Wenn der bewaffnete Kampf zum Selbstzweck wird
■ Am 1. März dieses Jahres strich US-Präsident Bill Clinton Kolumbien von der Liste der Länder, die mit den USA die Drogen bekämpfen. Dieses „Schandmal“ bedeutet für Bogotá die Einstellung der bilateralen amerikanischen Hilfe und verschließt ihm den Zugang zu wichtigen internationalen Finanzierungshilfen. Kolumbien ist nach wie vor der weltweit bedeutendste Kokainhersteller und –lieferant. Zwar wurde kürzlich dem Medellin- und dem Cali-Kartell ein schwerer Schlag versetzt – fünf der wichtigsten Führe siten im Gefängnis –, jedoch wird der Kampf gegen die Drogenhändler durch Korruption und den Verdacht, der auf Präsident Ernesto Samper lastet, beeinträchtigt. Nachdem er von seinem ehemaligen Verteidigungsminister Fernando Botero und vom Generalstaatsanwalt beschuldigt worden war, vom Cali-Kartell rund 10 Millionen Mark zur Finanzierung seines Wahlkampfes im Juni 1994 erhalten zu haben, ist vor kurzem eine parlamentarische Untersuchungskommission zu dem Fall eingerichtet worden. Die Affäre belaste das politsche Klima dieses Landes, in dem die Gewalt allgegenwärtig ist, und ermuntert insbesondere die Aufständischen, die im Verlauf von etwas mehr als 30 Jahren im Rahmen verschiedener Guerillagruppen immer weitere Landesteile unter ihre Kontrolle bringen konnten, zu weiteren Gewalttaten. Dabei ist der Wille der Guerilleros – halb Revolutionäre, halb Banditen, manchmal auch Hilfstruppen der Drogenhändler – zur Eroberung der Macht nur schwach ausgeprägt. Sie haben den bewaffneten Kampf zur Lebensorm erhoben und cheinen darin immer weniger den einzig möglichen Weg zu sozialer Gerechtigkeit zu sehen.
Von unserem Sonderkorrespondenten HUBERT PROLONGEAU *N*
SIE sind zahlreich erschienen. Mit heiteren Frauen und Männern beladene Autos schlittern die schlammigen Wege entlang und winden sich hinauf bis nach El Cabildo, einem dieser verlorenen, kleinen Dörfer des Regenwaldes, die Gabriel Garcia Márquez mit Macondo in „Hundert Jahre Einsamkeit“ beschrieben hat. Es hat sich bereits eine große Menschenmenge versammelt. Eis- und Limonadeverkäufer bahnen sich mit den Ellbogen ihren Weg. Auf den Schultern ihrer Väter sitzend hören die Kinder den Rednern auf der Tribüne zu. Um jedes Haus herum stehen ein paar Kokapflanzen. Die bewaffneten Guerilleros haben sich Mützen über den Kopf gezogen, die nur die Augen freigeben, obwohl alle ihre Gesichter kennen.
Seit eineinhalb Monaten leben hier die Mitglieder von Jaime Bateman, einer kleinen, von der Guerillagruppe M-19 (die 1990 ihre Waffen niedergelegt hat) abgespaltenen Bewegung, die nun mit der Regierung in Bogotá verhandelt. Abends vereint sie ein Fest mit den Dorfbewohnern, und so kann man eine in ihren Drillichanzug gezwängte junge Indiofrau mit umgehängter Maschinenpistole sehen, die in den Armen eines Bauern unerschütterlich ihre Runden zu den Salsarhythmen dreht.
Es ist ein schöner Anblick. Schön, und ein wenig unzeitgemäß, wie die Aufführung eines veralteten Schauspiels. Denn wer glaubt im Grunde wirklich an diesen Frieden, der die beiden für die Dauer eines Tanzes verbindet? Etwa die Bevölkerung, die heute jene feiert und aufnimmt, von denen sie vielleicht morgen wieder gepeinigt wird? Oder die Unterhändler der Regierung, die sich als letzte Hoffnung an Jaime Bateman klammern, wohl wissend, daß ihnen zehntausend Bewaffnete anderer Guerillabewegungen den Kontakt verweigern? Oder die Guerilleros selbst, die die Verhandlungen blockieren, indem sie sich weigern, ihre Waffen niederzulegen, und deren überzeugteste Anhänger sich bereits auf einen „grausamen und schnellen Krieg“ vorbereiten? Diese letzte und reichlich vage Hoffnung, die sich nun auf die Bewegung Jaime Bateman richtet, ist schon so oft aufgekommen, um schließlich doch nur wieder von den Schatten des Urwaldes eingeholt zu werden, in denen die enttäuschten Kämpfer untertauchten.
Schon in den dreißiger Jahren ...
DIE kolumbianische Guerilla ist mit ihrem sechzigjährigen Bestehen zweifellos die älteste der Welt. Schon in den dreißiger Jahren hatten kommunistische Aktivisten in Viotá eine „unabhängige Republik“ gegründet, die von der Regierung nach einem erfolglosen Armeeangriff als „Verbrechervereinigung“ verurteilt wurde. Sie war bereits in Vergessenheit geraten, als 1948 die Ermordung des liberalen Parteiführers Jorge Eliecer Gaitán blutige Unruhen auslöste, die unter der Bezeichnung bogotazo in die Geschichte eingingen. Innerhalb von drei Tagen wurden in Bogotá 5000 Menschen getötet. Die Liberalen und Linken unterlagen daraufhin im gesamten Land starker Verfolgung. Die Bewohner ganzer Städte flüchteten in die Berge, wo sich die ersten bewaffneten Gruppen bildeten. Die damalige Revolte verfolgte kein anderes Ziel als das eigene Überleben, und man kämpfte allein im Namen der Zukunft.
Diesen bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen schlossen sich in der Folge Kommunisten an. Die bandoleros verwandelten sich unter ihrer Führung zu Politaktivisten. Das gemeinsame Vorgehen wurde fortgesetzt, obwohl der Diktator Gustavo Rojas Pinilla die Kommunistische Partei 1955 für gesetzeswidrig erklärte.
Mit der Machtübernahme Fidel Castros in Havanna 1959 wendete sich das Blatt. Die kolumbianische Armee fühlte sich bedroht. In den Wäldern lösten Kriegsherren die Bauern ab. In dieser Zeit entstanden die der KP nahestehenden Fuerzas armadas revolucionarias de Colombia (FARC). Die zu einer regelrechten Armee angewachsene FARC ist heute die wichtigste noch aktive Guerillagruppe.
1965 gründeten die Studenten und Ordensbrüder Fabio Vázquez Castaño und Victor Medina Morón das an Castro orientierte Ejército de liberación nacional (ELN). Ihre Beziehungen zur FARC verschlechterten sich zunehmend, doch ihr erster Waffengang, die Einnahme von Simacota am 7. Januar 1965, sollte unvergessen bleiben. Auch schloß sich ihnen der berühmte Guerillero und Priester Camilo Torres an, der große Mythos der kolumbianischen Guerilla. Die ELN, die weniger die direkte Konfrontation mit der Armee suchte und sich in kleinen Gruppen bewegte, zeichnete sich durch zahlreiche Attentate aus. Die Guerillagruppe wurde 1973 in Anori praktisch ausgelöscht und steht seit 1978 unter der Führung von Manuel Pérez, einem aus Saragossa stammenden spanischen Priester. Ihre bevorzugten Angriffsziele sind ausländische Erdölgesellschaften, denen die Plünderung der nationalen Ressourcen vorgeworfen wird. Sie sprengt immer wieder Pipelines und löst dadurch Umweltkatastrophen aus.
Das Ejército popular de liberación (EPL), eine 1966 gegründete, maoistisch orientierte Gruppe, verstand sich selbst als bewaffneter Arm der marxistisch- leninistischen KP, die aus einer Spaltung der kolumbianischen KP hervorgegangen war und sich – auch militärisch – gegen die FARC stellte. Seine wichtigsten Führer sind im Gefängnis, doch führt es einen blutigen Krieg gegen ehemalige Mitglieder, welche sich in der Gruppe Esperanza, paz y libertad zusammengeschlossen und ein Friedensabkommen mit der Regierung unterzeichnet haben. Daneben entstanden andere Gruppen wie die äußerst gewalttätige Ricardo Franco oder die den indigenas, den Einheimischen, verbundene Quintin Lame, die jedoch in Kürze wieder verschwanden oder die Waffen niederlegten.
In den siebziger Jahren gründeten zwei castristische Überläufer der FARC, Jaime Bateman und Iván Ospina, das Movimiento 19 de abril (M-19). Diese nichtmarxistische Bewegung erlangte in den achtziger Jahren Berühmtheit, als sie durch spektakuläre Aktionen wie den Diebstahl des Schwertes von Simón Bolivar, dem Befreier Spanisch-Amerikas, oder die Besetzung der Dominikanischen Botschaft in Bogotá auf sich aufmerksam machte. Die nichtkommunistische und im Vergleich zu ihren Rivalen städtischere M-19, deren Mitglieder aus dem Kleinbürgertum und Intellektuellenkreisen stammten, erschien vielen als ein dritter möglicher Weg. 1990 bewältigte sie brillant den schwierigen Übergang zum Parlamentarismus. Sie beteiligte sich an der Präsidentschaftskampagne und an den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung.1 Doch nach ihrem Mißerfolg bei den Parlamentswahlen im März 1992 verflog die in sie gesetzte Hoffnung. „Die Guerilla hat den Raum besetzt, den im zivilen Leben die linken Organisationen hätten belegen können, jedoch hat sie nie richtig Fuß gefaßt“, bemerkt dazu ein Berater des Vizepräsidenten.
Was bleibt von dieser Vergangenheit bei den Guerilleros, die nach wie vor durch die Berge ziehen? In El Cabildo sprechen die Mitglieder von Jaime Bateman kaum von der Vergangenheit und zeigen lieber eine große Bewunderung für Kuba, „wo ein Volk seine Würde wiedererlangen konnte“, oder äußern den Wunsch, eines Tages den Zapatisten in Chiapas zu gleichen. Ihre Aussagen sind ebenso großzügig wie unklar: „Wir sind für das Volk da, für das Volk kämpfen wir“, beteuert Comandante Jorge Eliecer Zapata (ein Pseudonym zu Ehren von Jorge Eliecer Gaitán und Emiliano Zapata), dessen Gesicht ein stolzer Schnurrbart ziert und dessen Auge von einer Bindehautentzündung gerötet ist. „Für uns selbst fordern wir nichts.“ Ein Marxist? Ja, selbstverständlich, aber „vor allem Kolumbianer“. Die Gruppe Jaime Bateman, die aus der Region stammt, in der sie operiert, und sich größtenteils aus indigenas zusammensetzt, repräsentiert hauptsächlich sich selbst.
Zehn Stunden Fußmarsch höher gelegen, bei der FARC, spricht man von Jaime Bateman mit leicht herablassendem und amüsiertem Wohlwollen. Die Guerilleros der FARC betrachten sich als ernsthafte Kämpfer, sie kennen den Marxismus und berufen sich noch immer auf ihn. Comandante Raimundo, Mitglied der VI. Front der FARC und Anführer einer Gruppe von rund fünfzehn Männern und Frauen, glaubt noch an die Zukunft der „Sache“. Er bewundert die Zapatisten, und man hört ein wenig Neid über deren Triumph in den internationalen Medien heraus. Er gibt zu, daß ihn persönlich das Internet reizt, und sieht im Echo, das Subcomandante Marcos weltweit auslöst, eine Bestätigung für die Gerechtigkeit ihres Kampfes. Sein politischer Horizont ist weiter als bei den Mitgliedern von Jaime Bateman. „Wir sind der letzte Ausweg für dieses Land. Demokratie gibt es in Kolumbien nicht. Sie ist von der Oligarchie und dem Zweiparteiensystem in Beschlag genommen worden.2 Es muß eine andere Lösung gefunden werden. Außer uns gibt es niemanden mehr. Den gesamten Raum, der in anderen Ländern von der klassischen Linken eingenommen wird, verkörpern in Kolumbien wir.“
Liegt die Lösung im bewaffneten Kampf? Ja. „Es gibt keine andere Wahl. Wir führen nicht aus Vergnügen Krieg. Das Leben hier ist hart: Hunger, Kälte, Schlangen, Mücken... Doch die institutionellen Wege, an die Macht zu kommen, sind besetzt.“ Kämpft er für die Machtübernahme? Nach kurzem Zögern gibt er ein „Nein“ von sich, doch in seinem entschlossenen Tonfall schwingt Bedauern mit. „Wir verfügen auf lokaler Ebene über reale Macht. Man muß ein Mittel finden, damit das anerkannt wird. Bis das geschieht, muß die Regierung mit uns rechnen.“
Während manche Chefs die Ideologie mit blindem Eifer beibehalten, ist sie bei den anderen bereits weitgehend verflogen. Innerhalb von dreißig Jahren ist Guerillero zu sein zum Beruf geworden. Guillermo ist in Miranda in der Nähe von Cali geboren. Er ist Indio. Warum er hier ist? „Ich hatte nicht wirklich die Wahl. Im Dorf gibt es nichts zu tun. Die Guerilla kümmert sich um alles. Zwei meiner Brüder sind dabei. Ich wußte, daß sie mir täglich zu essen geben und sich um meine Familie kümmern würden. Warum auch nicht? Es ist kein schlechtes Leben.“ Und der Kampf? Die Gewalt? Er findet sie natürlich „gerecht“, aber das ist offensichtlich nicht sein Hauptgrund, Guerillero geworden zu sein. Solche wie ihn gibt es viele: Kinder der Arbeitslosigkeit und der Untätigkeit, die zur leichten Beute der Anwerber werden, die regelmäßig in die Dörfer kommen und dort konkrete Beweise für ihre Aktionen liefern. Sie rekrutieren selbst Kinder. Seit langem lösen sich Generationen derselben Familien in der Guerilla ab. Der Beruf des Guerillero wird vom Vater auf den Sohn übertragen.
Der Einfluß der FARC wächst zunehmend. Eine von der Planeación nacional, einer Regierungsbehörde, ausgearbeitete Karte zeigt die Entwicklung der Guerilla seit 1985. Wenn damals in 173 von 1059 Gemeinden ihre Präsenz verzeichnet wurde, besetzt sie heute 569 Gemeinden. Innerhalb von drei Jahren hat sich das von der FARC kontrollierte Gebiet um 28 Prozent vergrößert, das von der ELN kontrollierte um 51 Prozent und das der EPL um 45 Prozent. Bis dahin ausgesparte Zonen wie das Kaffeeanbaugebiet oder die karibische Küste werden inzwischen von der Guerilla beherrscht, ohne daß diese in anderen Regionen, in denen sie traditionell aktiv ist, an Terrain eingebüßt hätte. Und sie nähert sich den Städten: Man muß nicht weit aus Bogotá oder Medellin hinausfahren, um auf die ersten Fronten zu stoßen.
Wichtige Dörfer werden vollständig von der Guerilla verwaltet, die dort alle staatlichen Funktionen ausübt: Sie registriert den Zivilstand der Einwohner, kümmert sich um die Straßen, ersetzt die Gerichte. Als die Autobahn Cali-Medellin gebaut werden sollte, suchten die Ingenieure die Guerilleros auf, um zu erfahren, ob diese die Arbeiten sabotieren oder durchführen lassen würden. In Arauca vergibt die Guerilla Baugenehmigungen. In Caquetá und in den Erdölgebieten läßt sie die Wahl der Bürgermeister zu, wobei sie zu ihren eigenen Gunsten die alten Methoden der Klientelwirtschaft einsetzt, die sie anderswo heftig anprangert. „Sie leben nebeneinander her“, erklärt Monsignore Alberto Giraldo Jaramillo, Bischof von Popayán. „Für die Bevölkerung ist die Regierung weit weg. Die Guerilleros gehören zu ihnen. Bei Tag gehen die Leute zum Bürgermeister und in der Nacht zum Comandante ...“ Die Armee akzeptiert diesen Status quo in den meisten Regionen, es kommt relativ selten zu Zusammenstößen.
Die Guerilla schwingt sich auch zum Richter auf, und das oft auf handgreifliche Weise. „Seit sie hier ist, fühlen wir uns sicherer“, berichtet ein Bauer aus San Andrés, einem kleinen Dorf in Caquetá. Es geht schnell: Im günstigsten Fall wird der Schuldige zunächst nur verwarnt. Im Wiederholungsfall erhält er dann einen Besuch, und wenn er uneinsichtig ist, folgt das Erschießungskommando.
Auf den Spuren von Koka und Erdöl
IN Tena und San Antonio, zwei Autostunden von Bogotá entfernt, geben die Guerilleros Schulunterricht. Die Polizisten lassen sie machen. Sie sind nur zu fünft, ohne Telefon, und haben nur alte Karabiner als Ausrüstung. Als der Guerilla im Januar 1993 Einbrüche unterstellt wurden, erhielten die Polizisten Verstärkung. Die FARC bot ihnen an, sich an der Untersuchung zu beteiligen und zu beweisen, daß die Täter nichts mit ihr zu tun hatten.
Diese Herrschaftsausübung basiert weniger auf der Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit, als die Bewegungen gerne glauben machen möchten. Zwar sind die Guerillabewegungen in den ärmsten Regionen entstanden, doch haben sie in der Folgezeit andere Wege eingeschlagen: den des Koka (in den Provinzen Meta, Guaviare und Caquetá), des Viehs (in Magdalena Medio oder Córdoba), des Erdöls (in Sarare, Casanare, Huila, Putumayo), des Schmuggels (in Sierra Nevada, Valle, Urabá) und seit kürzerem den des Mohns (in Huila und Nariño). Von 174 Gemeinden, in denen Mohn angebaut wird, „genießen“ 123 eine starke Guerillapräsenz. Eine Untersuchung über Gewalt zeigt, daß davon am meisten die Regionen betroffen sind, die sich in vollem Wirtschaftsaufschwung befinden, und nicht etwa die ärmsten Gegenden.
Diese Ausbreitungsstrategie ließ zahlreiche neue Fronten entstehen. Insgesamt gibt es heute mehr als 10000 Guerilleros gegenüber knapp 2000 im Jahr 1980.3 Das DAS4 schätzt, daß 40000 Personen der Guerilla nahestehen und sie unterstützen, ohne direkt einer der Bewegungen anzugehören.
Sind sie deshalb bereits „Banditen“, wie die Armee gerne lautstark behauptet? Diese 10000 Menschen müssen versorgt werden. Seitdem die internationale Hilfe versiegt ist, schöpfen die Guerillaführer aus drei Quellen: den „revolutionären Steuern“, den Entführungen und den Drogen.
In zahlreichen Regionen überwacht die Guerilla die Kokaplantagen. Sie verlangt dafür inzwischen feste Preise: 11 Dollar monatlich pro überwachtem Hektar, 11000 Dollar wöchentlich für jede beschützte Kokaküche, 5 Dollar pro erzeugtem Kilo Kokain, 20 Dollar pro verladenem Kilo und 15000 Dollar für jeden Start auf einer geheimen Landepiste.5 Laut der DEA6 schöpft die ELN, die am stärksten in den Drogenhandel verwickelte Guerillaorganisation, 7 Prozent des Gesamtwerts der auf ihrem Territorium hergestellten Kokainmenge ab. Läßt sich deshalb behaupten, sie produziere das weiße Pulver selbst, wie oft behauptet wird? Armeechef General Harold Bodoya erklärte letzten Februar, die FARC sei „das größte Kokainkartell Kolumbiens“. Das konnte nie bewiesen werden – auch wenn sich bei im Februar 1995 getöteten Guerilleros Unterlagen fanden, aus denen hervorgeht, daß die Kokaküchen des Cali-Kartells in Caquetá in enger Zusammenarbeit mit der FARC betrieben wurden.
Die Entführungen (die die ELN in ungewohnter Schamhaftigkeit als „Einbehaltungen“ bezeichnet) haben sich zu einem regelrechten Gewerbe entwickelt. In Bogotá spezialisieren sich Unternehmen auf die Verhandlungen mit den Entführern. Und während Jorge Eliecer Zapata noch etwas verlegen wirkt, wenn er auf die Drogen angesprochen wird (“Sie ruinieren die Menschen, aber in unseren Regionen können die Leute durch nichts anderes so viel Geld verdienen“), legt er jegliche Scheu ab, wenn er auf die secuestros, die Entführungen, zu sprechen kommt. „Das ist unsere Art der Steuer. Wir haben keine anderen Einnahmequellen. Im übrigen entführen wir nur die Reichen.“ Die Entführungen nehmen rasant zu. 1994 wurden 1378 Personen entführt, in den ersten drei Monaten des Jahres 1995 über 700. Niemand ist davor sicher. Das beleidigende Gefühl der Bedrohung schadet dem Ansehen der Kämpfer sehr.
Dazu kommen die bei den Produzenten und Großgrundbesitzern erhobenen Steuern. In einem im August 1995 im Gebiet Santander verteilten Flugblatt der FARC wurden alle jene, die mehr als eine Million Dollar besitzen, aufgefordert, 10 Prozent davon an die Guerilla abzuliefern. In Bolivar und Magdalena „lädt“ die ELN zu „freien“ Versammlungen ein, wo die Erscheinenden erpreßt und die Wegbleibenden als Feinde betrachtet werden. In Manizales müssen die Kaffeeproduzenten 2500 Dollar jährlich bezahlen. Laut dem Finanzministerium beträgt der Umsatz der Guerilla 500 Millionen Dollar jährlich.
Direkt oder indirekt kommt die Guerilla Kolumbien teuer zu stehen. Alle bedrohten Unternehmen müssen sich schützen. Ecopetrol, ein Erdölunternehmen, soll 1995 fast 10,5 Millionen Dollar an Reparaturkosten für Schäden ausgegeben haben, die von der ELN verursacht wurden. Eine Studie der Anden-Universität schreibt dieser Gruppe 5 Prozent der im Land verübten Morde zu.7 Die Guerilla hat in den ersten drei Monaten des Jahres 1995 410 Soldaten und 210 Bauern ermordet und selbst 650 Personen eingebüßt, 3284 gerieten in Gefangenschaft. Letztes Jahr entschärfte die Armee 18000 Tretminen. „Sie fassen auch durch den Terror Fuß“, erläutert Carlos Echandia, ein Wissenschaftler und Spezialist zum Thema Gewalt. „Wenn sie sich an Wahlen beteiligen würden, entsprächen ihre Ergebnisse sicher nicht der realen Macht, über die sie vor Ort verfügen. Das hat sich bei der M-19 gezeigt.“
Während die Guerilla immer näher an die Städte heranrückt, kann sie sich in ihnen selbst nur schwer festsetzen. Die Elendsviertel von Medellin, in denen der Staat entweder nicht präsent oder aufgrund von „Säuberungen“ durch die Polizei beziehungsweise die Armee diskreditiert ist, böte ein ideales Terrain. Die Guerilla hat versucht, sich dort über verschiedene Milizen Zugang zu verschaffen: die Milicias bolivarianas, die Milicias populares del valle de Aburra und andere. „Aber wir haben hauptsächlich eine Schule von Berufskillern hervorgebracht“, erzählt das ehemalige ELN-Mitglied Javiér Márquez.
Schwierige Rückkehr ins Alltagsleben
VIELE ehemalige Guerilleros arbeiten als Wächter. Sie putzen sich mit Uniformen und alten Schießeisen heraus und verteidigen – eine Ironie der Geschichte – als Bankenwachschutz den Besitz derjenigen, die sie früher bekämpft haben.
Allerdings gibt es Organisationen, die auf die Wiedereingliederung spezialisiert sind. Die Regierung hat ein Programm verabschiedet, das den Guerilleros ein bis eineinhalb Jahre lang eine Beihilfe gewährt, die das Doppelte des Mindestlohns ausmacht und ihnen vorteilhafte Kredite anbietet. Dario Mejia Agudelo, der für das Programm in Medellin verantwortlich ist, zieht eine uneinheitliche Bilanz: „Es gibt 1200 Wiedereinsteiger. Wir setzen uns dafür ein, daß diese Menschen wieder etwas lernen, und wir werden die „Invasionen“8 legalisieren. Doch der Kontakt zur Bevölkerung ist schwer herzustellen. Oft werden wir zurückgewiesen.“
Für einige vollzieht sich die Rückkehr über eine legalisierte Bewegung, wie etwa den Corriente de renovación socialista (CRS). Dieser hat 430 Mitglieder, die sich von der ELN getrennt haben und den bewaffneten Kampf aufgeben wollen. Sie haben ein Friedensabkommen unterzeichnet und am 9. April 1994 ihre Waffen abgeliefert. „Der bewaffnete Kampf hat seine Legitimität verloren“, erklärt der Chef der CRS, León Valencia. „Die Korruption hat das ganze Land abdriften lassen, und auch die Guerilla kann sich dem nicht entziehen. Wenn man etwas an der Situation ändern will, muß man das Gemeinwesen durch mehr Kritik und mehr Engagement stärken.“ Vom Leben im Untergrund sind ihm vor allem die Erinnerung an die Entbehrungen und die Trauer über umgekommene Freunde geblieben. „Manche Erinnerungen verblassen niemals: die langen Märsche, die Solidarität. Man hatte viel Zeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.“
Für viele Guerilleros bedeutete die Rückkehr den Tod. Das Verlangen nach Rache war wachgeblieben. Viele können nicht akzeptieren, daß den Rebellen die Rückkehr so leicht gemacht wird und ärgern sich über die Beträge, die diese erhalten und die über ihren Löhnen liegen. Die Wiedereinsteiger werden zur Zielscheibe paramilitärischer Gruppen, Milizen und weiterhin aktiver Guerillas. Sie bezahlen einen hohen Zoll. In Urabá wurden von den 2000 Mitgliedern von Esperanza, paz y libertad, dem gesprächsbereiten Ableger der EPL, in drei Jahren über 200 Menschen umgebracht.
Die Erfahrungen mit gescheiterten Rückkehrversuchen machen die Abkommen immer unsicherer. „Der Friede ist heute in der kolumbianischen Gesellschaft ein Mythos“, erklärt Rubén Sánchez David, einer der sieben Hochschuldozenten, die in der Consejeria de paz tätig sind. Diese offizielle Einrichtung ist beauftragt, Gespräche mit der Guerilla zu führen.
Die Verhandlungsführer stehen dabei einer Kriegspartei gegenüber. Mitten in den Gesprächen mit der ELN wurde ein Guerillakommandant von einem Motorrad aus ermordet. In der Folge stellte sich heraus, daß es sich um ein Fahrzeug des Verteidigungsministeriums handelte ...
„Die Guerilla ist in der Klemme zwischen ihrer militärischen Stärke und ihrer politischen Schwäche“, kommentiert der Journalist Alfredo Molano. Sollte ihre lokale Macht anerkannt werden? „Natürlich“, antwortet León Valencia. „Doch zuvor muß sich die Regierung zu einem Entwicklungsplan verpflichten.“ Und Rubén Sánchez fährt fort: „Im Grunde müßte das, was die Guerilla verlangt, vom Staat bereitgestellt werden: Schulen, Krankenhäuser, Straßen. Man müßte zeigen, daß die regionale Entwicklung und die Dezentralisierung mit einer Friedenspolitik vereinbar sind.“ Hat die Regierung das verstanden? Bei seinem Amtsantritt erklärte Präsident Ernesto Samper: „Ich beabsichtige, mit den lokalen Chefs zu verhandeln.“9 Doch diese Verhandlungen haben bislang nicht stattgefunden.
Wird die Zukunft erneut Krieg heißen? Die Guerilleros sind zwar von einer außerhalb ihrer eigenen Lager wirkungslosen Ideologie beseelt, haben sich in vielen Fällen zu routinierten Fachleuten entwickelt und sind ins Kriminelle abgerutscht, verfügen aber lokal über reale Macht 10. Sie stellen nach wie vor einen Faktor dar, mit dem man rechnen muß. Ob für den Frieden oder für den Krieg, ist unklar. Sie hoffen das eine, bereiten sich aber auf das andere vor. Comandante Jorge Eliecer Zapata, der liebevoll über seine Uzi-Maschinenpistole streicht, gesteht: „Jeder Krieg ist ungerecht, auch wenn er im Namen der Gerechtigkeit geführt wird.“
dt. Birgit Althaler
1 Vgl. Jorge G. Castaneda, „L'Utopie désarmée. L'Amérique latine après la guerre froide“, Paris (Grasset) 1996.
2 „Principales tendencias de la expansión territorial de la guerilla (1985-1994)“, Bogotá (Departamento nacional de planeación – Unidad de justicia y seguridad), Juli 1994.
3 Üblicherweise wird von 10000 bis 12000 Personen ausgegangen, manche Experten sprechen sogar von 17000.
4 Departamento administrativo de seguridad, vergleichbar den französischen Renseignements généraux bzw. dem deutschen Bundesamt für Verfassungsschutz.
5 Die Zahlen stammen von der kolumbianischen Antidrogenbehörde. Ein von Manuel Marulanda Vélez unterzeichnetes Dokument gibt andere Zahlen an: nur 3000 Dollar für die Benutzung der Landepisten, aber 25 Dollar pro Kilo Ausgangsmasse und 35 Dollar pro Kilo Kokain.
6 Drug Enforcement Authority, die US-amerikanische Antidrogenbehörde.
7 Mit 28000 Todesopfern durch Gewalttaten im Jahr 1994 bleibt Kolumbien unter den nicht kriegführenden Ländern weltweit dasjenige mit den meisten Verbrechen.
8 Behördlich nicht genehmigte Ansiedlungen der Neuankömmlinge auf Gemeindeareal, wo über Nacht möglichst viele „Häuser“ gebaut werden.
9 Le Monde, 16. Juli 1994.
10 Vgl. Ramon Chao, „Un train de glace et de feu, Arles (Babel, Reihe „Terres d'aventures“) 1995.
Autor von „La Vie quotidienne en Colombie au temps du cartel de Medellin“, Paris (Hachette) 1992.