nationalcharta.“
Mit Blick auf die israelischen Wahlen beeilte sich Schimon Peres, Arafat an dieses Versprechen zu erinnern. Schon im Januar 1996 ließ er eine entsprechende Warnung verlauten: Sollte die Charta nicht abgeändert werden, würde „der Zug von Oslo gestoppt“ und es käme zu keinen weiteren Fortschritten in den Verhandlungen über den endgültigen Rechtsstatus. „Wenn Arafat den Palästinensischen Nationalkongreß nicht für diese Entscheidung gewinnen kann, muß er eben seine Verbindung zur PLO abbrechen. Es ist unmöglich, zwei Organisationen anzugehören, deren eine [die palästinensische Autonomiebehörde] zum Frieden mit Israel, die andere [die PLO] dagegen zu Israels Zerstörung aufruft“, erklärte Peres.
Arafats Problem liegt darin, daß er eine Revision der Charta erreichen und zugleich eine politische Diskussion über deren Bedeutung vermeiden will. Doch diese Diskussion findet bereits statt, und in ihren Bruchlinien zeigt sich genau das Problem, auf das auch die Wahlen verweisen: daß die palästinensische Autonomiebehörde und die PLO um den Vertretungsanspruch konkurrieren.
Für den ehemaligen Kommunisten Sulaiman Nayab, Mitglied des Exekutivkomitees der PLO und Führer der Palästinensischen Volkspartei (PPP), müßte die Charta durch eine neue ersetzt werden, die direkter den Erwartungen der Palästinenser in den besetzten Gebieten entsprechen sollte. Diese wollen, so meint er, „die Gründung eines palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt und den vollständigen Rückzug der Israelis aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen“. Dagegen ist Abdul Rahim Maluh, PFLP- Vertreter im Exekutivkomitee, gegen jede Änderung der Charta, solange die strategischen Ziele der PLO – „Rückkehr, Selbstverwaltung und ein palästinensischer Staat mit Jerusalem als Hauptstadt“ – nicht erreicht sind.
Vorerst spielt Arafat mit verdeckten Karten. In einer Stellungnahme nach den Wahlen ging er davon aus, die umstrittenen Klauseln könnten annulliert werden, wenn der PNC offiziell die Positionen anerkennen würde, die er de facto eingenommen hat und mit denen er die ursprüngliche Charta seit langem obsolet gemacht habe. Dies würde bedeuten, daß die PLO den Text der Charta um die Entscheidung des PNC von 1988 ergänzen würde, in der nämlich Israel unter der Voraussetzung anerkannt wird, daß eine auf der Koexistenz beider Staaten beruhende Lösung zustande kommt und daß die Resolutionen 242 und 338 des UN-Sicherheitsrates von 1991 bei der Konferenz von Madrid zugrunde gelegt wird.
Um sein Ziel zu erreichen, bemüht sich Arafat um ein Veränderung des Palästinensischen Nationalkongresses. Im Februar einigte sich das Exekutivkomitee der PLO auf die Einberufung des PNC im Westjordanland oder im Gazastreifen und verschickte die entsprechenden Einladungen, um den in der Diaspora lebenden Mitgliedern der Nationalversammlung die Rückkehr zu ermöglichen.
Neue Formen der Repräsentation
DAS Problem ist, daß der PNC kein gewähltes Organ ist – und es auch nie war. Er setzt sich vielmehr – ganz im Geiste der PLO-Usancen – nach einem festen Schlüssel aus den verschiedenen PLO- Fraktionen zusammen. Er entspricht insofern nur sehr eingeschränkt dem aktuellen Kräfteverhältnis. So würden die PFLP und die DFLP, die nach der Fatah am stärksten vertreten sind, laut Meinungsumfragen in den Gebieten nur 6 Prozent der Stimmen erhalten; die PPP, die mit einer Person im Exekutivkomitee vertreten ist, erzielte bei den Wahlen vom 20. Januar kein einziges Mandat. Die nach der Fatah stärkste Kraft in Westbank und Gaza ist die fundamentalistische Hamas.3 Da sie aber nicht der PLO angehört, ist sie auch nicht im PNC vertreten.
Überdies ist der PNC seit 1991 nicht mehr zusammengetreten. Von den 483 Mitgliedern, die 1991 an der Versammlung in Algier teilnahmen, sind 17 verstorben. Etwa hundert weitere – zumeist führende Fatah-Mitglieder – sind bereits aus dem Exil in das Westjordanland oder den Gazastreifen zurückgekehrt. 260 leben noch in der Diaspora, darunter die PFLP- und die DFLP-Mitglieder. Zwar haben sich George Habasch und Nayef Hawatmeh bereit erklärt, in die Gebiete zurückzukehren, doch schließen sie eine Teilnahme an einem PNC „unter der Besatzung“ aus.
Bleibt also die Frage, wer die Gebiete repräsentiert. Traditionsgemäß wurden im PNC 180 Sitze für die Palästinenser aus den besetzten Gebieten freigehalten. 88 davon werden nun von den Mitgliedern des soeben gewählten palästinensischen Autonomierates besetzt; die restlichen 92 sollen, so der amtierende PNC-Vorsitzende Salim Zanun, durch ein „von allen PLO-Fraktionen anerkanntes und respektiertes Komitee“ eingesetzt werden. Diese Zauberformel – die den ernannten Vertretern gegenüber den gewählten eine Mehrheit verschafft – bedeutet eine Fortsetzung der alten Politik des Klientelismus, während sie die soeben durchgeführten Wahlen völlig entwertet. Konkret bedeutet sie, daß die Auswahl vom Gutdünken Arafats abhängt, der natürlich loyale Personen bestimmen wird – denn zur Abänderung der Charta benötigt er eine Zweidrittelmehrheit.
Für viele der neu gewählten Vertreter des Autonomierates, die de facto zu Mitgliedern des PNC werden, bedeuten diese Manöver und generell die Wiederbelebung der Nationalversammlung nichts anderes als die Beseitigung ihrer eigenen Macht. Und auch den Wählern in den besetzten Gebieten bleibt nicht verborgen, daß sich hier eine grundlegende Veränderung anbahnt. Nach Meinungsumfragen wollen nur 15 Prozent der Bewohner des Westjordanlandes und des Gazastreifens dem PNC eine Schlüsselrolle in der Entscheidungsfindung überlassen. Die übrigen meinen, diese Kompetenzen sollten an gewählte Organe wie den Autonomierat übertragen werden. Diesen Standpunkt vertritt auch Asmy Bischara. Seiner Meinung nach liegt die größte Herausforderung, die sich der Bewegung in Zukunft stellt, nicht in der Wiederbelebung der PLO, sondern im Aufbau der Demokratie in den Gebieten: „Der Palästinensische Rat hat drei Aufgaben zu erfüllen: Er muß sich um größtmögliche Transparenz bei den kommenden Verhandlungen bemühen, demokratische Institutionen entwickeln, die der Kontrolle und Überprüfung durch die Bürger unterliegen, und darauf hinwirken, daß die palästinensische Souveränität möglichst umfassend zur Geltung kommt.“
Solche Ansprüche mögen als Essentials erscheinen, doch für die drei Millionen in der Diaspora lebenden Palästinenser sind sie keineswegs ungefährlich. Denn die Verlagerung des Zentrums des palästinensischen Lebens von der „externen“ PLO auf den „internen“ Autonomierat könnte einen Bruch in den bestehenden Beziehungen zwischen den Bewohnern der besetzten Gebiete und den über die ganze Welt verstreuten Exilpalästinensern bewirken.4 Sie wäre auch ein Schritt in Richtung der alten israelischen Intentionen, die Palästinenser in ihre diversen Gemeinschaften aufzuspalten: die Palästinenser innerhalb Israels, die in den besetzten Gebieten und schließlich die in der Diaspora.
Den Exilpalästinensern, und insbesondere den 1,8 Millionen Menschen, die nach wie vor Flüchtlinge sind, erscheint die Diskussion über den Tod der PLO als empörender Luxus. Ihr Interesse geht dahin, die PLO – und nicht die palästinensische Autonomiebehörde – in der einen oder anderen Form zu erhalten, da sie andernfalls in den Foren, die über ihre Zukunft zu entscheiden haben, ihre politische Repräsentation vollständig einbüßen würden. „Die PLO muß so lange existieren, wie es palästinensische Flüchtlinge gibt“, erklärt Abdeljawad Saleh, der Vertreter Ramallahs im neuen Autonomierat.
Die Auseinandersetzung über die Charta vermittelt einen deutlichen Vorgeschmack auf diese Wende, die im Zuge der Intifada in der palästinensischen Politik eingetreten ist und durch die Wahlen vom 20. Januar 1996 erneut mit Nachdruck unterstrichen wurde. Diese Krise läßt sich nicht mehr länger auf den Gegensatz zwischen „intern“ und „extern“ reduzieren – zumal sich ein Großteil der PLO- Führung inzwischen schon in den besetzten Gebieten niedergelassen hat.
Es geht heute vielmehr um die Schwierigkeit, wie eine außerordentlich komplexe politische Realität mit einer Strategie in Einklang gebracht werden kann, die auf ein einziges Ziel ausgerichtet ist. Einerseits möchte sich die Volksbewegung gerne eine neue, demokratische Führung geben, die zugleich akzeptiert, daß sich die zukünftige Gesetzgebung auf die 1967 von Israel besetzten Gebiete beschränkt. Andererseits muß sie neue Formen der Repräsentation etablieren, damit diese Führung nicht nur den Bewohnern dieser Gebiete, sondern darüber hinaus – und das ist entscheidend – der gesamten palästinensischen Nation Rechenschaft ablegt.
dt. Birgit Althaler
1 Vgl. Alain Gresh, „Der Frieden – eine Zeitbombe“, Le Monde diplomatique, Dezember 1995.
2 Für die Wahlen zum Autonomierat wurde nach Wahlkreisen abgestimmt.
3 Vgl. Wendy Kristianasen Levitt, „Hamas se prépare à la nouvelle donne“, Le Monde diplomatique, Februar 1994, und „Nahost-Friede in der Schwebe – Palästinenser zwischen den Gräben, Le Monde diplomatique, Juni 1995.
4 Vgl. Hana Jaber,„Méfiance dans les camps palestiniens de l'exil“, Le Monde diplomatique, März 1994. Zur geographischen Verteilung der Flüchtlinge siehe die einschlägigen Karten in „Conflits fin de siècle“, Manière de voir Nr. 29, Februar 1996, Vierteljahresschrift, herausgegeben von Le Monde diplomatique.
* Korrespondent der Middle East International, London, in den besetzten Gebieten und Autor von „Palestine in Crisis“, London (Pluto Press) 1995.