15.03.1996

Dringend benötigt: Eine Denkpause für Europa

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Dringend benötigt: Eine Denkpause für Europa

Von

BERNARD

CASSEN

WIE viele europäische Kommissare soll es geben? Soll die Mehrheitsregel bei Entscheidungen im Rat auf weitere Bereiche ausgedehnt werden? In welchem Rhythmus soll die Ratspräsidentschaft wechseln, die derzeit ein halbes Jahr beträgt? Welche neuen Entscheidungsprozesse sollen für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eingeführt werden? Solche Fragen werden vom 29. März an auf der Regierungskonferenz in Turin diskutiert, wie es der Vertrag von Maastricht zur Reform der Institutionen vorsieht. Da sich diese Gespräche sicher bis 1997 hinziehen werden und auch schon der Countdown läuft für die Anfang 1998 vorgesehene Selektion der Länder, die sich an der Währungsunion beteiligen, dürfte in den kommenden Monaten Europa wahrhaftig in aller Munde sein.

Doch über welches Europa wird man sprechen? Gewiß nicht über jenes, das die Bürger angeht. Arbeitslosigkeit, Armut, Ausgrenzung, Gewalt, blutige Konflikte vor der eigenen Haustür, die Gefahr eines neuen Tschernobyl – zahllose drängende Probleme beherrschen die Gedanken der Menschen, völlig unabhängig von der Regierungskonferenz; und das real existierende Europa vermag hierzu nicht mehr Lösungsvorschläge beizusteuern als die nationalen Regierungen. Dabei wäre es keineswegs eine Geringschätzung dieser Institutionen, wenn man sie durch andere Zielvorgaben ergänzen würde. Aber ein solcher Schritt steht noch aus und findet sich bislang auf keiner offiziellen Tagesordnung.

Das ist kaum erstaunlich. Die meisten Akteure, die das Feld der Politik, der Wirtschaft und der Medien beherrschen, beschränken ihren gemeinsamen europäischen Ehrgeiz auf einen Markt und auf eine Währung. Sie kümmern sich kaum um die Entstehung eines demokratischen Raums in Europa, der kollektive Projekte hervorbringen könnte, die nicht auf ökonomisches Denken reduzierbar sind, ja sogar in Widerspruch zu ihm stehen. Sie sind die eigentlichen Euroskeptiker, die all jene Europäer beargwöhnen, die in ihre angestammte Sphäre eindringen könnten. Um besser zu verstehen, warum sie sich keinen Zweifeln aussetzen wollen, sei hier auf die von Dominique Wolton vorgeschlagene Unterscheidung von drei „Räumen“ verwiesen, die in den Diskussionen oft vermischt werden: den gemeinschaftlichen Raum, den öffentlichen Raum und den politischen Raum.1

Der gemeinschaftliche Raum ist physisch definiert durch ein Territorium und symbolisch durch ein engmaschiges Netz aus Vertrautheit, Solidarität und Sicherheit. Historisch gesehen basiert er auf dem Warenverkehr. Damit taucht in unserem Zusammenhang eine erste Schwierigkeit auf: Das europäische Territorium, das schon allein unter geographischen Gesichtspunkten schwer zu definieren ist, befindet sich seit dem Ende des Kalten Kriegs in grundlegender Umstrukturierung. Die 1995 erfolgte Erweiterung auf Österreich, Finnland und Schweden und die bis zum Beginn des nächsten Jahrhunderts vorgesehene Ausdehnung auf mindestens zwölf weitere Staaten machen eine „Anschauung“ von Europa und damit seine symbolische Aneignung nicht gerade leichter (vgl. den Artikel von Jean- François Drevet).

Ein engmaschiges Netz

DAS Maschenwerk ist dicht gestrickt, aber es erstreckt sich auf verschiedene Bereiche, die nie deckungsgleich sind: Die Europäische Union besteht aus 15 Mitgliedsländern, der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) aus 13, die Westeuropäische Union (WEU) aus 10, der Europarat aus 39 (darunter seit Februar 1996 auch Rußland), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OECD) aus 54 Staaten. Zudem gibt es innerhalb der Union noch diverse Konfigurationen mit wechselnder Geometrie: Die Sozialcharta wurde von 14 Ländern (EU- Länder mit Ausnahme von Großbritannien) unterzeichnet, dem Schengener Abkommen sind 10 Staaten beigetreten, von denen es nur 7 anwenden, und in wie vielen Staaten die künftige Einheitswährung gelten wird, weiß heute noch niemand. Hinzu kommt, daß Europa nicht alleiniger Herr in seinem Hause ist: Über die Nato und die Partnerschaft für den Frieden üben die Vereinigten Staaten einen entscheidenden Einfluß aus, der weit über die Sicherheitsbelange hinausgeht, wie sich unter anderem bei der Regelung der Bosnienfrage gezeigt hat. Zudem fördert die Kommission, indem sie immer mehr Freihandelsabkommen abschließt, im Verein mit den meisten Regierungen, die sich die Interessen der Großunternehmen im Sinne der „Globalisierung“ zu eigen machen, nachdrücklich die Auflösung Europas in einem weltweiten Raum der vereinigten Kapital- und Handelsströme. So haben sich die Grenzen des Gemeinschaftsraumes Europa zumindest verwischt.

Es ist jedoch die Art der Verbindung zwischen den beiden anderen Räumen, dem öffentlichen und dem politischen, die eine Antwort auf die Frage bietet, inwiefern Europa als konstituierte Einheit überhaupt existiert. An dieser Frage entscheidet sich daher die gewaltigste Herausforderung für Europa: die Alternative einer Staatsbürgerschaft im Sinne einer vollen Union oder aber einer anderen Ausgestaltung des Alten Kontinents. Der Ausdruck „öffentlicher Raum“, erklärt Dominique Wolton, verweist auf die Idee von „öffentlich machen“: seine Überzeugungen anderen gegenüber offenlegen, mithin frei und gleichberechtigt diskutieren. Aus diesem Grunde wird nicht nur „im Übergang vom Gemeinschaftlichen zum Öffentlichen erkennbar, was dann zum Merkmal der Massendemokratie wird, nämlich der hohe Wert, den man den Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit beimißt. (...) In der Idee von ,öffentlich‘ äußert sich nicht nur eine höhere Wertigkeit im Vergleich zu ,gemeinschaftlich‘, sondern vor allem auch ein Bezug zum Prozeß der Willensbildung. (...) Die Kategorie des ,Öffentlichen‘ entsteht immer wieder aufs neue. Der öffentliche Raum ist offensichtlich Bedingung für die Entstehung eines politischen Raums, der wiederum der ,kleinste‘ innerhalb des Verbundsystems dieser drei Räume ist. Im politischen Raum geht es nicht darum, zu diskutieren und abzuwägen, sondern zu entscheiden und zu handeln. Allerdings besteht ein spezifisches Element der modernen demokratischen Politik darin, daß sich der politische Raum im selben Tempo wie die Bewegung der Demokratisierung ausweitet.“2

Diese Kategorisierung zeigt deutlich, daß die jahrhundertelange Bewegung der Emanzipation des Individuums, das seine Freiheit öffentlich entfalten darf, und das Fortschreiten der Demokratie in den Rechtsstaaten konvergent verliefen. Überträgt man sie jedoch von der nationalen Ebene auf den Bereich der Union, muß man feststellen, daß die Entwicklung in der Gemeinschaft seit 1957 völlig entgegengesetzt verlaufen ist und daß ihr demokratisches Defizit sehr viel mehr betrifft als die bloße Funktionsweise der Institutionen. Etwas schematisch gesprochen wurde hier der öffentliche Raum auf seine einfachste Ausdrucksform reduziert, während der politische Raum nicht etwa kleiner als der öffentliche ist, sondern sich im Gegenteil praktisch über das gesamte Terrain erstreckt. Dies wird bei der Konferenz in Turin in geradezu grotesker Zuspitzung zu beobachten sein.

Zu den existierenden öffentlichen Räumen, in denen die Akteure des sozialen, politischen, kulturellen oder religiösen Lebens sich in dem Gefühl, „im gleichen Boot zu sitzen“, tatsächlich solidarisieren, sich auseinandersetzen oder auch miteinander streiten, gehören nationale oder subnationale Gebiete wie Wallonien, Flandern, Katalonien, das spanische Baskenland, Galicien oder Schottland. Einen europäischen öffentlichen Raum, in dem sich die Bevölkerung stark und dauerhaft engagiert, gibt es bislang lediglich als gedankliches Konstrukt.3 Dagegen ist die öffentliche Politik, die den Alltag der Menschen betrifft, immer weniger national ausgerichtet. Und dies nicht nur konzeptionell, sondern ganz konkret in ihren einzelnen Erscheinungsformen.

So setzt sich unversehens eine neue Denkweise durch: „Jedes Land bestimmte bisher auf nationaler Ebene, welche Probleme gelöst werden müssen und auf welche Weise. Inzwischen hat sich gezeigt, daß dieser Prozeß der Definition von Problemen, die einer öffentlichen Intervention bedürfen, in immer weiteren Bereichen mehr oder weniger stark auf die europäische Ebene verlagert wird“, schreibt Pierre Muller im Vorwort der Veröffentlichungen eines kürzlich veranstalteten Kolloquiums über politische Öffentlichkeit in Europa.4

Die Agrarpolitik, die Handelspolitik, die politischen Entscheidungen über die Strukturen und den Zusammenhalt der Gemeinschaft, die Wettbewerbs- und die Umweltpolitik – sie alle besitzen eine Eigendynamik, die von oben angestoßen wird. Da diese politischen Konzeptionen jeweils von der EU-Kommission ausgearbeitet werden, gehen sie zwar weitgehend über die Köpfe der nationalen Abgeordneten hinweg, nicht aber über die Köpfe bestimmter Vertreter der Wirtschaft, die in mächtigen Pressure-groups organisiert sind. Daraus entspringt die große Gefahr, daß in wichtigen Bereichen die Kontrolle über die Gestaltungsentscheidungen abhanden kommt. So ist etwa der französische öffentliche Dienst keineswegs zu reduzieren auf jenen Pseudobegriff „universeller Dienst“, den man sich in Brüssel ausgedacht hat.5

Was noch tückischer ist: Mit der Festlegung und Umsetzung politischer Prioritäten wird zugleich ein „globales europäisches Bezugssystem“ eingeführt, erklärte Jean-Louis Quermonne auf demselben Kolloquium. Diese Prioritäten scheinen „nicht nur das Verständnis von der Politik der Gemeinschaft, sondern auch der jeweiligen nationalen Politik zu beherrschen, die sich zunehmend an ihnen orientiert. So werden die traditionellen Vorstellungen vom Obrigkeitsstaat oder vom Wohlfahrtsstaat, die beide von der Existenz einer souveränen Staatsmacht ausgehen, letztlich durch ein namenloses Gebilde ersetzt, das sich auf einige immer wiederkehrende Prinzipien beruft, zumal auf Begriffe wie Marktwirtschaft, rechtliche Regulierung, Partnerschaft der Vielen und Subsidiaritätsprinzip.“6

Was immer man von einem solchen „namenlosen Gebilde“ halten mag, es fällt auf, daß es eher dem angelsächsischen Demokratiekonzept als der französischen Idee von Republik entspricht. Dieses heimliche Auswechseln der politischen Bezugssysteme, zumindest für einige Staaten der Union, verhöhnt eine ganze Reihe von geschichtlich verankerten, demokratischen Verfahren einzelner Nationen, wobei es niemand für nötig befindet, die Wähler darauf hinzuweisen, daß diese Verfahren hinfällig geworden sind.

Die rasante Aufblähung des politischen Raums in Europa und das fast vollständige Fehlen eines öffentlichen Raums, der doch dessen Unterbau bilden sollte, stellt zweifelsohne die Legitimität der Struktur der Gemeinschaft in Frage. In dieser Hinsicht scheint man keinerlei Lehren aus dem ersten dänischen „Nein“ gezogen zu haben, und auch nicht aus dem zögernden „Ja“ der Franzosen oder aus dem „Nein“ der Norweger. Anstatt in einer selbstmörderischen Flucht nach vorn erneute Erweiterungen anzugehen, sollte die Regierungskonferenz besser über etwas ganz anderes nachdenken: Wie nämlich die breite Lücke zu schließen wäre, die zwischen den Vorstellungen klafft, die sich die Bürger von ihrer eigenen, also auch von einer möglichen europäischen Gesellschaft machen, und deren Umsetzung in der konkreten Politik – bevor sich diese Lücke zu einem Abgrund vertieft.

Auf jeden Fall wäre jetzt für die Union eine Pause dringend geboten, anstatt mit aller Gewalt neue „Vorstöße“ zu unternehmen, die lediglich die bereits geschlagenen Breschen vergrößern würden. Wäre es nicht an der Zeit, die diplomatischen Diskussionen hinter verschlossenen Türen durch ein allgemeines Prinzip der Offenheit zu ersetzen – durch Diskussionen und einen allseitigen öffentlichen Gedankenaustausch über den Stand und die Perspektiven der Union? Um einen Gedanken von Edgar Pisani aufzugreifen: Die Europäer müssen lernen, einander zu verstehen, so daß sie mit der Zeit „gemeinsam“ und nicht nur nebeneinander leben, damit sie besser „gemeinsam leisten“ können, wozu sie allein nicht mehr in der Lage sind.7 Ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel für die Schwierigkeit dieser Übung zeigt sich beim deutsch-französischen Kulturkanal arte. Hier dauerte es lange Zeit, bis die Fernsehleute, die doch mit demselben Medium vertraut sind, gelernt haben, wirklich zusammen zu arbeiten.8

Auf welchen Wegen ließe sich ein solcher öffentlicher Raum in Europa schaffen? Dazu haben viele Bürger und Vereinigungen9 Entwürfe vorgelegt; sie beziehen sich auf den Unterricht, vor allem den Geschichtsunterricht, auf die berufliche Ausbildung, die Sprachpraxis und die Respektierung der Nationalsprachen10, auf die Medien, den Bereich der Forschung, die Jugendbewegungen und die Volksbildung, auf die Gewerkschaften, die Rolle der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments. Einige Programme der Gemeinschaft, darunter „Leonardo“, „Sokrates“ und „Jugend für Europa“ für die Bereiche Bildung und Ausbildung sowie „Science“ für den Austausch von Forschern, sind bereits Elemente einer solcher Vernetzung, die einmal den öffentlichen Raum durchwirken soll. Von diesem Ziel ist man freilich noch weit entfernt, und man sollte sich keine Illusionen machen, daß die Einbeziehung der Bevölkerung noch viel Zeit in Anspruch nehmen wird.

Die Kommission wendet enorme Summen auf, um mit einer geradezu abstoßenden Werbekampagne die Einheitswährung zu propagieren. Warum überläßt sie nicht einen Teil dieser Mittel den Parlamenten, den Parteien, Gewerkschaften und Verbänden – statt auf Kosten der Gemeinschaft Beraterstäbe anzuheuern –, um damit die Gründung von „Generalständen“ zu ermöglichen, als unerläßliche Basis für eine demokratische Neubegründung der Union?

dt. Erika Mursa

1 Dominique Wolton, „Espace public: un concept à retravailler“, Etudes, Februar 1996. Vgl. auch vom selben Autor: „La Dernière Utopie. Naissance de l'Europe démocratique“, Paris (Flammarion) 1993.

2 Ibid.

3 Vgl. hierzu Bernard Cassen, „La vaine recherche d'un socle de la supranationalité“, Manière de voir, Nr. 22, Mai 1994, Vierteljahresschrift, herausgegeben von Le Monde diplomatique.

4 Pierre Muller, „Un espace européen des politiques publiques“, in „Politiques Publiques en Europe“, hrsg. von Yves Mény, Pierre Muller und Jean- Louis Quermonne, Paris (L'Harmattan) 1995.

5 Vgl. die Artikel von Paul-Mario Coûteaux und Christian Barrère in Le Monde diplomatique (frz. Ausgabe), Januar 1996.

6 Jean-Louis Quermonne, „De l'espace public au modèle politique“, in „Politiques Publiques en Europe“, a.a.O.

7 Edgar Pisani, „Die Politik neu erfinden“, Le Monde diplomatique, Januar 1996.

8 vgl. die Untersuchung von Catherine Humblot, „Arte, la télé-Maastricht au quotidien“, Le Monde, Wochenbeilage für den 19. bis 25. Februar 1996: „Télévision – Radio – Multimédia“.

9 Unter vielen anderen z.B. das Forum civique européen (Limans, 04360 Forcalguier) und die Conférences intercitoyennes européennes (Europe 99, 21, bd. de Grenelle, 75015 Paris).

10 Das Comité européen pour le respect des cultures et des langues en Europe (Cercle) hat im Namen von zehn Verbänden an die politisch Verantwortlichen und die Teilnehmer der Regierungskonferenz eine Liste geschickt, auf der geeignete Maßnahmen für den Erhalt des kulturellen und sprachlichen Pluralismus empfohlen werden. (Sie ist erhältlich bei Avenir de la langue française, 5, rue de la Boule-Rouge, 75009 Paris). Bei einer weiteren Ausdehnung der Union könnte die Frage der Sprachregelung geradezu explosiven Charakter annehmen.

Le Monde diplomatique vom 15.03.1996, von Bernard Cassen