12.04.1996

Die Würde der Dinge

zurück

Die Würde der Dinge

Von

JOHN

BERGER *

EINES seiner jüngsten Gemälde heißt „Der Aal“. Es zeigt ein Atelier: Pinsel in Gläsern abgestellt, eine große schlanke Frau, nackt daliegend, ein Aal im Kugelglas, auf einem Tisch inmitten verstreuter Skizzen. Eine andere seiner Arbeiten heißt „Die Sintflut“, und auf dem Bild „L'Amour fou“ hat das Meer eine Bibliothek überschwemmt. Beim Gang durch eine Galerie mit den Bildern von Miquel Barceló1 hat der Besucher das Gefühl, sich unter Wasser zu bewegen. Barceló ist ein Wassermaler. Selbst wenn er eine afrikanische Wüste abbildet, macht er dem Betrachter bewußt, daß die weiße Fläche einmal – vor Ewigkeiten oder erst vor wenigen Sekunden – von Wasser glattgewalzt und zerstäubt worden ist.

In seiner Kunst bedeuten Wassermassen, wie auf der Erde, zugleich Überfluß und Unheil, Erlösung und Tod, Anfang und Ende. In einem alten Notizbuch entdeckte ich neulich ein Gedicht, das ich geschrieben habe, als ich noch keine zwanzig war:

Wenn die Seefahrer über diesem Hügel ihr Lot absenken,

Um festzustellen: das Meer hier ist seicht,

Was wird dann mit meinen Magnolien geschehen?

Ein ozeanisches Gefühl wie dieses mag mit romantischer Revolte und jugendlicher Sexualität zu tun haben, doch hier, in den Gemälden von Barceló, ist es weder sentimental noch (wie in meinem Gedicht) nostalgisch. Das Ozeanische dieser drei Gemälde hat mit einem historisch viel präziseren und drängenderen Gefühl zu tun, hat eine viel größere Notwendigkeit.

1994 notierte Miquel Barceló folgenden Satz: „Einen gehäuteten Ochsen zu malen ist wieder wichtig geworden. Wie zu früheren Zeiten, aber anders als je zuvor. Nicht wie die Römer Essen malten, nicht wie Rembrandt, nicht wie Soutine oder Bacon, nicht wie Beuys – nein, unversehens ist die Möglichkeit, derartiges zu malen, etwas Dringendes, Notwendiges, Wesentliches geworden: Blut und Schlachtopfer... Aber dasselbe würde auch mit einem Apfel, mit einem Gesicht funktionieren. Man muß diese Dinge, eines nach dem anderen, aus der klebrigen Welt der Berlusconis zurückholen und sie wieder neu, frisch und rein machen, muß sie in ihrer pochenden Lebendigkeit zeigen, oder in ihrer süßlichen Verwesung.“

Der Hinweis auf Berlusconi ist entscheidend. Rund um die Erde ersetzt das Netz der Medien tagtäglich die Realität durch Lügen. Nicht in erster Linie politische oder ideologische Lügen, sondern visuelle, körperhafte Lügen über die Stoffe, aus denen das menschliche und natürliche Leben eigentlich besteht. All diese Lügen klumpen sich zu der gigantischen falschen Botschaft zusammen: der Grundannahme, daß das Leben selbst eine Ware sei und daß die Menschen, die sich diese Ware leisten können, per definitionem auch diejenigen seien, die sie rechtmäßig besitzen. Die meisten von uns wissen, daß das falsch ist; aber nur sehr wenige der Bilder, die man uns vorsetzt, bestärken uns in unserem Widerstand. Bis wir eines Tages vielleicht einem Gemälde von Barceló begegnen.

Stellt euch vor, die stoffliche, dingliche Welt (Tomaten, Regen, Vögel, Steine, Melonen, Fische, Aale, Termiten, Mütter, Hunde, Schimmel, Salzwasser) würde auf einmal gegen den endlosen Strom der Bilder rebellieren, die Lügen über sie verbreiten und aus denen sie nicht ausbrechen können. Stellt euch vor, wie sie protestierend ihre Befreiung von jeder grammatikalischen, digitalen und bildlichen Manipulation einfordern, stellt euch einen Aufstand des Abgebildeten vor!

Genau das ist es, was auf diesen Gemälden passiert. Sie hören der Revolte dessen zu, was körperhaft, was sterblich ist. Angesichts der Sintflut konsumistischer Clichés ohne Substanz und der Behauptung, der menschliche Geist äußere sich im Streben nach Profit, öffnen sie dem elementaren Fluß von Leben und Tod ihre Schleusen.

In der künstlerischen Produktion ist ökologische Propaganda freilich auch nicht besser als jede andere. Und so liegt das Geheimnis dieser Gemälde nicht in ihrer Aussage, sondern in der Art, wie sie zuhören. Sie hören auf den Einspruch jedes einzelnen gemalten Gegenstandes gegen sein Abgebildetwerden, dagegen, daß er verwertet und als Lüge benutzt wird. Die Gemälde hören diesen Protest und setzen ihn in eine empfindsame Bildsprache um.

Ich will einige der Techniken aufzählen, mit denen dieser Protest arbeitet und auf die Barcelós Malerei interpretatorisch zurückgreift. Da ist zunächst der Kunstgriff, auf einen Rahmen zu verzichten: Die gemalten Gegenstände geben die Mitte auf und bewegen sich auf den Bildrand zu.

Da ist die Weigerung, sich auf einen Farbfleck reduzieren zu lassen: Der gemalte Gegenstand wirft sich auf zu einer dreidimensionalen Masse, oder er schafft in seinem Innern eine Höhlung, so daß man in die entstandene Vertiefung, wenn die Leinwand auf dem Boden liegen würde, ohne weiteres einen Löffel stellen könnte.

Da ist die Ablehnung von billigen Etiketten: Ein blauer Fisch zerlegt sich in neun Stücke, um sich über die gesamte Bildoberfläche zu verteilen.

Da sabotieren die gemalten Dinge alles, was gefällig wirken und Vollständigkeit vortäuschen könnte: Die gemalten fleischlichen Körper haben sich mit Fasern und Haaren ausgestopft.

Und da sind schließlich die permanenten Anschläge der gemalten Dinge gegen jede einheitliche Räumlichkeit oder Perspektive: Ein Gegenstand wird zu einer Wolkenspiegelung, ein Himmel wird umgerührt wie Suppe, oder ein Stück Erdboden im Regen erscheint so dünn und zerbrechlich wie eine dreckverschmierte Fensterscheibe.

Keines der von Barceló gemalten Dinge will seine Seele aufgeben und zum schlichten Abbild werden. Dem Maler ist das bewußt: „Ich muß das, was ich male, dicht bei mir haben, auf dem Gemälde, muß es riechen, muß es anfassen. Indem ich etwa Melonenschalen als Spachtel benutze, wenn ich Melonen male, und so ihren Saft mit der Farbe vermische.“

Das alles könnte ziemlich beliebig ausfallen. Das Risiko ist beträchtlich, und Barceló genießt das Risiko. Aber sein Werk bleibt kohärent. Ich kann nicht erklären warum, so wenig wie ich erklären kann, warum ein Bienenschwarm stets irgendwie eine Symmetrie aufweist.

Angesichts der Ausstellungen muß ich an Chaim Soutine denken, nicht weil ich auf kunstgeschichtliche Vergleiche aus wäre, sondern weil ich – indem ich mir beide Maler vor Augen führe – klarer erkenne, was sich im Lauf der letzten fünfzig Jahre in der Welt verändert hat. Auch Soutine hörte intensiv auf den Willen des Gemalten, und seine Empörung erfüllte seine Kunst mit Pathos und Leiden. Bei Barceló gibt es kein Pathos, sondern nur noch den Willen des wimmelnden, pulsierenden Materials des Universums, Widerstand zu leisten! Und in diesem Widerstand liegt Hoffnung. Eine Hoffnung, die wir verzweifelt zu entziffern versuchen.

Subcomandante Marcos, der Führer der aufständischen Zapatisten im Süden Mexikos, hatte mit seinen vor einigen Wochen geäußerten Worten dasselbe im Sinn: „Die Internationale der Hoffnung. Nicht die Bürokratie der Hoffnung, nicht einfach das Gegenteil dessen und somit dasselbe wie das, was uns zerstört. Nicht Macht mit neuen Insignien oder neuen Kleidern. Sondern ein erster Hauch wie dieser, die erste Ahnung von Würde. Eine Blume, ja, die Blume der Hoffnung. Ein Lied, ja, das Lied des Lebens.“

dt. Niels Kadritzke

1 Die drei Ausstellungen von Miquel Barceló in Paris sind zu sehen in der Galerie Lucie Weill-Seligmann (bis zum 6. April), im Centre Georges Pompidou (bis zum 29. April) und in der Nationalgalerie des Jeu de paume (bis zum 28. April 1996).

* Englischer Schriftsteller.

Le Monde diplomatique vom 12.04.1996, von John Berger