15.03.1996

Ablaßzauber und Massenaskese für die Armen Brasiliens

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Ablaßzauber und Massenaskese für die Armen Brasiliens

VOR allem eine Sorge bewegte Papst Johannes Paul II. bei seiner jüngsten Reise nach Lateinamerika im Februar dieses Jahres: der Aufstieg der neuen evangelischen Glaubensbewegungen, deren Anhängerschar auf Kosten der katholischen Kirche von Jahr zu Jahr größer wird. Besonders spektakulär ist in diesem Zusammenhang das Anwachsen der Pfingstbewegung. In Ländern wie Brasilien, Peru und Guatemala breiten sich die Pfingstkirchen in rasantem Tempo aus und sind zu einer gesellschaftlich relevanten Erscheinung geworden. Sie stehen mit den Verfechtern des Ultraliberalismus im Bunde, verstehen es, mit den Gefühlen der Ärmsten zu spielen, und schwadronieren, in deutlich romantisierenden Tönen, von einer „Wohlstandstheologie“, die letztlich den Armen nichts anderes übermittelt als Resignation.

Von unserem Sonderkorrespondenten ANDRÉ CORTEN *

In Brasilien, Peru oder Guatemala kann die Gunst der Wähler, die den evangelischen Freikirchen angehören, ein entscheidender Trumpf sein für jemanden, der sich um das höchste Staatsamt bewirbt.1 So hat Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso eine Unterstützung durch die Führer dieser Glaubensgemeinschaften nicht verschmäht, wenngleich sie für seinen Sieg im vorletzten Jahr nicht ausschlaggebend war. Er hat sich als „Auserwählter Gottes“ bezeichnen lassen und möchte dies auch weiterhin bleiben. Schon vor sechs Jahren sicherten die Stimmen der neuevangelischen Basis dem damaligen Kandidaten Fernando Collor de Mello den Wahlsieg. Sind also die evangelischen Freikirchen neuerdings in Brasilien die Präsidentenmacher?

Nach wie vor ist das Land auf der Suche nach religiösen Vorstellungen, in denen die Umrisse einer lang ersehnten Gesellschaft sichtbar werden. Während der Kolonialzeit (1500-1822) erhielt Brasilien sein gesellschaftliches Gepräge durch die Vision der „heiligen Mittler“. In dieser Vision gingen die Welt des Christentums – der Papst übertrug die Amtsgewalt für die Errettung der Seelen auf den König von Portugal – und die religiöse Vorstellungswelt Afrikas eine Verbindung ein. Mit dem Kaiserreich (1822-1889) beginnt sich die Einheit der „christlichen Gesellschaft“ aufzulösen; mit der Ersten Republik (1889-1930) ist sie verschwunden, ohne daß etwas an ihre Stelle getreten wäre. Liberalismus und Positivismus, beide von den Eliten ins Land gebracht, bleiben oberflächliche Erscheinungen. Daneben aber ist die Welt religiöser Vorstellungen nach wie vor lebendig, etwa im Candomblé, im Umbanda und im Spiritismus.2

Der von General Getulio Vargas (1930-1945) begründete Estado Novo verschafft der Kirche die Gelegenheit, ein auf die Mittelschicht zugeschnittenes Christentum zu begründen. Auf längere Sicht zieht es die Armee allerdings vor, die politische Bühne leerzufegen und eine neue Ordnung nach eigenen Vorstellungen (1964-1985) zu etablieren. Die katholische Kirche gerät ins politische Abseits und findet sich in die Rolle einer Verteidigerin der demokratischen Werte gedrängt. So entsteht, was fortan „Befreiungstheologie“ heißt.

Die Befreiungstheologen – Gustavo Gutiérrez, Fray Betto – wissen, daß sie das, was sie das Reich Gottes nennen (die Konzeption einer anderen Gesellschaft), nur verwirklichen können, wenn es ihnen gelingt, die ausgegrenzte Bevölkerungshälfte Brasiliens – die Armen – zu erreichen. In diesem Sinne gründen sie kirchliche Basisgemeinden. Aber schon 1985 zeigt sich, daß die Befreiungstheologie an die Allerärmsten nicht herankommt. Diese stehen vielmehr im Bann einer neuen religiösen Strömung: der Pfingstbewegung. Obwohl ein Importprodukt, wurde sie binnen kurzem zur Religion der Entrechteten.

Wunder gibt es immer wieder

DIE Pfingstbewegung entstand zu Beginn des Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten unter schwarzen Methodisten und zählt mittlerweile 150 Millionen Anhänger, die in sämtlichen Ländern der Dritten Welt zu Hause sind. Sie rechnet sich zu den „evangelischen Heerscharen“, zu denen in Lateinamerika auch die Protestanten im historischen Sinne gezählt werden.3 In Brasilien, wo sich seit 1911 die von der Amerikanischen Kongregation unabhängige Kirche der Assembléia de Deus ausbreitet, ist die Zahl der Pfingstler im Laufe der letzten zehn Jahre um jährlich 8 Prozent gewachsen. Nach Erhebungen aus dem Jahre 1994 gehören 10 Prozent der brasilianischen Wahlberechtigten der Pfingstbewegung an (alle evangelischen Gläubigen zusammengenommen machen 13,5 Prozent der Wählerschaft aus). Im Vergleich dazu bilden die Katholiken, die der Befreiungstheologie nahestehen, 2 Prozent und die „Charismatiker“ 3,8 Prozent der Wähler.

Die brasilianische Pfingstbewegung besteht aus Tausenden von Kirchen, und durch immer neue Abspaltungen nimmt ihre Zahl fortwährend zu. Zudem hat sie große Bekehrungserfolge. Gleichwohl lassen sich einige Großkirchen benennen.

Die bedeutendste, die Assembléia de Deus, verfügt im ganzen Land über mehr als 30000 Gotteshäuser. In den favelas hängen bereits an unzähligen Hütten jene Schilder mit der Aufschrift „Assembléia de Deus“ – der „klassischen“ Kirche der Pfingstbewegung“.

Am stärksten vertreten in den großstädtischen Ballungsgebieten (mit 2000 mittelgroßen oder größeren Gotteshäusern, zumeist umgebauten Kinos oder Supermärkten) ist jedoch die 1977 von dem umstrittenen Bischof Edir Macedo ins Leben gerufene Weltkirche vom Reich Gottes.4 Die Weltkirche, die tatsächlich mit universalem Anspruch auftritt, ist in zehn Ländern bereits fest verankert. Sie besitzt eine erstaunliche Medienpräsenz5, ist Eigentümerin des Fernsehsenders Rede Record (den sie 1990 für 45 Millionen Dollar übernommen hat), und ihre aktuelle Politsendung „Die 25. Stunde“ hat eine der höchsten Einschaltquoten.

Weiterhin beherrscht sie eine Unzahl von Rundfunkstationen, die ununterbrochen Glaubensbezeugungen, Predigten, Gesänge und Nachrichten aus der Pfingstbewegung in fast alle Bundesstaaten Brasiliens senden. Sie organisiert Massenveranstaltungen in riesigen Fußballstadien, bei denen bis zu 400000 Menschen zusammenkommen. Sie hat mit „Bewegung Brasilien 2000“, „Zukunft ohne Hunger“ oder Assoçião Beneficiente Crista landesweite humanitäre Kampagnen in Gang gebracht. Und sie legt großes Gewicht auf den „Kampf gegen die Dämonen“. Der Ton ihrer Reden ist alles andere als wehklagend: „Die Dämonen wollen uns unser Recht auf den Segen Gottes nehmen, ein Recht, das unser Herr Jesus Christus siegreich errungen hat. Durch den Glauben – der sich darin kundtut, daß man seinen Obolus entrichtet – erlangt man den Besitz dieses ,Segens‘ zurück. Ein Segen, der sich im finanziellen, gesundheitlichen und familiären Bereich, kurz im Wohlstand äußert.“ Das ist die „Wohlstandstheologie“.

Entscheidend für die „klassischen“ Pfingstler ist das Gefühlserlebnis der unmittelbaren Begegnung mit Gott. Häufig bekundet es sich durch ein äußeres Zeichen: das „Sprechen in Zungen“ (siehe den Artikel unten). Dies ist ein außerordentliches „Geschenk“ des Heiligen Geistes, das Zeichen einer zweiten Taufe. Nach dem Evangelium hat es sich zum ersten Mal am Pfingsttag unter den Aposteln Christi ereignet. Sein erneutes Erscheinen ist nach Meinung der Pfingstler ein Hinweis auf die bevorstehende „Zweite Wiederkehr Christi“.

Die unmittelbare Gotteserfahrung schränkt die Vermittlerrolle des Klerus ein und verleiht der Pfingstbewegung egalitäre und kommunikative Züge. In der Erwartung der „Zweiten Wiederkehr Christi“, die sich in Naturkatastrophen, Krisen und Kriegen ankündigt, sind die Gläubigen gehalten, sich entsprechend zu rüsten und der Welt den Rücken zu kehren. Von daher sind die Pfingstler eine von der Tradition her unpolitische Bewegung. Was Alkohol, Tabak, Freizeitvergnügen und dergleichen angeht, predigen sie eine Massenaskese, die zugleich die Regeln für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der „Brüder“ setzt. In der Glaubenspraxis der Pfingstbewegung verbindet sich die Weltanschauung mit einer Hoffnung, die gleichermaßen auf apokalyptischer Gewalt (als einer Projektion der alltäglichen Gewalt) wie auf Egalitarismus ruht.

Auf besonders spektakuläre Weise werden die Emotionen in der „autonomen“ Pfingstbewegung mobilisiert: durch „göttliche Heilung“, durch Exorzismus und die posse, die Inbesitznahme des Reichs Gottes. In einem Land, in dem Krankheiten der unmittelbarste Ausdruck für die Leiden der Armen sind, eröffnet sich für die Pfingstlerkirchen ein immer größeres Feld, weil sie „Heilung“ verheißen. „Jesus ist die Lösung“, sagen sie.

„Scharlatanerie!“ tönt es ihnen entgegen. Tatsache ist, daß das Pfingstlertum Gefühle hervorruft, die psychotherapeutische Wirkung haben. Im übrigen wird durch den Kampf gegen die Dämonen eine Geisterwelt wiederbelebt, mit der die Pfingstbewegung an die Überlieferung breiter Bevölkerungsschichten anzuknüpfen vermag. All das kommt auch in den Sendungen religiösen Inhalts zum Ausdruck, die immer häufiger im Fernsehen ausgestrahlt werden. Die dort auftretenden „Fernsehprediger“ banalisieren die Wunder durch Live-Übertragungen und Augenzeugenberichte und lassen sie so glaubwürdig und wahrhaftig erscheinen.

Wann immer man eine Pfingstkirche betritt, vermeint man die emotionale Aufladung zu spüren, die die Prediger der Bewegung unter den Anwesenden bewirken. Die in Verzückung versammelten Gläubigen entwickeln eine konzentrierte spirituelle Kraft, jenes „Fluidum“, das jeder beliebige Guru auf das politische Feld umlenken kann.

Brüder wählen Brüder

SEIT 1986 ist ein neues politisches Phänomen zu beobachten: die bancada evangelista, die durch den fundamental- evangelischen Glauben definierte Parlamentsfraktion, deren Mitglieder sich als Auserwählte verstehen. In der verfassunggebenden Versammlung von 1989 bestand sie aus 33 Abgeordneten (von 573), 1990 im Kongreß aus 31 und im 1994 neugewählten Kongreß aus 29 Abgeordneten. Die Kandidaten für ein Mandat werden offiziell von den Kirchenkonventen benannt, bei der anschließenden Wahl legt man den Gläubigen nahe, ihre Stimme einem „Bruder“ zu geben: „Brüder wählen Brüder“.

Die bancada evangelista betreibt bevorzugt politischen Kuhhandel: Sie sichert der Regierung ihre Unterstützung für Gesetzentwürfe zu und erhält im Gegenzug Haushaltsmittel für die von ihr vertretenen Kirchen beziehungsweise Sendelizenzen für Radio- und Fernsehstationen. Die Assembléia de Deus von Bischof Edir Macedo freilich mischt sich immer direkter in die Politik ein; so setzte sie sich 1994 an die Spitze des Kreuzzugs gegen den Präsidentschaftskandidaten der (linken) Arbeiterpartei, Luis Inácio „Lula“ da Silva. „Lula, des Teufels Kandidat“, hieß es auf ihren Wahlplakaten. Seither nimmt bei jeder Wahl die Zahl der zur Rechten oder zum rechten Zentrum gehörenden Abgeordneten aus der Weltkirche unaufhaltsam zu.

Allerdings betreten die Pfingstler nicht nur in Brasilien die politische Bühne. So haben sie in Chile General Pinochet unterstützt. Auch Guatemala hatte von 1982 bis 1985 seinen evangelischen Präsidenten in der Person von General Rios Montt. In Peru schließlich wurde 1990 Alberto Fujimori mit ihrer Hilfe zum Staatspräsidenten gewählt.

In dem Maße, wie die Pfingstbewegung durch die Weckung intensiver und nach außen gekehrter Emotionen zu einer Veränderung der alltäglichen Lebensweise auffordert, könnte die Macht der Gefühle auch in der Politik eine stärkere Rolle spielen. Nicht wenige Arme in Brasilien scheinen genau dies für sich zu reklamieren, „um dem Leiden mit Würde zu begegnen“. Es geht aber auch darum, in Lateinamerika einem neuen gesellschaftlichen Subjekt zum Durchbruch zu verhelfen: ein Subjekt, das die Befreiungstheologie vorausgeahnt hatte und das sich nunmehr in einer Gefühlsreligion Ausdruck verschafft, die ohne Vermittlungen und ohne Geistliche auskommt. Diese religiöse Bewegung ist mittlerweile zu einer politischen Kraft geworden, die niemand mehr leugnen kann.

1 Paul Freston, „Popular Protestants in Brazilian Politics: A Novel Turn in Sect-State Relations“, Social Compass, September 1994, S. 41-44.

2 Der Candomblé ist eine Religion afrikanischen Ursprungs wie der Voodoo. Der Umbanda, der Anfang des Jahrhunderts unter der armen Stadtbevölkerung im Südwesten Brasiliens in Erscheinung trat, steht ihm zwar nahe, seine Ursprünge aber sind weniger ausgeprägt afrikanisch. Der Spiritismus ist innerhalb der Mittelschicht sehr verbreitet. Alle diese Sekten werden von der katholischen Kirche verdammt.

3 Protestanten im historischen Sinne sind: die Lutheraner (zahlreich vertreten im Süden Brasiliens), die (kalvinistischen) Presbyterianer, die Methodisten und die Baptisten (mit starkem Zuwachs). Vgl. dazu: Jean- Pierre Bastian, „Le Protestantisme en Amérique latine. Une approche socio-historique“, Genf (Labor/Fides) 1994. Nicht zu den Evangelischen zählen die Zeugen Jehovas, die Mormonen und die Anhänger der Moon-Sekte.

4 Bischof Edir Macedo (der in einem Vorort New Yorks lebt) war im Mai 1992 wegen Steuerhinterziehung und Scharlatanerie zwei Wochen im Gefängnis; er äußert sich bewußt pragmatisch, zumal in Finanzangelegenheiten und in der Politik. Für ihn sind alle Mittel recht, den Teufel auszutreiben und das Reich Gottes siegreich durchzusetzen.

5 Die Weltkirche wie auch die übrigen Kirchen der „autonomen Pfingstbewegung“ protestieren heftig, wenn man sie als „Fernsehkirchen“ amerikanischen Typs bezeichnet. Evangelisierung, Beten und Exorzismus werden im wesentlichen während der Gottesdienste betrieben, die drei- bis fünfmal täglich stattfinden.

* Professor für Politische Wissenschaften an der Universität der Provinz Quebec in Montreal und Verfasser des Buchs „Le Pentecôtisme au Brésil“, Paris (Karthala) 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.03.1996, von Andre Corten