15.03.1996

Kunst und Verquickung

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Kunst und Verquickung

Von

LIONEL

RICHARD *

DIE Ausstellung „Berlin-Moskau“, die sich über siebenunddreißig Säle des Berliner Martin-Gropius-Baus erstreckte, hat bis zu ihrem Schließen Anfang des Jahres ein außergewöhnliches Interesse erregt. Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ auf eine rote Wand zu hängen zeugte zwar – wie in mehreren Kritiken moniert wurde – nicht von allerbestem Geschmack; dennoch haben selbst die, denen diese Kombination zu protestieren Anlaß gab, sich beglückt darüber geäußert, daß sie unter mehr als zweitausend Exponaten aller Gattungen auch verkannte Gemälde von Marc Chagall, Wassily Kandinsky und El Lissitzky entdecken konnten.1

Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit dem Puschkin-Museum in Moskau organisiert, wo sie derzeit läuft; sie hat vor allem die ungeheure Vielfalt des künstlerischen Austauschs und der Verbindungen zwischen deutschen und russischen Künstlern vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die frühen dreißiger Jahre gezeigt. Für den Bereich der letzten Jahrzehnte ist sie sehr viel konfuser geraten. Und der zumindest in der deutschen Ausgabe bildschöne siebenhundertseitige Katalog vermag diese Konfusion nicht ganz zu verhehlen.

In seinem Geleitwort zog der Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, eine Parallele zwischen Moskau und seiner eigenen Hauptstadt. Von diesen „zwei Hauptstädten“ sei „eine Goldene Zeit der Kultur ausgegangen“, das aber, fügt er hinzu, „in beiden Ländern schon bald der Gewalt und dem Elend weichen mußte“. Sind damit die jeweiligen Diktaturen von Hitler und Stalin gemeint? Dazu wird nichts gesagt. Nicht einmal, daß zwanzig Millionen Bürger der Sowjetunion Opfer des Überfalls von Hitler-Deutschland wurden. Wenn Russen und Deutsche sich heute wieder verständigen und gemeinsam in die Zukunft blicken können, so weil „beide Völker die Schrecken durchlebt und durchlitten haben, zu denen Menschen fähig sind“.

Auch die offiziellen Vertreter Rußlands lassen sich auf keine substantielleren Erklärungen ein. Ihre Hoffnung ist es, mit den Deutschen „als gute Partner beim Bau des neuen Europäischen Hauses ohne Kriege und Gewalt ins nächste Jahrtausend zu gehen“. Sie meinen, daß diese „Bilanz des 20. Jahrhunderts“, an der sie bereitwillig mitgewirkt haben, „die Höhen des schöpferischen Geistes“ selbst „unter den schlimmsten sozialen Bedingungen“ zeigt – ohne daß diese Bilanz „die Abgründe [habe] verhehlen wollen, in die die Menschheit zu stürzen drohte“.

Warum solch ein Konzert harmonisierender Umschreibungen? Wahrscheinlich, weil man es vorgezogen hat, eine historische Sichtweise, die schon viele Kontroversen hervorgerufen hat, nicht so direkt auszusprechen. Daß nämlich die stalinistische Sowjetunion und Hitler-Deutschland dem gleichen „Totalitarismus“ zuzurechnen sind. Man hat sich mit Andeutungen begnügt. Sollen doch die ausgestellten Werke der Wahrheit zum Licht verhelfen. Wie? Durch ein Nebeneinander oder Gegenüber von Werken der vom Dritten Reich hofierten Maler einerseits und der standardisierten Bilderwelt der stalinschen Agit-Prop- Maschinerie andererseits.

Unbestreitbar ist, daß sich ab 1932 die Repression in der Sowjetunion auch „gegen die Künstler richtet, die bis dahin ihre schöpferische Freiheit bewahren konnten“. Im Laufe eines Jahrzehnts werden ungefähr sechshundert Schriftsteller, Maler, Theater- und Filmleute ermordet, in Lager deportiert, begehen Selbstmord oder emigrieren. Viele andere opfern ihre ästhetischen Überzeugungen und versuchen sich den Regeln des als sozialistisch ausgegebenen neuen Realismus anzupassen. Möglicherweise lassen sich so die armseligen Porträts erklären, die Malewitsch in seinen letzten drei Lebensjahren von 1932 bis 1935 gemalt hat. In allen Bereichen der Kunst endet, was einst erneuernd oder revolutionierend begonnen hatte, in Sterilität.

Das Schöne, Wahre und Perverse

TRAGISCH auch das Schicksal vieler deutscher Emigranten, die aus Nazideutschland in die Sowjetunion geflohen waren. Ob aus Blindheit oder Feigheit – viele der antifaschistischen Gefährten unternahmen alles in allem recht wenig, um deren Verhaftung oder Verschwinden zu verhindern. In einem wiedergefundenen Brief setzt sich Bertolt Brecht bei Georgi Dimitroff, dem Führer der Kommunistischen Internationale, für die „Gefangenen“ ein. Aber am Ende schickt er den Brief nicht ab. Hätte er seine Freundin Carola Neher, eine der Darstellerinnen der „Dreigroschenoper“, retten können? Wahrscheinlich nicht. Doch Brecht, dessen „Arbeitsjournal“ und privater Briefwechsel zeigen, daß er die Augen nicht ganz vor der Repression der Stalinzeit verschloß, hätte an moralischer Größe gewonnen, wenn er seinen Bittbrief abgeschickt hätte.

Muß man aber behaupten, in der Malerei des nationalsozialistischen Deutschland und des stalinistischen Rußland gebe es „eine thematische und stilistische Ähnlichkeit“, hier wie dort werde „der Kult des Helden, des Soldaten, der Jugend, der Gesundheit und Kraft“ und die gleiche Verherrlichung des Arbeiters betrieben? Das jedenfalls schreiben zwei russische Mitarbeiter des Katalogs.2 Aber sie belassen es bei diesem apodiktischen Urteil, ohne es auch nur mit dem geringsten ideologischen oder ästhetischen Argument zu belegen.

Einer ihrer deutschen Kollegen3 verfällt in einen ähnlichen Fehler. Auch er sieht in den beiden „totalitären“ Ländern die gleiche Forderung nach einem „gesunden Organismus“ am Werk. Außerdem, erläutert er, „gerierten sich Diktatoren gern prüde“. Sein Kommentar hierzu: „Dahinter darf man sexuelle Traumata wittern, die sich in Aggression gegen alles Erotische in der Kunst äußern ...“ Seine Argumentation steht leider auf tönernen Füßen, denn selten erreichte die Aktmalerei eine so krasse Obszönität wie damals im Dritten Reich.

Der einzige, der von diesem irreführenden Dogmatismus Abstand nimmt, ist Jost Hermand, ein deutscher Spezialist für die historischen Avantgarden, der lange in den Vereinigten Staaten gelehrt hat. Die Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus sei, wie er betont, im Westen eine „Taktik aus dem Kalten Krieg“, die obsolet geworden sei. Daher solle die unter Hitler und die unter Stalin entstandene Kunst „mit einer dialektisierenden Optik betrachtet werden, die nicht nur die Ähnlichkeiten, sondern auch die Unterschiede wahrzunehmen versteht“.

Eine Vorgehensweise, die sich nach gesundem Menschenverstand anhört, derzeit aber keinen großen Einfluß zu haben scheint. Der Beweis hierfür war die gerade zu Ende gegangene Ausstellung „Kunst und Macht“ in der Londoner Hayward Gallery4 unter der Schirmherrschaft des Europarats. Im Eingang thronte gigantisch der „Prometheus“ des Nazi-Bildhauers Arno Breker.5 Um die Ansammlung heterokliter Kunstproduktionen zu rechtfertigen, erklärte der Direktor der Hayward Gallery, Henry Meyric Hughes, daß es in einer Zeit, da in Europa die Nationalismen wieder zum Leben erwachen, wichtig sei, dem Publikum klarzumachen, wie mächtig die „totalitären Kräfte“ damals waren, einerlei ob sie von den „Diktatoren“ Mussolini, Hitler, Franco oder Stalin verkörpert wurden.

Unter Berufung auf dieses Quartett von Politikern arbeiten hochoffizielle Museen derzeit daran, die als Kunstwerke ausgegebenen Auswüchse der nationalsozialistischen Ideologie zu rehabilitieren. Von den Grundlagen dieser Werke, dem Akademismus des 19. Jahrhunderts, wird dabei nie geredet. So hingen in London Schinken der Nazis Adolf Ziegler und Ivo Saliger6 neben Werken von Künstlern, die Opfer der Repressalien des Dritten Reichs gegen die moderne Kunst waren. Damit wird im Grunde zu verstehen gegeben, daß sie nach rein ästhetischen Kriterien einander in nichts nachstünden.

Dies aber ist eine Sichtweise, die die internationalen rechtsextremen Bewegungen seit Jahren durchzusetzen versuchen. In Frankreich etwa brachten die Editions Jacques Bertoin 1992 ein seriöses Werk über die Münchener Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937 heraus, den sie mit entsprechenden Bildbeispielen versahen. Infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten verkauften sie die verbliebenen Restexemplare an den Buchversand Editions anticonformistes. Ende 1995 rechtfertigte dieser Verlag auf der Suche nach möglichen Käufern in einem Werbebrief die nationalsozialistische Repressionspolitik gegenüber der modernen Kunst folgendermaßen: „Ohne sich auf einen unfruchtbaren Streit zwischen Alten und Modernen einzulassen, kann einen dieser Katalog mit all dem Schmutz und den Scheußlichkeiten nur fassungslos machen; hier wird die Frau zur Prostituierten herabgewürdigt, alle seelischen Perversionen werden als normal hingestellt, das Schöne und Edle wird auf abstoßende Weise umgestaltet. Man sollte sich dieses Buch wie eine Impfung verabreichen: Es stärkt die öffentliche Gesundheit, den Kampf gegen die Seelenverschmutzer zu führen und sich immer wieder klar zu machen, daß die Pervertierung der Kunst nicht erst seit heute existiert ...“

dt. Uli Aumüller

1 Von Jörn Merkert (Berlinische Galerie) und Irina Antonowa (Puschkin-Museum für Bildende Künste, Moskau) ausgerichtete Ausstellung, die bis zum 7. Januar 1996 lief. Der Katalog wurde vom Prestel Verlag, München, veröffentlicht. Bis zum 28. Januar fand im Museum Ludwig in Köln eine Malewitsch-Ausstellung statt.

2 Katalogbeitrag von Anna Rudnik von Wladimir Krischewski, S. 373.

3 Gottfried Eberle, ibid., S. 367-369.

4 Bis zum 21. Januar 1996. Sie deckte sich mehr oder weniger mit der Ausstellung „Kunst und Diktatur“, 1994 in Venedig. (Dazu: Le Monde diplomatique, August 1994). Die Zeit vom 17. November 1995 publizierte einen bemerkenswerten polemischen Bericht von Hans-Joachim Müller. Siehe auch in Le Monde vom 1. Dezember 1995 den Artikel zu dieser Ausstellung von Philippe Dagen.

5 Ein Breker, dessen Plastiken aufgrund einer Entscheidung seiner Witwe in „Berlin-Moskau“ nicht zu sehen waren.

6 Dieser nationalsozialistische Maler hatte das Privileg, sowohl in „Berlin-Moskau“ als auch in „Kunst und Macht“ mit akademischen Gemälden vertreten zu sein: in Berlin mit „Das Urteil des Paris“ (1939) und in London mit „Ruhende Diana“ (1940).

7 Im Originaltext fett unterstrichen.

* Autor von „Le Nazisme et la Culture“, Brüssel (Complex) 1988, und „L'art et la Guerre. Les artistes confrontés à la seconde guerre mondiale“, Paris (Flammarion) 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.03.1996, von Lionel Richard