Bosniens heimliche Machthaber
ERWARTUNGSGEMÄSS stößt die Umsetzung des Abkommens von Dayton auf ernstliche Schwierigkeiten. Zwar ist die Wiedervereinigung von Sarajevo am 19. März abgeschlossen worden, doch war sie von einem Exodus der serbischen Bevölkerung begleitet. Noch hat die Muslimisch-Kroatische Föderation keine Gestalt gewonnen, und die Zukunft von Mostar ist ungewiß. Was sich derzeit vor Ort vollzieht, ist eine faktische Teilung. Bis zu den für September anberaumten Wahlen lebt Bosnien unter westlicher Verwaltung. Und der Wiederaufbau des Landes weckt mancherlei Begehrlichkeiten ...
Von MICHEL CHOSSUDOVSKY *
Während die bewaffneten Streitkräfte der Nato in Bosnien damit befaßt sind, das Abkommen von Dayton umzusetzen, beschreiben Medien und Politiker die westliche Intervention einmütig als eine noble – wenn auch tragisch späte – Antwort auf die ethnisch begründeten Massenmorde und die Menschenrechtsverletzungen. Doch verschleiert diese Auffassung der Dinge eine Reihe von Faktoren, insbesondere die strategischen Interessen Deutschlands und der Vereinigten Staaten sowie die Rolle der ausländischen Gläubiger und internationaler Finanzinstitutionen, die nicht unwesentlich zum Auseinanderbrechen Jugoslawiens beigetragen haben.1
Die Westmächte sind durchaus mitverantwortlich für die Verarmung und die schließliche Zerstörung dieser vierundzwanzig Millionen Menschen zählenden Nation. Die Reformen, die dem ehemaligen Jugoslawien von den Kreditgebern Belgrads aufgezwungen worden waren und die seit Beginn der achtziger Jahre schrittweise umgesetzt wurden, hatten ausgesprochen verheerende Folgen für das wirtschaftliche und politische Leben.
In einer Sicherheitsdirektive von 1984 (NSDD 133) mit dem Titel „Die amerikanische Politik in Jugoslawien“ hatte die Reagan-Regierung die jugoslawische Ökonomie trotz der politischen Blockfreiheit Belgrads und ungeachtet seiner intensiven Wirtschaftsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten und der Europäischen Gemeinschaft als „hochsensibel“ eingestuft. Eine zensierte Fassung dieses Dokuments, das erst 1990 in den Papierkorb wanderte, lehnte sich stark an eine vorangegangene Direktive aus dem Jahre 1982 über die nationale Sicherheit in Osteuropa (NSDD 4) an. Sie redete „verstärkten Anstrengungen“ das Wort, um mittels Wiedereingliederung dieser Länder in den Weltmarkt „eine sanfte Revolution auszulösen und den Umsturz von kommunistischen Regierungen und Parteien herbeizuführen“.2
Die unter dem Druck der internationalen Kreditgeber verwirklichten Reformen führten in der Tat zum Verfall des Industriesektors und zum Abbau der sozialen Errungenschaften. In rasantem Tempo sank das Industriewachstum auf 2,8 Prozent für den Zeitraum 1980 bis 1987, dann, in den Jahren 1987 bis 1988, auf null, bis es schließlich 1990 einen Tiefstand von minus 10,6 Prozent erreichte.
1989 versprach Washington dem damaligen Premierminister Ante Marković eine bedeutende Finanzhilfe, wenn im Gegenzug Wirtschaftsreformen durchgeführt würden: eine neue und abgewertete Währung, Einfrieren der Löhne, deutliche Reduzierung der Staatsausgaben und Abschaffung der selbstverwalteten Betriebe, die Eigentum der Arbeitnehmer waren3. Die so gewonnenen Einnahmen des Bundes dienten allerdings dazu, Schuldzinsen beim Pariser und Londoner Club (den informellen Zusammenschlüssen der jeweiligen Geschäftsbanken) zu begleichen, statt in die Republiken zurückzufließen, die wirtschaftlich sich selbst überlassen blieben. Damit zerstörten die Reformer die fiskalische Struktur des Bundesstaates und versetzten zugleich seinen politischen Strukturen den Todesstoß. Denn die Finanzkrise, deren Verursacher der Internationale Währungsfonds (IWF) war, schuf wirtschaftlich eine „vollendete Tatsache“, die die Abspaltung Kroatiens und Sloweniens im Juni 1991 teilweise vorbereitete.4
1989 wurde zudem mit Hilfe westlicher Berater ein „Konkurs-Programm“ in die Wege geleitet, dessen Ziel die Liquidierung der maroden Unternehmen war. In weniger als zwei Jahren verschwanden mehr als tausend Betriebe, und zwar in erster Linie solche im Elektronikbereich, in der Ölraffinerie, dem Maschinenbau, dem Engineering und der chemischen Industrie, die als gesellschaftliches Eigentum in den Händen der Beschäftigten waren. Damit einher gingen Einbrüche im Lohn-, Sozial- und Beschäftigungsbereich, was in der Bevölkerung ein Klima der Hoffnungslosigkeit schürte.
Die Wirtschaftsreformen, die man nun den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien auferlegt hat, sind offensichtlich die Fortsetzung jener Reformen, die noch zu bundesstaatlichen Zeiten in Gang gebracht wurden. Vor dem Hintergrund eines brutalen und zerstörerischen Krieges waren die Aussichten auf einen Wiederaufbau für die jungen unabhängigen Republiken mehr als düster. Die Neuverhandlung der Schuldenfrage war – was von den Medien nahezu gänzlich unterschlagen wurde – wesentlicher Bestandteil der Friedensbemühungen. Die Neuaufteilung des ehemaligen Jugoslawien fand unter dem wachsamen Auge seiner Gläubiger statt und ging mit der Schuldenaufteilung unter den neuen Republiken einher.5
Während noch die Waffen sprachen, nahmen Kroatien, Slowenien und Makedonien bereits Verhandlungen mit den Institutionen von Bretton Woods auf. Das 1993 von der Regierung Tudjman unterzeichnete Abkommen mit dem IWF, das zu massiven Haushaltskürzungen verpflichtet, wirkte den kroatischen Bemühungen entgegen, die landeseigenen Produktivkräfte zu mobilisieren, und setzte dadurch den Wiederaufbau der kriegszerstörten Wirtschaft aufs Spiel. Für diesen Wiederaufbau werden schätzungsweise 23 Milliarden Dollar benötigt, die zwangsläufig eine neue Auslandsverschuldung erforderlich machen. Ohne eine Umverteilung seiner Schulden würde allein die Tilgung der jetzigen Außenstände für Zagreb über Jahrzehnte hinweg eine ungeheure Belastung darstellen.
Um weitere Kredite zu erhalten, stimmte also die kroatische Regierung zusätzlichen Reformen zu, die erneut Schließungen von Betrieben und drastische Lohnkürzungen nach sich zogen. So stieg die offizielle Arbeitslosenrate von 15,5 Prozent 1991 auf 19,1 Prozent im Jahre 1994.6 Darüber hinaus wurde ein Gesetz verabschiedet, das in Konkursfällen ein wesentlich rigideres Vorgehen vorsieht und die Aufteilung der großen staatlichen Dienstleistungsbetriebe härter voranzutreiben erlaubt.7
Makedonien ging denselben Weg. Seine Regierung willigte im Dezember 1993 ein, die Löhne zu senken und die Kredite einzufrieren, um zur Unterstützung der „Systemtransformation“ vom IWF Kredite zu erhalten. Indes wurde das Geld nicht dazu verwendet, den „Wiederaufbau“ zu finanzieren, sondern um Skopje die Tilgung von Rückständen bei der Weltbank zu ermöglichen. Wie sein kroatischer Amtskollege mußte auch Branko Crvenkovski im Gegenzug für eine Umschuldung sogenannte „Konkursbetriebe“ schließen und „überschüssige“ Arbeitskräfte – das heißt die Hälfte aller in der Industrie Beschäftigten! – entlassen. Auch hier ist die IWF-Therapie nur die Fortsetzung des 1989 noch zu Zeiten der Bundesrepublik Jugoslawien lancierten „Konkurs-Programms“. Finanzminister Ljube Trpevski vergißt die Sparpolitik und die Einschnitte in den öffentlichen Dienstleistungen wie etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich, wenn er vor der Presse stolz erklärt, daß „die Weltbank und der IWF Makedonien zu den Ländern zählen, die bei den derzeitigen Übergangsreformen die besten Erfolge erzielt haben“. Der IWF seinerseits hat die makedonische Regierung zu ihrer „wirksamen Lohnpolitik“ beglückwünscht.8
Kostspieliger Wiederaufbau
AUCH in Bosnien, wo die Nato-Truppen über einen bedrohten Frieden wachen, hat der Westen inzwischen die Karten auf den Tisch gelegt und ein „Wiederaufbauprogramm“ vorgestellt, das dem Land jede wirkliche politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit verweigert. Sein erklärtes Ziel: Bosnien-Herzegowinas wirtschaftliche Entwicklung als ein unter Nato-Besatzung und westlicher Verwaltung aufgeteiltes Territorium.
Auf der Grundlage des Abkommens von Dayton vom November 1995 bauen die USA und die Europäische Union eine ausländische Verwaltung in Bosnien auf. An deren Spitze steht der Jugoslawien- Beauftragte der EU, Carl Bildt, ehemaliger schwedischer Ministerpräsident und Vertreter der EU bei den Friedensverhandlungen. Er besitzt die Entscheidungsvollmacht in allen zivilen Fragen und das Recht, sich über Einwände der Muslimisch-Kroatischen Föderation und der Republik Srpska der bosnischen Serben hinwegzusetzen. Er handelt in enger Absprache mit dem Oberkommando der Ifor- Truppen und den Kredite gewährenden Organisationen. Überdies wurde eine internationale zivile Polizei geschaffen, die ein von UN-Generalsekretär Butros Ghali ernannter Kommissar – ein Exiljugoslawe – befehligt. Die 1700 Polizisten aus 15 Ländern sind, nach einer nur fünftägigen Ausbildung in Zagreb, mehrheitlich zum ersten Mal auf dem Balkan.
Die parlamentarische Versammlung, die gemäß der im Dayton-Abkommen vorgesehenen Verfassung bereits ins Leben gerufen wurde, dient vor allen Dingen als „offizieller Puffer“. Hinter dieser institutionellen Fassade bleibt die politische Macht im neuen Bosnien in den Händen einer „Parallelregierung“, die aus dem Jugoslawien-Beauftragten und seinen ausländischen Beratern besteht. Artikel 7 des Verfassungsentwurfs sieht vor, daß der Erste Gouverneur der Zentralbank vom IWF ernannt wird und „weder Staatsbürger Bosnien-Herzegowinas noch eines Nachbarstaates sein kann“. Derselbe Artikel erklärt, daß die Zentralbank nicht das Recht hat, als eine Zentralbank zu handeln: „Während sechs Jahren (...) kann sie keine Kredite mit dem Effekt der Geldschöpfung vergeben, sondern in dieser Hinsicht nur als einfache Emissionsbank fungieren.“ Kurz, wie für die anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist auch für Bosnien-Herzegowina die Möglichkeit von Anfang an begrenzt, den Wiederaufbau ohne eine stark anwachsende Auslandsverschuldung selbst zu finanzieren.
Die Aufgaben, die mit der Verwaltung der bosnischen Wirtschaft verknüpft sind, wurden sorgfältig unter den Geberorganisationen aufgeteilt. Der IWF überwacht die Zentralbank, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung steht an der Spitze der Kommission der öffentlichen Unternehmen, die sämtliche Geschäfte aller Betriebe des öffentlichen Sektors führt: Energie- und Wasserversorgung, Post, Straßen- und Eisenbahnwesen und so weiter.
Der Präsident derselben Bank für Wiederaufbau und Entwicklung benennt zugleich den Vorsitzenden der Kommission, die im übrigen auch mit der Umstrukturierung des öffentlichen Sektors beauftragt ist – also mit dem Verkauf der Staatsbetriebe sowie jener Unternehmen, die gesellschaftliches Eigentum sind – und mit der Beschaffung von langfristigen Investitionsmitteln.
Eine merkwürdige Verfassung: Westliche Kreditgeber verfassen auf die Schnelle ein Dokument, das ihre eigenen Interessen schützt, indem es Personen, die keine bosnischen Staatsbürger, sondern Vertreter westlicher Finanzinstitutionen sind, ausführende Funktionen im Staatsapparat zuschanzt; keine konstituierende Versammlung und keine Absprachen mit Organisationen der Bürger von Bosnien- Herzegowina; keine Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde ...
Nach Auskunft der bosnischen Regierung werden sich die Kosten des Wiederaufbaus auf 47 Milliarden Dollar belaufen. Die Weltbank und die Europäische Union haben sich verpflichtet, in den nächsten drei bis vier Jahren 5 Milliarden Dollar bereitzustellen, davon 500 Millionen als Soforthilfe. Doch am 20. Februar 1996 warf Carl Bildt dem Westen vor, bis dahin erst 250 Millionen Dollar angewiesen zu haben. Die Frage wird bei der erneuten Sonderkonferenz über Bosnien, die für den 12. April in Brüssel geplant ist, auf der Tagesordnung stehen. Dort könnte eine Freigabe der ausstehenden 250 Millionen Dollar und eine Zusage über wenigstens 1,3 Milliarden für die kommenden zwölf Monate erreicht werden.
Doch haben die Vereinigten Staaten ihren Anteil auf maximal 600 Millionen Dollar für die nächsten drei Jahre festgeschrieben und die EU den ihren auf 1 Milliarde.9 Man ist von dem ursprünglichen Betrag also noch weit entfernt, zumal man weiß, daß nach dem Abkommen von Dayton ein Teil dieser Gelder dazu dienen soll, die vor Ort anfallenden Kosten für die Aufstellung der Ifor-Truppen zu decken sowie Schuldenrückstände bei den internationalen Kreditgebern zu tilgen.10
Um es offen zu sagen: Die Regierungen und Unternehmen der westlichen Staaten interessieren sich auch für die natürlichen Ressourcen Bosniens – für die vorhandenen wie die potentiellen. Glaubt man den Unterlagen, welche sowohl die bosnischen Kroaten als auch die bosnischen Serben in Händen halten, so wurden unter den östlichen Hängen des Dinarischen Gebirges Kohle- und Ölvorkommen entdeckt. Es handelt sich um jene Gegend, aus der die kroatische Armee während der Kämpfe in der Krajina, die vor dem Abkommen von Dayton stattfanden, die aufständischen bosnischen Serben vertrieb.11 Bosnische Beamte weisen auch darauf hin, daß sich unter den ausländischen Gesellschaften, die in Bosnien Bohrungen vorgenommen haben, der amerikanische Ölkonzern Amoco befindet. Schließlich soll es „bedeutende Erdölvorkommen in dem Teil Kroatiens geben, der von den Serben gehalten wird, nämlich am anderen Ufer des Flusses Sava in der Region von Tuzla“12, also im Umkreis jener Stadt, in der das Hauptquartier der amerikanischen Militärzone eingerichtet wurde.
dt. Eveline Passet
1 Vgl. Sean Gervasi, „Germany, US and the Yugoslav Crisis“, Covert Action Quarterly, Nr. 43, Winter 1992-1993.
2 Sean Gervasi, ebd.
3 Im Rahmen der „Sozialistischen Marktwirtschaft“ gab es in der jugoslawischen Wirtschaft neben den Staatsbetrieben eine Großzahl von Unternehmen, die einem Arbeiter- oder Angestelltenkollektiv gehörten. Diese Form des „gesellschaftlichen Eigentums“ darf nicht verwechselt werden mit dem „Staatseigentum“.
4 Vgl. Catherine Samary, „La Yougoslavie à l'épreuve du libéralisme réellement existant“, Le Monde diplomatique, Juli 1991, und Michel Chossudovsky, „Global Poverty“, Penang (Third World Network) und London (Zed Press) 1996.
5 Im Juni 1995 hatte der IWF die Aufteilung der Schulden Jugoslawiens in Höhe von 10 Milliarden Dollar nach folgendem Schlüssel vorgeschlagen: Serbien und Montenegro sollten sich verpflichten, 36,52 Prozent der Schulden zu übernehmen, Kroatien 28,49 Prozent, Slowenien 16,39 Prozent, Bosnien-Herzegowina 13,2 Prozent und Makedonien 5,4 Prozent (vgl. Le Monde, 10. Februar 1996).
6 Vgl. „Zagreb's About Turn“, The Banker, London, Januar 1995, S. 38.
7 Diese „Reform durch Zergliederung“ in Osteuropa läßt sich nachlesen in Esra Benathon und Louis S. Thompson, „Privatisation Problems at Industry Level. Road Haulage in Central Europe“, World Bank Discussion Paper, Nr. 182, Weltbank, Washington, Kapitel 3.
8 Macedonian Information and Liaison Service, MILS News, 11. April 1995.
9 International Herald Tribune, 20. Februar 1996.
10 Nach dem Abkommen zwischen der Republik Bosnien-Herzegowina und der Nato entrichtet das Nato-Personal keine Steuern. Außerdem wird ein Teil seiner vor Ort entstehenden Kosten von der bosnischen Regierung gedeckt: „Die Regierung der Republik Bosnien-Herzegowina stellt kostenfrei die Einrichtungen zur Verfügung, die die Nato für die Vorbereitung und Durchführung ihrer Operation benötigt.“
11 Frank Viviano und Kenneth Howe, „Bosnia Leaders Say Nation Sits Atop Oil Fields“, The San Francisco Chronicle, 28. August 1995.
12 Frank Viviano und Kenneth Howe, ebd.
* Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität von Ottawa.