Peru: Das autoritäre Modell der „Wohlstandstheologie“
Von
Sonderkorrespondent
BENOÏT GUILLOU *
Auf der Bühne eines ausgedienten Kinos stehen ein paar Musiker im zuckenden Laserlicht. Sie sind gerade mit demStimmen ihrer elektrischen Gitarren fertig geworden, in einer Bühnenecke klimpert ein junger Mann auf seinem topaktuellen Keyboard. Gleich werden mehr als achthundert Menschen, die Hände zum Himmel gestreckt, voller Inbrunst ihre Gesänge anstimmen, Hymnen, die nord- und lateinamerikanische Einflüsse verraten. Handelt es sich um eine Underground- Disco, um eine Rave-Party, um ein Rock- Konzert? Nichts von alledem, es ist bloß der Sonntagsgottesdienst der Pfingstkirche „Agua viva“.1 Jeden Sonntag hat sie ein volles Haus, wenn sich die gute Gesellschaft Limas einschließlich der neureichen Mittelschicht in den abgewetzten, bordeauxroten Kinosesseln niederläßt.
Wenig später hebt während der feierlichen Kulthandlung ein eigentümlicher Singsang unter den Versammelten an. Es handelt sich dabei um eine Lobpreisung des Herrn, die unmittelbar vom Heiligen Geist eingegeben wird. Die Sprache ist unbekannt, aber einige besitzen die Gabe, sie zu deuten. Die Pfingstler bringen das „Sprechen in Zungen“ wieder zu Ehren, von Sachkennern „Glossolalie“ genannt. Dann setzt Pastor Juan Capurro, ein ehemaliger Ingenieur und der Gründer der Kirche „Agua viva“, zu einer längeren, erzählenden Predigt an, der es nicht an Humor fehlt und die in rhythmischen Abständen unterbrochen wird von Fragen, Beifall und Halleluja-Rufen aus der Schar der Gläubigen. Drei Stunden zieht sich dieser Gottesdienst hin, und zum Abschluß ruft der Prediger, in Anzug und Krawatte und mit drahtlosem Mikrofon ausgestattet, diejenigen, die einer „göttlichen Heilung“ teilhaftig wurden, zur Zeugenschaft auf: ein paar Dutzend Leute treten augenblicklich vor. Eine Frau ruft in den Saal: „Meine linke Hand war gelähmt“, ein Mann teilt mit, er habe jetzt „keine Magenschmerzen mehr“, ein anderer versichert, „mein Rückgrat ist gelenkig wie früher“. Was die Gläubigen suchen, wenn sie in dieses Bad der Gefühle eintauchen, ist der „spirituelle Reichtum“: Friede, Freude und Gesundheit.
Nach fünfhundert Jahren katholischer Herrschaft erlebt Peru einen religiösen Wandel. Noch 1961 machten Protestanten und Pfingstler lediglich 1,6 Prozent der Bevölkerung aus, heute beträgt ihr Anteil 7,2 Prozent. Dazu kommen noch 2,3 Prozent Adventisten, Mormonen, Zeugen Jehovas ...2 In diesem Kontext ist die Pfingstbewegung eine Religion, in der es heftig gärt3; sie findet ihre Ergänzung in einer Art „Verpfingstlichung“ der evangelischen Kirchen sowie bestimmter Teile des Katholizismus, die von charismatischen Bewegungen ausgeht. Die „Heilungsmesse“ von Pater Manuel Rodriguez wird in Lima jeden Sonntag von einem privaten Fernsehsender übertragen.
Die Pfingstbewegung spricht auch dieBesserverdienenden an – so etwa wirbt die „Agua Viva“-Kirche neue Mitglieder bei Frühstücksbuffets in den Nobelhotels der Hauptstadt. Dennoch und vor allem ist diese Religion, deren Ursprung zu Anfang des Jahrhunderts ein heruntergekommenes Stadtviertel von Los Angeles war, eine Erscheinung, die man vor dem Hintergrund der Armut sehen muß, die wesentlichen Anteil an ihrer massenhaften Verbreitung hat. Von den Andenregionen bis in die Randgebiete von Lima gibt es zahllose, unabhängige Kleinstkirchen. Sie verbreiten ihre Botschaft über Sendeanstalten wie Radio Victoria (dessen Hauptaktionär die Sekte „Deus e Amor“ ist), wo man nicht davor zurückschreckt, Heilungen und Teufelsaustreibungen direkt über den Äther zu praktizieren.
Merkwürdig in diesem Zusammenhang ist, daß die Indio-Bevölkerung von einer traditionell innerlichen Religiosität (in deren Zentrum der gemarterte Christus steht) zu einem ungleich exaltierteren religiösen Ausdruck übergeht. Zudem liegt die Betonung auf der „persönlichen Bekehrung“, die von einigen als „zweite Geburt“ nach einem Leben ohne Ordnung bezeichnet wird. Diese Bekehrung führt in der Regel zu einer neuen persönlichen Moral, die sich in einer strengen Lebensführung (ohne Tabak und Alkohol) äußert. Gleichwohl bleibt die religiöse Botschaft auf das Individuum und die Solidarität innerhalb der Gemeinde konzentriert.
Beten um stabile Devisenkurse
BEI den Werbefeldzügen, mit denen neue Anhänger gewonnnen werden sollen, spielen Themen wie Gerechtigkeit und Armut selten eine Rolle. Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Elend werden allemal als Kennzeichen des sündigen Menschen aufgefaßt, so daß man sich jegliche Analyse von Gesellschaft und Wirtschaft sparen kann. Diese Kirchen leben ausschließlich aus ihrem Bezug auf die Bibel, die unmittelbar das Denken leiten soll, ohne historische Einbindung oder kritische Vorbehalte. Pfarrer und Gläubige lernen ein ganzes Sammelsurium von Textstellen auswendig, die sie dann buchstabengetreu anwenden und wie eine Art Vorlage für das Lesen und Deuten heiliger Texte benutzen. Ein Geschäftsmann und Anhänger der Agua-viva-Kirche gesteht, welche Erregung ihn erfaßte, als Alberto Fujimori mit Unterstützung der evangelischen Freikirchen zum Präsidenten von Peru gewählt wurde. Auch habe er gebetet und sich dabei auf eine Bibelstelle bezogen (Römerbrief, Kapitel 13), getragen von dem Respekt, den er der jeweiligen Obrigkeit entgegenbringe, und er fügt hinzu: „Manchmal erzielt man große Erfolge: zwei Jahre hat die ganze Gemeinde um einen festeren Devisenkurs gebetet, und schließlich haben wir ihn auch gekriegt!“
Diese Strömung der Pfingstbewegung, die in einer Situation des gesellschaftlichen Umbruchs eine sozial befriedende Wirkung hat, bietet sich als der Bündnispartner für den Ultraliberalismus an. Die Mittel- und Oberschicht (die von den klassischen Sekten mit Erfolg umworben wird) läßt sich zumal von ideologischen Thesen wie der „Wohlstandstheologie“ in Bann schlagen; diese Theorie kommt aus den Vereinigten Staaten, sie erklärt, daß Reichtum ein Zeichen von Gottes Segen und die Gesundheit vom Glauben abhängig sei.
Die Pfingstbewegung versteht es, den Habenichtsen eine Heimat zu bieten, sie erscheint als die Antwort auf das existentielle Sicherheitsbedürfnis einer Bevölkerung, die von Gewalt traumatisiert, durch Landflucht und hemmungslose Verstädterung entwurzelt ist.4 Muß man diese spirituelle Erneuerung in einer Zeit ideologischer Bankrotterklärungen in Peru wie in allen anderen Ländern Lateinamerikas nicht als einen Versuch zur gesellschaftlichen Integration und als Suche nach neuer Identität begreifen? Die Evangelische Vereinigung der Israelitischen Mission für einen Neuen Allgemeinen Bund ist eine Art Karikatur dieser Suche. Ihr Gründer, Ezechiel Ataucusi, hält sich für die „dritte Verkörperung des Heiligen Geistes“ und hat bereits an die hunderttausend Anhänger um sich geschart, die, wie der Anthropologe Juan Ossio anmerkt, der in dieser Bewegung so etwas wie eine „friedliche Alternative zum sendero luminoso“ sehen will, zu den „Ärmsten der Armen“ gehören.
Hatte die katholische Kirche unter dem Eindruck der „Parteinahme für die Armen“ (Dreh- und Angelpunkt in der Seelsorge seit der Bischofskonferenz von Medellin im Jahre 1968) zunächst eine Periode der Öffnung erlebt, so erfährt sie jetzt eine reaktionäre Kehrtwendung. Zu beobachten ist, daß in der Kirchenleitung erneut eine autoritäre Haltung Platz greift, die vor allem die Anhänger der Befreiungstheologie im Visier hat. Auf personalpolitischer Ebene findet das seinen Ausdruck in der Ernennung von unbedeutenden Prälaten oder von Bischöfen, die dem Opus Dei nahestehen (allein in Peru sind es sieben).
Befragt man den Erzbischof von Cuzco, Hochwürden Alcides Mendoza, zur Ausbreitung der Pfingstkirchen, dann verweigert der ehemalige Heeresbischof (er hat den Generalsrang) die Antwort und verweist auf den Sekretär der Bischofskonferenz von Lima. Angesichts des rapiden Anwachsens dieser neuen Bewegungen, das durch die in der Verfassung von 1979 verbriefte „Religionsfreiheit“ begünstigt wird, schwankt die Haltung der katholischen Kirche zwischen Besorgnis und Gleichgültigkeit, verdammt allerdings jeden Fundamentalismus. Der Generalvikar von Cuzco, Pater Mario Gálvez, vertritt die Meinung, es handele sich um eine „protestantische Offensive aus den Vereinigten Staaten“. Selbst wenn das einmal der Fall gewesen sein sollte, so erscheint diese Interpretation heute wenig glaubhaft: Ein koordiniertes Vorgehen oder eine einheitliche Ideologie sind innerhalb Pfingstbewegung nicht auszumachen. Der Parlamentsabgeordnete Rafael Rey-Rey (der wie die Präsidentin des Kongresses Mitglied des Opus Dei ist) erklärte diesen Erfolg als ein Resultat der „Theologie der Befreiung, die den Klassenkampf auf Kosten der Sakramente, des Gebets, der Glaubensgrundsätze und der Moral gerechtfertigt hat.“
Daß sich so viele Menschen diesen neuen Bewegungen zuwenden, deutet darauf hin, daß ihnen in der katholischen Kirche etwas fehlt. Allzuoft scheint die Kirche weit entfernt von den Erwartungen und dem Leben der Bevölkerung. Es gibt nur wenige Geistliche: 1930 wurden noch 3000 Priester auf 6 Millionen Einwohner gezählt; ihre Zahl hat nicht zugenommen, aber inzwischen leben 25 Millionen Menschen in Peru. Überdies sind die kirchlichen Basisgemeinden, die vom Engagement der Laien abhängen, gegenwärtig im Niedergang. Der peruanische Priester Gustavo Gutiérrez, der als Vater der Befreiungstheologie gilt, gibt dennoch nicht auf, wenn er auch anerkennen muß, daß „Engagement dem einzelnen viel abverlangt und deshalb innerhalb der Kirche keine Massen mobilisiert“.
Pastor Jorge Bravo, der Vorsitzende der Methodistenkirche, der ersten protestantischen Kirche Perus (1877), macht auf einen „deutlichen Wandel in der Einstellung der evangelischen Kirchen“ aufmerksam. Angesichts der feindseligen Haltung dieser Kirchen gegen jedes gesellschaftliche oder politische Engagement5 hatten sich die Methodisten 1968 aus dem Evangelischen Nationalkonzil Perus (Conep) zurückgezogen, um ihrer Überzeugung treu zu bleiben, in der Glaube und Handeln eine Einheit bilden. Aber dann öffnete sich das Conep nach und nach. 1984, nach der Ermordung von sechs Presbyterianern in Ayacucho, setzte das Konzil eine Kommission für Menschenrechte ein.
Diese Kommission hat kürzlich gegen ein Gesetz protestiert, das Militärs, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, Straffreiheit zusichert. Im September 1995 nahm sie in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche an einer öffentlichen Kundgebung zur Verteidigung illegal Inhaftierter teil. Eine Aktion, die vor fünfzehn Jahren undenkbar gewesen wäre. Viele Pastoren gründen Volksküchen und Krankenstationen. Mit Blick auf diese Veränderungen äußert der Direktor der Abteilung für Menschenrechte und Sozialpolitik des Conep, der Rechtsanwalt Alfonso Wieland, Vorbehalte: „Auf der Ebene der Verlautbarungen mag diese Entwicklung klar erkennbar sein, in Wirklichkeit sind längst nicht alle Pastoren bereit zu einem solchen Engagement.“
Effizienz und spirituelle Autorität
EIN weiteres Novum ist, daß sich Protestanten und Pfingstler der Politik öffnen (letztere in geringerem Maße, da sie dazu neigen, solches Engagement zu „verteufeln“). 1990 nahmen sie Einfluß auf die Wahl von Alberto Fujimori an die Spitze des Staates. Zweiter stellvertretender Staatspräsident wurde übrigens mit Carlos Garcia ein Baptistenpastor. Fünf Jahre später, bei der Präsidentschaftswahl im April 1995, zeigt die Stimmabgabe längst nicht mehr ein so geschlossenes Bild. Wahrscheinlich hatten die neuen religiösen Bewegungen das Gefühl, von Fujimori bei seinem ersten Wahlkampf, als er noch ein unbeschriebenes Blatt war, benutzt worden zu sein. Bei den Kongreßwahlen bewarben sich, verteilt über die Listen praktisch aller politischen Parteien, ungefähr vierzig evangelische Kandidaten (von insgesamt etwa sechzehnhundert Bewerbern), darunter auch eine Handvoll Pfingstler.
Nach wie vor herrschen große Spannungen unter den evangelischen Kirchen. Viele machen sich Sorgen wegen der „Effizienz“ der Pfingstbewegung, die mittlerweile überall, sogar im Conep, die Mehrheit hat.
Besonders aktiv ist die Bewegung in ihrem „spirituellen Krieg“. Ihr Ziel: die Bekehrung von 25 Prozent der Bevölkerung und die Errichtung von 50000 Gotteshäusern bis zum Jahr 2003 (schon jetzt gibt es ungefähr 19000). Eine Wunschvorstellung, die weit über das Ziel hinausschießt, weil sie die Fluktuation der Gläubigen von einer Sekte zur anderen unberücksichtigt läßt. Jean-Pierre Bastian, der sich als Historiker speziell mit dem Protestantismus in Lateinamerika befaßt hat, äußert die Warnung: „Die meisten Pfingstkirchen werden von Leuten geführt, die Chefs, Eigentümer, Kaziken und Caudillos einer Religionsbewegung sind, die sie selbst ins Leben gerufen haben.“6 Dieses autoritäre Modell, bei dem die Macht des Anführers mehr auf Charisma als auf Bildung beruht, ist der Anlaß für zahlreiche Spaltungen und sektiererische Abweichungen.
Gleichwohl ist die Pfingstbewegung die erste große religiöse Strömung in der Geschichte Perus seit dem 16. Jahrhundert. Es fehlt noch an Abstand, um dieser ersten Generation von häufig unversöhnlichen Konvertiten eine Analyse zu widmen. Werden die Gläubigen angesichts einer von Ungleichheit gezeichneten Gesellschaft merken, daß die „Wohlstandstheologie“ nicht alleinseligmachend ist und daß der Heilige Geist ihnen nicht zu Diensten steht?
dt. Rolf Schubert
1 Der Ursprung der „Agua viva“-Kirche geht zurück auf die von „sister“ Aimee Semple McPherson in Los Angeles gegründete International Church of the Foursquare Gospel (Das Vierseitige Evangelium).
2 Quelle: INEI/Censos Nacionales 1993.
3 Sie tritt unter mehr als 420 verschiedene Bezeichnungen auf, die größte ist die Assembléia de Deus.
4 Dial, Nr. 2038, Paris 1995.
5 Einige dieser Kirchen konnten sich dank der im Rockefeller-Bericht von 1969 und in den Santa-Fe- Dokumenten (1980-1989) angeregten Offensive durchsetzen, deren Ziel die Eindämmung der Befreiungstheologie war, die als eine Gefährdung für die Interessen der USA angesehen wurde.
6 Vgl. „Le Protestantisme en Amérique latine. Une approche socio-historique“, Genf (Labor/Fides) 1994; vgl. auch: Harvey Cox, „Retour de Dieu. Voyage en pays pentecôtiste“, Paris (Desclée de Brouwer) 1995.
* Journalist.