15.03.1996

Der Kreis der unbekannten Toten

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Der Kreis der unbekannten Toten

Von

LAKHDAR

BENYOUNES

DAS Echo der verschwundenen und nie wiederaufgetauchten Menschen geistert durch ganz Algier. Für die Juristen handelt es sich um „nicht aufgeklärte Fälle“, aber die Erinnerung spricht eine andere Sprache.

Die Totengräber wissen Bescheid. Zu den Toten von Serkadji? Sie müssen immer geradeaus und dann durch eine Reihe gewaltiger Zypressen, die einst die Grenze des Nationalfriedhofs El Alia bildeten. Alle, die hier arbeiten, wissen, warum dieser Ort ein so makabres Interesse weckt, aber sie sind taktvoll genug, keine Fragen zu stellen. Sie zeigen uns nur den Weg, mit einer Handbewegung, wie all den anderen vor uns, dann graben sie weiter.

Man muß den ganzen riesigen Friedhof durchqueren, um dorthin zu gelangen. Zuerst die rechteckige Anlage, wo die großen Persönlichkeiten der algerischen Geschichte begraben sind, wo die Helden ihre letzte Ruhe finden, Freund und Feind von gestern und heute; dann den kleinen Bezirk der Christen. Manche dieser Gräber sind fast hundert Jahre alt. Ein paar Schritte weiter steht man auf dem weiten Feld unterhalb der alten Festung, das dem unaufhörlichen Ansturm der Toten schon bald nicht mehr gewachsen war. Obwohl heute nicht Freitag ist (der Tag, an dem man in den muslimischen Ländern auf den Friedhof geht), hat sich bereits eine Gruppe von Frauen eingefunden, die schweigend damit beschäftigt sind, Unkraut zu jäten und die Gräber in Ordnung zu bringen, denen der Regen vom Vortag heftig zugesetzt hat.

Sie alle haben den Mann, den Vater, den Bruder verloren. Aber ihnen bleibt das traurige Privileg, daß sie wenigstens wissen, wen sie hier begraben haben: Djebbour Abderrahmane, getötet am 16. Dezember 1995, Chehilat Kouider, ermordet am 16. Januar 1994, Lounici Salah, gestorben am 2. März 1993 ...

Diese Angaben, flüchtig aufgemalt, oft sogar nur mit Filzstift geschrieben, wirken dennoch beinahe beruhigend neben den anderen Schildern – jenen, die nur anzeigen, daß hier Tote ohne Namen, Alter und Herkunft liegen.

Es gibt viele solcher Gräber in diesem Teil des Friedhofs. „ Viele Leute sind schon hier gewesen und haben alles umgegraben“, erzählt ein Friedhofsangestellter. „Aber sie haben nichts gefunden; sie sind nicht sicher, ob sie das, was sie finden, gesucht haben.“ Hier enden die exakt ausgerichteten Reihen der älteren Gräber in einem weitläufigen Gelände, das wie ein Bauplatz aussieht: Die Grabstätten liegen ungeordnet und dicht gedrängt, kaum voneinander abgegrenzt, keine Spur von der bunten Blütenpracht, die sonst auf den algerischen Friedhöfen zu finden ist.

Einige der Häftlinge, die bei der Gefängnisrevolte von Serkadji getötet wurden, sind hier bestattet. Manche Gräber heben sich deutlich ab, sie werden offenbar häufiger besucht, andere machen nur durch Schilder mit Zahlen und Buchstaben auf sich aufmerksam, die oft unleserlich sind. Wieder andere tragen gar kein Erkennungszeichen; sie drohen unter der Last von Erde und Regen zu verschwinden und liegen da in einer Verlassenheit, vor der selbst der Tod sich abgewandt hätte. Ein alter Friedhofsarbeiter berichtet, hier seien Leichen in Holzsärgen bestattet worden, meist gegen Abend, und niemand habe gewußt, um wen es sich handelte.

Und woher kamen diese Toten? Eine überflüssige Frage: Schließlich haben die Bewohner der Vorstädte, in Sidi Moussa wie in Khémis El Khechna, die Leichen am Straßenrand liegen sehen, denn hier wie überall gab es unzählige bewaffnete Auseinandersetzungen. Aber der Alte hat eine Antwort: „Das sind natürlich die Toten von Serkadji, und auch die anderen, die man am Straßenrand gefunden hat, den Kopf abgeschnitten – erst letzten Dienstag kam wieder ein Krankenwagen. Irgendwer ist begraben worden, dann wurde die Grube zugeschaufelt, und sie sind wieder weggefahren.“ – „Tote gehören begraben“, fügt er hinzu – wer könnte ihm widersprechen.

Die Gräber der Unbekannten liegen kreuz und quer, man muß schon suchen, um die nackten Grabhügel zu finden und sich so den Kreis der unbekannten Toten, die sich hier zusammenfinden, imaginieren zu können. Ihre achtlose Bestattung, die den gewaltsamen Tod verleugnen will, führt uns vor Augen, wie vollständig eine Person ausgelöscht werden kann. Und das in einem Land – und darin liegt die ganze Absurdität –, das seit Jahrhunderten in blutigen Kämpfen seine Identität zu gewinnen sucht. Daß es diese unbekannten Toten gibt, bezeugt am Ende nur dieser Totengräber im Dienst des Staates, der sich heute nicht einmal mehr über seine eigene, mit einem Lachen vorgetragene Feststellung wundert: „Heutzutage bringen sich die Toten selbst unter die Erde.“

Auch auf dem Friedhof Bologhine (ehemals St. Eugène), im Westen von Algier, sind Opfer der Gefängnisrevolte von Serkadji begraben worden. Das gleiche Bild: Gräber, abermals Gräber ohne Namen, abgelegen oder verstreut und schwer zu finden zwischen den anderen, wenn man nicht gerade einen der Totengräber fragen kann, die über alles Bescheid wissen. Ein Rechtsanwalt, der die Eltern eines der Opfer vertritt, spricht offen von „Massengräbern“, in denen man die Leichen verscharrt habe, „als sie noch warm waren“. Starke Worte, die verständlich sind, angesichts des Blutbads vom 21. Februar 1995 im Gefängnis von Serkadji. Ein anderer Anwalt, der die Strafanstalt häufig aufgesucht hat, erklärt, es habe dort Berge von Leichen gegeben, unzählige verstümmelte und unkenntliche Tote – unter diesen Umständen sei eine traditionelle Bestattung unmöglich gewesen. Außerdem schien es politisch geboten, die Angelegenheit zu kaschieren und nichts über die Umstände bekannt werden zu lassen, unter denen einige der Häftlinge zu Tode kamen.

Neben dem offiziellen Bericht über die Vorfälle, der im vergangenen Jahr in der Presse veröffentlicht wurde, gibt es eine Untersuchung, die von einer Gruppe von Rechtsanwälten erstellt worden ist. Dort werden die Namen von 87 Toten aufgeführt, deren Beerdigung von der Gefängnisverwaltung von Serkadji übernommen wurde. In den genannten Fällen sind die Familien der Opfer zumeist von der Justiz über das Schicksal ihrer Angehörigen informiert worden. Andere Anwälte verweisen dagegen auf die unaufgeklärten Fälle, auf Dutzende von Personen, die bei Durchsuchungs- und Überprüfungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte „verschwunden“ sind.

Auch ein Mitglied der algerischen Menschenrechtsliga, die von Ali Yahia Abdennour geführt wird, erinnert an die Personen, die unter ungeklärten Umständen ihren Familien entrissen wurden. Er hebt vor allem zwei Fälle hervor: Kaddour Bousselham, der in der Region Mascara, im Osten des Landes, verschwunden ist, und Djamil Fahassi, der zuletzt in Algier, im dichtbevölkerten Viertel El Harrach gesehen wurde. Beide waren Journalisten. Allgemein bekannt ist auch der Fall eines Arztes, der offen mit den Islamisten sympathisierte – er verschwand zusammen mit seinem zwanzigjährigen Sohn. Gehören auch sie mittlerweile dem wachsenden Kreis der unbekannten Toten an?

dt. Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 15.03.1996, von Lakhdar Benyounes