Lehrstück Quebec
Von IGNACIO RAMONET
QUEBEC ist ein Lehrstück, das in mehreren Regionen der Europäischen Union – in Schottland, Flandern, dem Baskenland, Korsika, der Lombardei etc. – mit großem Interesse verfolgt wird. Seit Jahrzehnten schon fordert die Provinz in demokratischem Rahmen Souveränität und die Unabhängigkeit von Kanada. Und das in einem geopolitischen Kontext, der sich mittlerweile durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) zwischen Kanada, den Vereinigten Staaten und Mexiko verändert hat.
Bei jedem Integrationsvorhaben werden gemeinsame Regeln aufgestellt, die die Souveränität der einzelnen Staaten beschneiden. Weil die Entscheidungszentren in größere Entfernung rücken, läßt in den einzelnen Staaten der nationale Zusammenhalt nach. Das kann bis zum Zerfall ihrer Einheit gehen, besonders dann, wenn die Staaten selbst aus Teilen bestehen, die kulturelle (vor allem sprachliche) Unterschiede aufweisen. Es ist, als ob die Fusion zahlreiche Kernspaltungen hervorriefe.
Das Unabhängigkeitsstreben in Quebec vollzieht sich vor dem Hintergrund der Globalisierung. Auch die Deregulierung, zu der die globale Marktwirtschaft führt, zwingt die Staaten, auf Teile ihrer Hoheitsgewalt zu verzichten. Den Regierungen werden wichtige Entscheidungsbefugnisse entzogen, und ohne Rücksicht auf lokale Besonderheiten setzen sich überall die gleichen wirtschaftlichen Vorgehensweisen durch. Was wird in einem solchen Kontext aus der nationalen Frage?
Sechs Monate nach dem Referendum vom 30. Oktober vergangenen Jahres und der sehr knappen Niederlage der Anhänger eines unabhängigen Quebec (49,4 Prozent der Stimmen) steht diese Frage noch immer auf der Tagesordnung. Lucien Bouchard, seit dem 29. Januar dieses Jahres Premierminister, hat kürzlich daran erinnert, daß seine Parti Quebecois, die seit 1994 an der Regierung ist, nach wie vor die Souveränität von Quebec anstrebt, das Gesetz ihm jedoch untersagt, innerhalb einer Legislaturperiode ein weiteres Referendum zu dieser Frage durchzuführen. Schon jetzt aber besagen die Meinungsumfragen, daß eine Mehrheit von 55 Prozent sich für die Unabhängigkeit aussprechen würde und davon wiederum 75 Prozent sie für „unausweichlich“ halten.
In Ottawa scheint der kanadische Premierminister Jean Chrétien entschlossen, den Föderalismus zu überdenken und endlich den „Sondercharakter“ Quebecs anzuerkennen. Andere Föderalisten erweisen sich hingegen als schlechte Verlierer und schrecken nicht davor zurück, unter dem Motto „Wenn Kanada teilbar ist, dann auch Quebec“ einer Aufteilung von Quebec das Wort zu reden. So soll nur denjenigen Wahlbereichen die Unabhängigkeit gewährt werden, in denen die Jastimmen überwogen, um auf diese Weise das Recht der anglophonen Bewohner auf weitere Zugehörigkeit zu Kanada zu wahren.
Überdies ermutigen sie die autochthone Bevölkerung (Inuit und Indoamerikaner), die eine weitgehende Autonomie genießen, riesige Gebiete innehaben und „unter dem Schutz“ der Bundesregierung stehen, ihrerseits die Unabhängigkeit zu fordern: Quebec würde damit reduziert auf „eine wurstförmige Region aus einigen Bauernhöfen zwischen Ost-Montréal und Quebec-Stadt“.1
SOLCHE Ideen zeugen von Verantwortungslosigkeit und haben überall, wo sie umgesetzt wurden, von Nordirland bis zum Kaukasus, endlose Kriege ausgelöst. Und wie kann Kanada gegenüber Quebec ein Prinzip anwenden, das es im ehemaligen Jugoslawien verurteilt hat, als der serbische Präsident Milošević nach derselben Formel – „Wenn Jugoslawien teilbar ist, dann ist Bosnien es auch“ – die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas betreiben wollte?
Wie man sieht, hat das Referendum vom vergangenen 30. Oktober nichts geklärt. Wegen der angeblichen „Instabilität“ verlagern zahlreiche Firmen, die dem Autonomieprojekt ablehnend gegenüberstehen, ihren Sitz nach Toronto und Ontario und verschlimmern damit die Wirtschaftskrise in Quebec, wo die Arbeitslosenrate schon jetzt 11,3 Prozent beträgt.2
Um dem zu begegnen, hat Lucien Bouchard für den 18. bis 20. März eine Konferenz über die ökonomische und soziale Zukunft von Quebec organisiert, auf der Politiker, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften zusammentrafen. Eine grundlegende Modernisierung der Parti Quebecois steht an, die nun auch vom sozialdemokratischen Weg auf die neoliberale Richtung umschwenken soll. „Der Grundlagenvertrag unserer Gesellschaft hat sich überlebt. Er muß neu erfunden werden“, heißt es gleich zu Beginn im Grundsatzpapier der Konferenz3, und weiter: „Aufgrund der gewachsenen gegenseitigen ökonomischen Abhängigkeit kann Quebec nicht länger ignorieren, daß bei seinen Wirtschaftspartnern auf dem nordamerikanischen Kontinent die Rolle des Staats und seiner Eingriffsmöglichkeiten in Frage gestellt wird.“
Vorrangig soll das Haushaltsdefizit in vier Jahren auf null reduziert und die Schuldenlast (74 Milliarden kanadische Dollar) verringert werden. Diese Prioritäten werden, zumindest in der Anfangszeit, Auswirkungen auf die Beschäftigung sowie auf den öffentlichen Dienstleistungsbereich haben und die Leistungen des Wohlfahrtsstaates einschränken. Heftige Proteste der Beschäftigten sowie eine Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind zu erwarten.
Wird das Autonomieprojekt dadurch in Gefahr geraten? Weniger, als man meinen könnte, denn im Zuge der Globalisierung bedeutet es sowohl Abspaltung als auch Integration. Eine Abspaltung von Kanada, um sich mit ihm auf einer Basis der Eigenständigkeit besser als bisher zu verbinden: in einer ökonomischen Partnerschaft, die sich auch auf die Vereinigten Staaten und Mexiko erstreckt.
Im Zeitalter des Liberalismus ist auch der Nationalismus nicht mehr das, was er einmal war.
1 Le Devoir, Montréal, 2. Februar 1996.
2 Le Soleil, Quebec, 19. März 1996.
3 „Un Québec de responsabilité et de solidarité“, Regierung von Quebec, März 1996, 50 Seiten.