12.04.1996

„Broadloids“: Englische Schlachtplatte

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„Broadloids“: Englische Schlachtplatte

Von

Patrice

De Beer

MIT einer durchschnittlichen Auflage von vierzehn Millionen und drei bis vier Lesern pro Exemplar liegt die britische Tagespresse, laut Roy Greenslade, ehemals Journalist bei Daily Mirror und Sunday Times, bei einer Leserzahl, die etwa der Zahl der Bevölkerung im Erwachsenenalter entspricht. Was die Auflage betrifft, so stehen die „Tabloids“ am besten da. Natürlich kann man deren Vulgarität, das ständige Suchen nach Skandalen kritisieren, aber ihr Erfolg läßt sich nicht leugnen. „Und vor allem“, so gesteht Alan Rusbridger, der neue Direktor des Guardian, „sind die Tabloids immer vulgärer geworden, und die seriösen Zeitungen [englisch: broadsheet oder Großformat] haben sich den Tabloids angepaßt.“ Daher kommt das Wort broadloids, womit die neue Generation seriöser Zeitungen bezeichnet wird, die immer mehr Beilagen im Tabloidformat, Kommentare, Rückblicke und so weiter produzieren, um immer mehr junge, konsumorientierte Leser und damit Werbung anzulocken.

Die Presse hat sich ähnlich wie die Eisenbahn entwickelt: Es ging darum, daß jeder Haushalt jeden Morgen seine Zeitung bekommt. Dann gab es die Kulturrevolution von Wapping. So heißt jener Vorort von London, wohin der Medienmogul Rupert Murdoch mit Hilfe von Margaret Thatcher am 26. Januar 1986 die Druckerei der Times verlegte, um die Druckergewerkschaft zu zerschlagen. Seine Strategie, die auch von seinen Rivalen verfolgt wurde, hat es der Tagespresse erlaubt, die Kosten entscheidend zu senken und ins Computerzeitalter zu wechseln. Gleichzeitig überschwemmten die Zeitungsverleger den Markt mit Aktien der Agentur Reuter, an der sie beteiligt waren. Die somit gewonnenen Milliarden dienten zur Modernisierung, zum Kampf gegen den von den Gewerkschaften ausgeübten Druck und zum Ausgleich der sinkenden Einnahmen. Der Guardian konnte sich so ein gutes Kapitalpolster zulegen, das ihm eine beachtliche Expansion erlaubte.

„Man hatte geglaubt, daß die Zeitungen wieder Geld verdienen würden, wenn sie die Druckergewerkschaft los sind“, gesteht Roy Greenslade. „Tatsächlich sind sie dabei zu kurz gekommen: Die eingesparten 15 bis 20 Prozent gestatteten natürlich Riesenprofite, die aber schnell in den Multimediamarkt investiert worden sind, wodurch gewaltige Konzerne entstanden“, in denen die Zeitungen nur eine Sparte unter vielen sind. Der wichtigste Konzern ist News International von Rupert Murdoch. Seine beiden englischen Aushängeschilder sind die Times (650000 Auflage) und The Sun (4 Millionen, die höchste Auflage). Ihm wird so viel Macht zugeschrieben, daß man sagen konnte, es sei unmöglich, eine Wahl gegen ihn zu gewinnen. The Sun, bekanntermaßen reaktionär und ausländerfeindlich, hat kürzlich einen „Linksschwenk“ vollzogen und zeigt nun für den neuen Labour-Chef Tony Blair genausoviel Verständnis wie ihr Eigentümer selbst auch. Die Times bleibt dagegen stockkonservativ, ist aber heute nicht mehr das große Renommierblatt.

Dadurch, daß nun mehrere Blätter eines Konzerns in derselben Druckerei hergestellt werden, konnten die Herstellungskosten fühlbar gesenkt werden. Solide Finanzen, ein beeindruckendes Einkommen aus dem Anzeigengeschäft und eine hohe Auflage haben es den Tageszeitungen erlaubt, sich in einen wilden Preiskrieg zu stürzen. Murdoch hat im September 1993 die Feindseligkeiten eröffnet, als er den Preis der Times von 45 auf 20 Pence heruntersetzte, um neue Leser anzulocken. „Alle, auch ich, dachten, er spinnt. Und dennoch hat er die Auflage der Times steil nach oben gedrückt“ (158000 Exemplare mehr in einem Jahr), muß Roy Greenslade anerkennen. Erst der Höhenflug des Papierpreises hat diesen Krieg unterbrochen.1 Der Independent hingegen, der vor zehn Jahren gegründet worden war, um die Unabhängigkeit von Information und Journalisten zu gewährleisten, hat diese Krise nicht überlebt und gehört heute zur Mirror-Gruppe.

dt. Christophe Zerpka

1 The Sun wird für 22 Pence verkauft, der Daily Telegraph und der Independent kosten 40 Pence, der Guardian 45 Pence und die Financial Times 65 Pence. Ein Pfund (100 Pence) entspricht etwa 2,40 Mark.

Le Monde diplomatique vom 12.04.1996, von Patrice de Beer