Justiz in den Mühlen der Macht
Von
ALI
CHAMBATI
IM Innern des Justizapparats hat sich längst eine Art McCarthyismus breitgemacht, der die Richter psychologisch unter Druck setzt, sich der herrschenden Politik der Vernichtung anzuschließen.“1 Man kann an dieser bitteren Bemerkung eines bekannten Rechtsanwalts ablesen, welchen Niedergang das gesamte politische Leben in Algerien erfahren hat. Das Konfrontationsdenken, das seit dem Abbruch der Wahlen und dem Beginn der bewaffneten Auseinandersetzung vorherrscht, hat zwangsläufig alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt, und so bekamen auch Richter und Anwälte die Gewalt zu spüren, wurden gar Opfer abscheulicher Anschläge.
Die schwere politische Krise hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Arbeitsweise der Justiz. Unbeeindruckt von der öffentlich geäußerten Kritik der Anwaltschaft, hat das Regime den Justizapparat für seinen Kampf gegen die bewaffneten Gruppen vereinnahmt. Die Hoffnungen auf eine Demokratisierung, die nach den Aufständen vom Oktober 1988 aufgekommen waren, sind gründlich zerschlagen worden.
Im Rückblick erscheinen die Jahre 1989 bis 1991 als eine gute Zeit: Erstmals gewann die Justiz, die durch die Verfassung vom Februar 1989 zu einer unabhängigen Gewalt geworden war, eine gewisse Glaubwürdigkeit. Unter Justizminister Ali Benflis, einem früheren Rechtsanwalt, herrschte ein ganz neuer Geist, trotz aller Widerstände des Regimes gegen die Demokratisierung und trotz des wachsenden Einflusses der Islamisten.
Die Gerichtsverfassung vom 12. Dezember 1989 bekräftigte die Unabhängigkeit der Justiz. Sie rief einen mehrheitlich aus Richtern bestehenden, selbstgewählten Rat ins Leben, der als unabhängiges Organ die Richter schützen und sicherstellen sollte, daß ihre Rechtsprechung nicht länger durch Abberufungen oder Strafversetzungen bestimmt werden konnte. Im Falle von Verfehlungen war zunächst eine Anhörung durch die Kollegen vorgesehen, um die Abhängigkeit von der Exekutive zu verringern.
In diesem Klima der Demokratisierung wagten es sogar Opfer der Behörden, gegen Machtmißbrauch und Kompetenzüberschreitung zu klagen. Auch Justizminister Benflis ließ sich von der allgemeinen Euphorie anstecken und riskierte einen geradezu revolutionären Vorstoß: Tatverdächtige sollten das Recht erhalten, während der polizeilichen Voruntersuchung Kontakt zu ihren Angehörigen und einem Anwalt aufzunehmen. Diese Bestimmung trat zwar nie in Kraft, aber allein schon die Tatsache, daß dieser Vorschlag gemacht wurde, sagt viel über die damalige Stimmung aus.
Die Regierung unter Sid Ahmed Ghozali, die nach der Krise vom Juni 1991 und dem Rücktritt von Mouloud Hamrouche die Amtsgeschäfte übernahm, beließ Justizminister Benflis in seiner Funktion. Er selbst reichte jedoch schon im Juli desselben Jahres ohne öffentliche Begründung seinen Rücktritt ein. Man begriff auch so, daß der Anwalt Benflis nicht bereit war, die sich ankündigende härtere politische Gangart als Minister mitzuvertreten. Von Juni bis Dezember 1991 waren die Auswirkungen des demokratischeren Klimas in Politik und Rechtsprechung noch zu spüren, auch wenn sich die Fronten zwischen dem Regime und der Islamischen Heilsfront (FIS) bereits deutlich zu verhärten begannen. Noch hatten die liberale Gesetzgebung und die relative Unabhängigkeit der Justiz Bestand.
Nach der Annullierung der Parlamentswahlen im Januar 1992 kam ein neues Instrumentarium repressiver Mittel zum Einsatz, dem die erzielten Fortschritte nach und nach zum Opfer fielen. Die islamistischen Gewaltakte nahmen zu, und das Regime weigerte sich, ernsthaft einen politischen Ausweg aus der Krise anzustreben – die Rechte der Verteidigung und die richterliche Autonomie gerietn wieder ins Wanken.
Die im Oktober 1992 erlassenen Zusätze zum Gerichtsverfassungsgesetz stellten die Unabhängigkeit der Richter in Frage. Nunmehr wurden die Richter vom Justizminister ernannt, und auch der Richterrat konnte seiner Schutzfunktion gegen den Druck von oben nicht länger nachkommen, weil die Mehrheit seiner Mitglieder von der Exekutive eingesetzt wurde.
Erzwungene Geständnisse
DEN kleinen Fortschritten im Bereich der Rechte der Verteidigung setzte die Verordnung Nr. 92-03 (das sogenannte Antiterrorismusgesetz) ein Ende, die am 30. September 1992 von der Regierung Belaid Abdessalam erlassen wurde. Darin wurden Sondergerichte für Straftaten „im Zusammenhang von Terrorismus und Subversion“ eingeführt und für diese Taten auch erhöhte Strafmaße festgelegt. Doch diese Verordnung ging noch einen Schritt weiter und tastete gar allgemeine Rechtsgrundsätze an: Statt 48 Stunden konnten Personen nun bis zu zwölf Tagen in Polizeigewahrsam gehalten werden, Hausdurchsuchungen waren an jedem Ort und zu jeder Tages- und Nachtzeit erlaubt, und die Sicherheitskräfte wurden mit äußerst weitreichenden Vollmachten versehen. Die vage Formulierung von Straftatbeständen wie „Subversion“ oder „Verherrlichung des Terrorismus“ ließ viel Raum für Interpretation.
Auf die Einrichtung der Sondergerichte reagierte die Anwaltschaft mit einem einmonatigen Streik, um darauf hinzuweisen, daß die in der Verordnung festgelegten Bestimmungen die Verteidigung mundtot machten und eine unvoreingenommene Urteilsfindung verhinderten. Tatsächlich erhält der Richter durch die Artikel 24 und 31 das Recht, die Vertreter der Verteidigung vom Verfahren auszuschließen und sie nach Ermessen strafrechtlich zu belangen. In der Praxis erleben die Anwälte bei Sondergerichtsverfahren eine allgemeine Einschränkung der Rechte der Verteidigung. Sie werden de facto von der ersten Vorführung der Beschuldigten vor dem Untersuchungsrichter ausgeschlossen. Im übrigen werden die Vorladungen grundsätzlich zu spät zugestellt, so daß die Verteidiger bei der Anklageerhebung, einem entscheidenden Abschnitt für den Fortgang des Verfahrens, nicht zugegen sein können.
Auch wenn ein Beschuldigter behauptet, er sei durch Folter zum Geständnis gezwungen worden, wird – während der ???Ermittlungen wie bei der ???Eröffnung des Hauptverfahrens – seine Forderung nach einem medizinischen Gutachten systematisch zurückgewiesen. In der Verhandlung erklären dann die Richter, diese Vorwürfe könnten nicht berücksichtigt werden, weil die Prozeßunterlagen kein entsprechendes medizinisches Gutachten enthielten.
Anwälte versichern, daß selbst die auf zwölf Tage festgesetzte Dauer des Polizeigewahrsams häufig überschritten wird und daß sie an den Häftlingen immer wieder Spuren schwerer Mißhandlungen feststellen. Überdies können keine Entlastungszeugen geladen werden, nicht einmal die in der Anklageschrift genannten Zeugen erscheinen vor Gericht.
Der Versuch der Anwälte, Akteneinsicht zu bekommen oder Kontakt mit Untersuchungshäftlingen aufzunehmen, unterliegt einem enormen Aufwand. Meist wissen die Verteidiger weder wo sich der Beschuldigte befindet, noch bei welchem Gericht die Akten liegen. Im allgemeinen müssen die Verhafteten selbst einen Weg finden, ihre Familie zu benachrichtigen, zum Beispiel durch die Angehörigen von Mithäftlingen, die zu Besuch kommen. Die Anwälte wissen auch nicht, welcher Richter für das Verfahren zuständig ist, können also keinen Kontakt zu ihm aufnehmen.
Viele Anwälte sind überzeugt, daß sich die entscheidenden Vorgänge während der Voruntersuchung abspielen, wenn die Sicherheitskräfte das Sagen haben. Und dabei kommt es regelmäßig zur Überschreitung der erlaubten Haftdauer, die Mehrheit der Verhörten weist deutliche Spuren körperlicher Mißhandlung auf, Geständnisse werden erzwungen. Vor dem Untersuchungsrichter widerrufen im übrigen die meisten ihre Aussagen, aber sie bleiben grundsätzlich selbst dann in Haft, wenn sich die Anklage lediglich auf Geständnisse stützt, deren Wahrheitsgehalt sie bestreiten.
So finden die Prozesse praktisch hinter verschlossenen Türen statt. Genaugenommen ergehen dabei nur Zwischenentscheidungen – denn es werden gewöhnlich pro Tag mehrere Fälle verhandelt und zu jedem Fall gleich Dutzende von Angeklagten präsentiert. Ein Anwalt, der nicht genannt werden möchte, drückt es so aus: „In diesen Verfahren geht es nicht darum, zu einem Urteil zu kommen, sondern die Beschuldigten weiterhin in Haft zu halten, ihren Aufenthalt im Gefängnis auf unbestimmte Zeit zu legalisieren.“
Demnach kann auch der Anwalt im Prozeß nichts weiter tun, als seinem Mandanten moralischen Beistand zu leisten. Im Verfahren werden den Angeklagten ein Menge Fragen nach ihren politischen und religiösen Überzeugungen gestellt, und viele versuchen, sich zu entlasten, indem sie sich als notorische Trinker und Weiberhelden darstellen, die keinen Fuß in die Moschee setzen. In einem Land, in dem die meisten Menschen, auch wenn sie keine Islamisten sind, einen Mann lieber im Gebet als beim Trankopfer für Gott Bacchus sehen, bedeuten solche Auftritte, daß wirklich alles aus den Fugen geraten ist.
Die Vorwürfe der Anwälte und Menschenrechtsgruppen sind von den Machthabern stets mit dem Argument zurückgewiesen worden, die Sondergerichte wendeten nur das geltende Recht an, und im übrigen sei es notwendig, auf die neuen Formen der Kriminalität rasch zu reagieren. Von dieser Argumentation zeigten sich allerdings weder die Anwälte und die algerische Menschenrechtsliga noch die internationalen Organisationen überzeugt – die ihrerseits die Sondergerichte und das „Ausnahmerecht“ heftig angeprangert haben.
Seit Anfang 1995 ist diese Gerichtsbarkeit nun abgeschafft, und Anklagen wegen Terrorismus werden vor normalen Gerichten verhandelt. Die entscheidenden Bestimmungen des Gesetzes gegen den Terrorismus sind allerdings zu Teilen des Strafrechts und der Strafprozeßordnung geworden und somit erhalten geblieben. Der einzige positive Punkt: Den Richtern sind jetzt zwei Geschworene beigeordnet.
Aber im Justizwesen zeigen sich Risse. Ein Anwalt weiß von einem Fall im Landesinnern, wo gleich sechzehn Richter, ohne je vor einer Disziplinarkammer gestanden zu haben, entlassen worden sind.2 Andere sagen, der Justizapparat sei derzeit blockiert, und berichten, daß in den letzten Monaten die Ermittlungsarbeit in Strafsachen zum Erliegen gekommen sei.
In einem Interview mit La Nation hat der Rechtsanwalt Mustapha Bouchachi eine bittere Bilanz gezogen: „Ich persönlich habe den Zusammenbruch des juristischen Wertesystems und den Niedergang der Justiz als unabhängige Macht miterlebt. Ich habe miterlebt, welches Gefühl der Unterdrückung entsteht, wenn eine völlige Rechtlosigkeit vorherrscht. Es ist so, als gäbe es gewisse Entscheidungszentren, die alle Juristen dazu zwingen wollen, einer bestimmten Politik gemäß zu handeln.“3
Solange es keine politische Lösung der Krise gibt und die Auseinandersetzungen andauern, wird es kaum möglich sein, das seit Januar 1992 verlorene Terrain zurückzugewinnen. Der neue Staatspräsident Liamine Zéroual, der am 16. November vergangenen Jahres gewählt wurde, hat die Justiz aufgefordert, sich von der Idee der „Barmherzigkeit“ (rahma) leiten zu lassen, und dazu ein Dekret erlassen, das eine entsprechende Strafzumessung für die Reumütigen ermöglicht. Aber da keine politischen Anstrengungen zu einer nationalen Versöhnung unternommen werden, dürfte das ein frommer Wunsch bleiben. Das einzige, was die Justiz derzeit tun kann, ist, an einer Wiedereinführung eines wirklichen Rechtsstaates mitzuarbeiten, von dem alle behaupten, daß sie ihn anstreben.
dt. Edgar Peinelt
1 „Propos d'un avocat“, La Nation (Algier), Nr. 95, 11.-17. April 1995.
2 Ebd.
3 Ebd.