Caen oder warum eine Provinz rebelliert
■ Anläßlich eines Besuchs in der Stadt Caen am 15. März 1996 erklärte Premierminister Alain Juppé das „alltägliche Leben“ und die „Verbesserung der Lebensverhältnisse“ zum „Leitfaden“ seiner Regierungspolitik. An diesem Ort wie auch im übrigen Westen Frankreichs ist es allerdings kaum damit getan, die Dringlichkeit der Probleme anzuerkennen. Angesichts der Deregulierung des Arbeitsmarkts und der Verlegung der Arbeitsplätze ist für Zehntausende Bürger eine unsichere Zukunftsperspektive zum Bestandteildes Atags geworden. Dies erklärt, warum sich solch ein großer Teil der Bevölkerung in der Normandie an den Demonstrationen im vergangenen Dezember beteiligte.
Von unserem Sonderkorrespondenten GILBERT ROCHU *
PARIS ist nicht mehr das Zentrum Frankreichs, die Medien haben ihre Glaubwürdigkeit verloren und die Politiker ihr Ansehen bei den Bürgern: drei indirekte Folgen der sozialen Unruhen vom November/Dezember 1995, die Regierung und Gewerkschaftsführungen ins Wanken brachten.
Caen. Am 12. Dezember 1995 versammeln sich in der 190000-Einwohner-Stadt 60000 Demonstranten – in Paris sind es nur 16000. Keine Problembezirke, eine Arbeitslosenrate unter dem nationalen Mittel1: Caen ist in dieser Hinsicht eine durchschnittliche Stadt, zumindest im Vergleich mit den besonders unruhigen Städten im Westen Frankreichs. Wie diese hatte auch Caen das zweifelhafte Privileg, zweimal innerhalb von dreißig Jahren einer wirtschaftlichen Umwälzung zu unterliegen, und früher als im übrigen Frankreich machten sich hier die nachteiligen Auswirkungen der Globalisierung und sozialen Unsicherheit bemerkbar.
Das begann in der Phase der gaullistischen Regionalplanung (1957-1970): Um dem unkontrollierten Wachstum im Großraum Paris Einhalt zu gebieten und die Landflucht zu bremsen, ließ der Staat Entlastungsstädte in einem Bereich von dreihundert Kilometern westlich der Hauptstadt bauen.
Caen hatte von seinem Umland gelebt2. Nun wandelte sich die ländliche Gegend zum Feriengebiet und Baugrund für Altersruhesitze und begann von der Stadt zu leben: In der Industrie wurden 25000 Arbeitsplätze geschaffen, die meisten im Calvados. Die ehemals ländliche Hauptstadt der Unteren Normandie wurde so zum inoffiziellen Zentrum der erweiterten Pariser Industrieregion, deren Schwerpunkte in der Automobilindustrie (Citroän und Saviem), der Elektronik (Alcatel, Philips und Bosch)3 und, mit der Ausweitung von Moulinex, auch der Elektogeräteindustrie lagen.
Diese Unternehmen siedelten sich in der Peripherie an, im „roten Gürtel“ von Caen, in dem das Konzept der Trabantenstädte beispielhaft umgesetzt wurde. Die ZUP (die vorrangig zu urbanisierenden Zonen) der sechziger Jahre wurden keine Vorstadtsiedlungen, sondern entwickelten sich zu eigenständigen kleinen Städten. Die 1964 erbaute Stadt Hérouville ist mit 25000 Einwohnern, ihrem Technologiezentrum, ihrem Café des Images, der Schulaufsichtsbehörde und dem Hauptsitz des regionalen Arbeitsamts die zweitgrößte des Départements.
Bei diesem Mini-Goldfieber, der sogenannten industriellen Dezentralisierung, machten nur wenige Ausländer ihr Glück4: Hier ging es um inländische Migranten, um die Bauern aus den Départements Orne oder Manche, die in Schnellkursen zu Hilfsarbeitern umgeschult wurden – man nannnte sie O.S., „ouvriers spécialisés“, wobei ihre Spezialisierung gerade darin bestand, keine zu besitzen.
In der Unteren Normandie behauptet man gern, der Mai 68 habe seinen Anfang in Caen genommen – womit der Aufstand der Arbeiter bei Saviem im Januar 1968 gemeint ist. Zehn Jahre später, im November 1978, brachen bei einem Aktionstag gegen die Arbeitslosigkeit Unruhen aus.5 Zwischen diesen beiden Ereignissen liegen zahlreiche Kämpfe, die von der extremen Linken damals als „exemplarisch“ angesehen und von dem Historiker Alain Leménoret als „Aufstand gegen die Dequalifikation“ bewertet wurden.
Arbeiteraristokratie und „Statuslose“
DIE Soziologen Michelle Collin und Thierry Baudouin, die in den siebziger Jahren Studien vor Ort durchführten, beurteilen diesen brutalen Übergang von der Landwirtschaft zur Industrie etwas differenzierter: „Obwohl es von der Industrialisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht erfaßt wurde, verfügte Caen sehr wohl über eine Arbeitertradition. Im Département Orne gab es Eisenbergwerke und einen Hafen, von dem aus das Erz nach Großbritannien exportiert wurde. Dies brachte den deutschen Großindustriellen August Thyssen auf die Idee, in Caen ein Eisenhüttenwerk zu errichten, die spätere Société métallurgique de Normandie (SMN). Der Paternalismus der Arbeitgeber und der Wunsch der kommunistischen Gewerkschaft CGT nach einer ,Arbeiterhochburg' führten dazu, daß die Arbeiter innerhalb der Stadt eher isoliert lebten.“ Doch bildeten sie eine homogene Gruppe: Die stabilen Arbeitsverhältnisse, die gleitende Lohnanpassung und ihr privilegierter Status machten die Metallarbeiter, die Bergarbeiter und die Eisenbahner zu regelrechten Vorzeigeproletariern. Von den Frauenkollektiven, die eine Drosselung der Fließbandrhythmen und Gleichheit der Löhne in der Elektronischen Industrie forderten, oder den entwurzelten Landarbeitern, die Dutzende Male den Arbeitsplatz wechselten, trennten sie Welten.
Die Gewerkschaften Force ouvrière (FO) und CGT nannten diese Gruppen die „Statuslosen“. Unterstützung fanden sie dagegen bei einer jungen Gewerkschaft, die mit ihren Regionalstellen und Stadtteilinitiativen noch ganz vom Gemeinschaftsgeist der militanten Katholiken geprägt war: der CFDT, die sich auf diese Weise in Caen und im gesamten Westen Frankreichs etablieren konnte.
Der gegenwärtige Sekretär des Regionalverbands der CFDT, Etienne Adam, berichtigt: „Die CFDT organisierte die Streiks der „ouvriers spécialisés“, doch ab 1975 war auf dem Arbeitsmarkt nichts mehr los; das Problem der Arbeitslosigkeit wurde deutlich, die freie Wahl des Arbeitsplatzes hatte sich in eine erzwungene Mobilität verwandelt, und der Regionalverband der CFDT schlug sich mit der unsicheren Arbeitsmarktsituation in der Region herum. Die Gewerkschaftsverbände interessierte das wenig – nicht mal die CFDT-Zentrale. Alle waren überzeugt, daß Arbeitslosigkeit und Unsicherheit der Arbeitsplätze für die „richtigen Arbeiter“ niemals zu einer Bedrohung werden würden. Der Bundesverband ließ uns 1982 fallen, und das war der Anfang unserer Tradition des Aufbegehrens.“
Die achtziger Jahre sind für die „richtigen Arbeiter“ eine harte Zeit. Am 7. November 1991 gehen schließlich auch sie auf die Straße. Die nach einer Reihe Umstrukturierungen verbliebenen 1312 Stahlarbeiter der SMN, (1974 waren es noch 6500), protestieren gegen die Entscheidung der Usinor-Sacilor, die Belegschaft um 10 Prozent zu reduzieren und die französische Stahlindustrie in der Lorraine neu zu organisieren. Der Geschäftsführer und der Generaldirektor werden 37 Stunden lang eingesperrt; 15000 Menschen kommen zu einer Solidaritätskundgebung für die Metaller. Vergeblich – der Abriß des Hochofens bedeutet 1993 das Ende der Stahlindustrie in Caen.
In den achtziger Jahren gibt auch die Textilindustrie ihre Standorte in den ländlichen Gebieten auf und wandert nach Taiwan und nach Italien ab; die alte Industrie bricht zusammen, und die neue befindet sich in der Krise. Bei Moulinex gehen 1000 Arbeitsplätze verloren, die Saviem, inzwischen RVI (Nutzfahrzeuge Renault), reduziert ihre Belegschaft von 8000 auf 3000. Die industrielle Dezentralisierung ist gescheitert.
Jangui Le Carpentier, Mitglied des Regionalrats, sozialistischer Abgeordneter im Bezirksparlament und stellvertretender Bürgermeister von Hérouville, stellt fest: „Es handelte sich nicht um eine wirtschaftliche Dezentralisierung, sondern um Standortpolitik. Man hat Produktionseinheiten hierher verlegt, doch entschieden und geplant wurde in Paris. Die in den sechziger Jahren gegründeten Unternehmen sind nicht am Ende, sondern sie durchlaufen einen Modernisierungsprozeß: RVI, Moulinex und Citroän verzeichnen seit dem Abbau von Arbeitsplätzen6 gute Umsätze. Das Problem ist, daß die lokalen wirtschaftlichen Entscheidungsträger, die noch recht bäuerlich denken, nicht in der Lage waren, tragfähige wirtschaftliche Strukturen zu schaffen. So werden nur 4 Prozent der Zulieferungsaufträge von RVI an regionale Betriebe vergeben. Als Moulinex 1986 seinen Mikrowellenherd auf den Markt brachte, konnten wir die Entlassung von 200 angelernten Arbeitern mit einem Ausbildungsplan verhindern, durch den 50 von ihnen zu Technikern umgeschult wurden.“ Doch was soll mit den anderen geschehen, wenn es weder Ausbildungsmöglichkeiten noch Auffangbetriebe gibt?
Die Stadtverwaltung von Caen hat eine weitere Umorientierungsmaßnahme eingeleitet: den Einstieg in den tertiären Sektor. Ab 1980 vollzieht Caen auf der Grundlage dessen, was der Soziologe Yves Dupont den „schicken Dienstleistungsbereich“ nennt (Technologiezentren und Tourismus), seinen zweiten wirtschaftlichen Wandlungsprozeß.
Michel d'Ornano, UDF-Bürgermeister von Deauville und Minister für Industrie und Handel, ließ in Caen den Ganil (Großer Schwerionenbeschleuniger) bauen, eine wichtige nukleare Forschungseinrichtung, die sowohl für die Atomenergiekommission (CEA) als auch für das CNRS (nationales Forschungszentrum Frankreichs) von Interesse ist und die Ansiedlung von Laboreinrichtungen des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Materie und Strahlung (Ismra) und der pharmakologischen Forschung (die das Cyceron genannte medizinische Zyklotron nutzt) nach sich zog.
Ebenso eigenmächtig hat Louis Mexandeau, ehemaliger Postminister und einziger Abgeordneter der Sozialistischen Partei PS aus dem Calvados, den Service d'études des postes et télécommunications (SEPT) in seine Stadt geholt, der das elektronische Zahlungs- und Postsystem ausarbeiten soll. Ein reines Prestigeprojekt, das an die Universität gekoppelt ist, jedoch keine Auswirkung auf die Industrie hat. „Die Rivalität zwischen Linken und Rechten hat zu interessanten Initiativen geführt, die sich jedoch ebensowenig als Wirtschaftspolitik bezeichnen lassen wie der Tourismus als Beschäftigungspolitik“, wettert der Soziologe Yves Dupont. „Die Stadtverwaltung setzt voll und ganz auf die Museen: Wilhelm der Eroberer, der Wandteppich von Bayeux, Karine Saporta, die Landungsstrände der Alliierten, florale Kunst, die Gedenkstätte des Zweiten Weltkriegs et cetera.“
Offensive im tertiären Sektor
MIT der Aufnahme des Fährbetriebs zwischen Caen-Ouistreham und Portsmouth im Juni 1986 sollte der Tourismus aus Großbritannien angekurbelt werden. Die bretonische Gesellschaft Brittany Ferries schuf 400 Arbeitsplätze und rettete den Hafen, dessen Verkehrsaufkommen damals zur Hälfte vom Stahlwerk SMN bestritten wurde. Dieser Erfolg wurde allerdings teilweise durch den Eurotunnel und die Konkurrenz der englischen Reeder zunichte gemacht, die Britanny Ferries in Schwierigkeiten brachten. Ähnliches galt für die Feierlichkeiten anläßlich des 50. Jahrestages der Landung der Alliierten, im Juni 1994: Caen investierte riesige Summen, doch der erhoffte Touristenansturm blieb aus.
Zum tertiären Sektor gehören auch die großen Kaufhausketten. „Carrefour“ erweitert seine Filiale in Hérouville, „Cora“ und die Gruppe „Promodès“ (sie umfaßt die Verbrauchermärkte Continent, die Supermärkte Champion und die Selbstbedienungsläden Codec) gründen Niederlassungen in Rots und Mondeville. Das bringt Hunderte Arbeitsplätze, aber auch Dutzende Konkursanmeldungen. Die Eröffnung des Verbrauchermarktes Continent II im Juni 1994 wurde durch demonstrierende Kleinhändler und Viehzüchter gestört. Sie warfen Continent vor, ihren wichtigsten Fleischlieferanten, die Agrargesellschaft IDEA, in den Ruin getrieben zu haben (Konkursanmeldung und 1000 Entlassungen).
Der tertiäre Sektor ist die Gegenoffensive der Stadt Caen. Die Industrialisierung der sechziger Jahre galt bevorzugt den Ortschaften in der Peripherie, die inzwischen nicht mehr von ihren Supermärkten zu unterscheiden sind. In der Altstadt rund um das Mausoleum (die nach dem Krieg zu 70 Prozent wiederaufgebaut wurde) besinnt man sich auf die eigene historische Identität und findet zur alten Rolle als regionale Hauptstadt zurück: mit Philips, dem einzigen Unternehmen der sechziger Jahre, das sich im Stadtzentrum befindet und das allein noch Arbeitsplätze schafft7; mit der Universitätsklinik (CHU), die zum Hauptarbeitgeber der Stadt (5000 Angestellte) geworden ist; mit Firmenvertretungen und Behörden.
1995 sind von zehn Einwohnern der Basse-Normandie sechs im Dienstleistungssektor und zwei in der Verwaltung beschäftigt. Für den Beigeordneten des UDF-Bürgermeisters von Caen, François Solignac-Lecomte, zeugt das von einer guten Stadtpolitik: „Wir haben im tertiären Sektor mehr Arbeitsplätze geschaffen, als in der Industrie abgebaut wurden. Die Bilanz bleibt positiv.“8 Doch es handelt sich oft um unsichere Arbeitsplätze. Und die Zufriedenheit der einen gleicht die Unzufriedenheit der anderen nicht aus. Dem beschäftigungslosen Arbeiter ist sehr wohl bewußt, daß er der Verlierer des ökonomischen Wandels ist, und die Empfangsdame im Hotel oder die Supermarktangestellte sehen sich nicht wirklich als die Gewinner dieser Umwälzung.
1993 wurde die Sodie, eine Tochtergesellschaft der Usinor-Sacilor, als eine Art „soziale Feuerwehr“ mit der Schaffung von 2000 neuen Arbeitsplätzen und der Wiedereingliederung von 1312 Metallarbeitern beauftragt. Die Sodie hat zur Ansiedlung einiger Unternehmen wie Impact Vallourec (Maschinenbau) beigetragen, hat 300 Arbeitnehmer der SMN in den Vorruhestand geschickt und 760 von ihnen in die lokalen klein- und mittelständischen Unternehmen (PME) eingegliedert. Blieben noch 200 Arbeitslose, die von den Kommunen integriert werden – „durch die Schaffung von Sanitäter- und Telefonistenstellen mit 30 Prozent niedrigeren Gehältern“, wie Etienne Adam vom Regionalverband der CFDT anmerkt.
Die Gewerkschaften behaupten, die Sodie sei nicht einmal der Hälfte ihrer Verpflichtungen nachgekommen. Die verantwortlichen Politiker aller Parteien sind hingegen der Meinung, sie habe ihren Vertrag erfüllt. Beide Seiten haben Recht, spöttelt Marie-Laure Dufresne-Castets: „Eine Reihe Beratungsbüros haben Geld von der Sodie erhalten, um die Entlassenen bei der Gründung eines eigenen Betriebs zu beraten und zu unterstützen. Diese wenig qualifizierten klein- und mittelständischen Unternehmen machten in der Regel Konkurs. Die Sodie hatte somit ihr Wiedereingliederungssoll und die Verpflichtung zur Schaffung von Arbeitsplätzen erfüllt, doch die ehemaligen Arbeitslosen wurden erneut arbeitslos ..., und wer hat daran verdient?“
Die auf Arbeitsrecht spezialisierte Gewerkschaftsanwältin Dufresne-Castets zeichnet ein eher düsteres Bild von der Epoche der Dienstleistungen in der Stadt Caen: „Arbeitnehmer, die im Zuge der Restrukturierungsmaßnahmen entlassen worden waren, kehren nun als Angestellte von Zeitarbeitsfirmen in ihre ehemaligen Unternehmen zurück. Im Transportwesen machen sich entlassene Fahrer unter hoher Verschuldung selbständig und arbeiten als Subunternehmer für ihren ehemaligen Arbeitgeber. Die Beiträge für die URSSAF (Union de Recouvrement des Cotisations de la Sécurité Sociale et d'Allocations Familiales, Einheitsorganisation für Sozialabgaben) müssen sie selbst bezahlen. Anstreicher warten neben ihrem Telefon auf einen möglichen Auftrag ihres Arbeitgebers, der lieber keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterläßt, denn man weiß ja nie ...
„Die 1986 vollzogene Aufhebung der Vorschrift, Entlassungen behördlich genehmigen zu lassen, hat den Grundgedanken des Arbeitsrechts, der darin bestand, die Rechte des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber zu verteidigen, in sein Gegenteil verkehrt. Sofern sich die Arbeitgeber überhaupt noch ums Recht kümmern. Ich habe sechs Angestellte von Moulinex verteidigt, die die Geschäftsleitung im Juli 1995 wegen Streiktätigkeit entlassen hatte. Auf Beschluß des Arbeitsgerichts wurden sie wieder eingestellt.“
Der Historiker Alain Leménoret fügt hinzu: „Die unsichere Arbeitsmarktsituation hat im Namen der Flexibilität von der Privatwirtschaft auf alle Bereiche übergegriffen. Neu jedoch ist, daß nun auch im öffentlichen Dienst, wo man bisher die Sicherheit des Beamtenstatus gewohnt war, Neueinstellungen mit Zeitverträgen erfolgen.“ In Sachen Flexibilität steht die Post an erster Stelle: Unsichere Arbeitsplätze und Aufteilung in kleine Arbeitseinheiten, heißt die Devise. In Amerika nennt man das „Chaos-Management“.
Isabelle hat 1991 bei der Post angefangen. Im Zustellungszentrum, ohne vorherige Ausbildung, mit einem Zwanzig- Tage-Vertrag im Juli, einem Sechs-Tage- Vertrag im September, dann mit Zeitverträgen (CDD) von einem Tag, einer Nacht ... zweihundertfünf Verträge in vier Jahren! Die Post zahlt keine Beiträge in die Arbeitslosenversicherungen Unedic und Assedic – dafür gibt es einen Arbeitslosenfonds der Post, auf den man allerdings nur Anspruch hat, wenn man mehr als 122 Arbeitstage im Jahr nachweisen kann: „Natürlich legen sie es darauf an, daß man erst gar nicht auf die 122 Tage kommt.“
Im Januar 1995 hat Isabelle etwas getan, was nur wenige Angestellte ohne festen Vertrag tun: Sie hat sich gewerkschaftlich organisiert. Die Zeitverträge sind sofort weniger geworden. Im Juni hat sie sich ans Arbeitsgericht gewandt. Am Vorabend des Prozesses erhielt sie einen unbefristeten intermittierenden Arbeitsvertrag (CDI). Isabelle, die mit ihren Zeitverträgen durchschnittlich 3200 Franc verdiente, hat jetzt eine Vollzeitstelle und bekommt 5300 Franc im Monat, wobei sie die gleiche Arbeit macht wie die Festangestellten, die jedoch immerhin 7000 Franc erhalten.
Die Post hat inzwischen eine Verteidigungsstrategie entwickelt: Teil-CDI (1500 Arbeitsstunden im Jahr) und unbefristeter intermittierender Arbeitsvertrag (CDII) – Arbeitsphase, Aussetzphase (nicht vergütet), Abrufphase (man wartet neben dem Telefon) –, und zum Teufel mit all den Regelungen, die die Angestellten vor Nachtarbeit schützen, mit den Ausgleichszahlungen im Fall einer Versetzung und so weiter. „In den Dezember- Unruhen haben sich Überdruß und Protest gegen diese Anpassung an die Arbeitsmarktsituation ausgedrückt, gegen diese vorgebliche wirtschaftliche Rationalität im Namen der Globalisierung, bei der der Arbeiter nicht mehr zählt“, meint Marie- Laure Dufresne-Castets.
Der große Aktionstag des öffentlichen Dienstes am 10. Oktober 1995 (zwei Millionen Streikende und Tausende Demonstranten in ganz Frankreich) hat in Caen 15000 Demonstranten auf die Straße gebracht. Am 24. November verwandeln die Eisenbahner den Aktionstag in einen langen Streik. Am 28. November stimmen die Postler des Postverteilungszentrums für den Streik. Am 1. Dezember laufen 2500 Demonstranten mit dem Ruf „Nieder mit Juppé!“ durch Caen. Am 5. Dezember sind es 25000; am 7. Dezember 35000; am 12. Dezember 60000! Einmalig in der sozialen Geschichte der Stadt.
In Caen blockieren die Autobusse der öffentlichen Verkehrsbetriebe von Caen (CTAC) die Brücken, die Streikenden der öffentlichen Einrichtungen verbarrikadieren die Zufahrtsstraßen. Am 28. Dezember räumt die Bereitschaftspolizei (CRS) das Postverteilungszentrum. Am 29. Dezember beschließt die Generalversammlung, die Aktion zu beenden. Am 2. Januar 1996, nach zweiunddreißig Streiktagen, nehmen die Postler schließlich die Arbeit wieder auf.
Im Maison des syndicats zeigt man sich zufrieden. „Der Bundesverband war für den Juppé-Plan, aber wir haben getrickst und gegen die inakzeptablen Maßnahmen des Plans protestiert“, scherzt ein Gewerkschafter des Regionalverbandes der CFDT. Die großen Gewerkschaften haben ihr Mobilisierungsvermögen bewiesen; die autonomen Gewerkschaften wie FSU und SUD9, die ihren Sitz in Hérouville hat, haben Anerkennung bekommen.
Doch Jean-Marc Delafosse, der ehemalige Leiter des Postverteilungszentrums, reagiert mit einer gewissen Bitterkeit: die Postdirektion des Départements Calvados hat versucht, den Streik mit Hilfe von jungen Arbeitskräften zu brechen, die von Zeitarbeitsfirmen angeworben wurden. 32 Streiktage waren nötig, um mit der Direktion ins Gespräch zu kommen, 32 Streiktage, um zu erreichen, daß 8 der 56 vertragslos Angestellten des Verteilungszentrums einen Teil-CDI bekommen. Von den Repressalien ganz abgesehen: Die Cafeteria wurde aus technischen Gründen geschlossen, und ein Plan sieht nun die Verlegung des Zentrums von Caen nach Rennes vor.
Die Gewerkschaften bereiten weitere Aktionstage vor. Die CFDT hält in der Unteren Normandie weiter an ihrer Rebellenrolle fest. Sie unterstützt die AC! (Arbeitsloseninitiative) gegen den Willen der Gewerkschaft FO, für die ein Arbeitsloser nichts weiter als ein Arbeitnehmer ohne Arbeit ist, der keine besondere Vertretung braucht. Außerdem unterzeichnet die CFDT mit den Kleinhändlern eine von der CGT abgelehnte Vereinbarung gegen die sonntägliche Öffnung der Verbrauchermärkte. „Das richtet sich leider gegen die sozialistischen Bürgermeister von Mondeville und Hérouville, die diese Öffnungszeiten genehmigt haben.“
Auch die Probleme der Universität von Caen bleiben ungelöst: 28000 Studenten, ein jährlicher Zuwachs von 14 Prozent, ohne Erweiterung der Aufnahmekapazitäten, ein umstrittener Präsident, Unruhe im Fachbereich Soziologie. Der stellvertretende Direktor dieses Fachbereichs, Yves Dupont, meint dazu: „Wegen Claude Lefort und der Discountprofs, die nach 68 nach Caen kamen, war die Soziologie immer als links verschrien. Man beschimpft uns als Unruhestifter, und gleichzeitig findet man es legitim, uns bei sozialen Problemen um Rat zu fragen oder als Vermittler bei Konflikten einzusetzen. Als die Studenten den Präsidenten eingesperrt haben, wurden wir gerufen, um uns für seine Befreiung einzusetzen. Wir sind so etwas wie die Therapeuten einer armen Universität in einer Krisenregion.“
Yves Dupont fügt hinzu: „Die Streiks legten als erstes den Verkehr lahm. Anstatt nach Paris zu fahren, demonstrierten die Leute vor Ort. Und die jungen Arbeitslosen, Ruheständler, von Ungewißheit Bedrohten, die ohnehin nicht nach Paris gefahren wären, schlossen sich ihnen an. Alle sozialen Klassen waren vertreten, und die Landwirte und Kleinhändler erklärten sich mit ihnen solidarisch. Ein sozialer Aufruhr, der sich bis in die Verbandsstrukturen hinein fortsetzte.“
Schnell wieder weg
VERBÄNDE gibt es viele, besonders in der Region Hérouville. Sie sind sehr aktiv, doch ihre tatsächliche Bedeutung ist schwer einzuschätzen. Die Anwältin Marie-Laure Dufresne-Castets ist Präsidentin des Condorcet-Zirkels, der wiederum der Lehrervereinigung angeschlossen ist, die zusammen mit der vom Fachbereich für Soziologie gegründeten Vereinigung Démosthène gemeinsame Versammlungen organisiert. Der Vorsitzende der CFDT, Etienne Adam, ist der Gründer der Arbeitsloseninitiative AC!. Er hat gemeinsam mit Marie-Laure Dufresne-Castets Soziologie studiert: „Er war in der PSU und ich Sympathisantin der kommunistischen Arbeiterorganisation (OCT). An der Uni kannten wir uns alle. Wir sind alle gleich alt.“ In den Vereinigungen werden Ideen entwickelt, aber es fehlt die politische Umsetzung.
Caen wird von der Rivalität der einheimischen Politiker, der Unfähigkeit des regionalen Fernsehens und der Vetternwirtschaft der regionalen Bonzen bestimmt. „Caen aus seiner Ländlichkeit befreien!“ lautet der Slogan des UDF-Bürgermeisters, Jean-Marie Girault. Dabei verdankt er es gerade dieser ländlichen Kultur, daß er die Stadt seit 1970 regiert: Wer hier gewählt wird, muß ein angesehener Bürger sein, keine Führungspersönlichkeit. Die Stadt Caen wählt bei den Präsidentschaftswahlen links und bei den Kommunal- und Parlamentswahlen rechts.
„Die Tragikomödie der Konfrontation zwischen Girault und Mexandeau blockiert in Caen die gesamte Politik“, meint Yves Dupont. „Die Linke, die Jospin gewählt hatte, hat sich bei den Kommunalwahlen nicht gescheut, für Mexandeau zu stimmen.“ Darüber hinaus haben sich bei den letzten Parlamentswahlen ein Drittel der Wahlberechtigten der Stimme enthalten, und auch offizielle Berichte zu kommunalen Fragen interessieren niemanden. Zwischen den Bürgern und der politischen Macht herrscht absolute Kommunikationslosigkeit.
Die Bevölkerung weiß immer noch nicht, was ihre gewählten Vertreter mit dem ehemaligen SMN-Gelände vorhaben. Ebensowenig sind sie über den Streckenverlauf des TVR informiert, der, (halb Bus, halb Straßenbahn) auf einer Sonderspur durch Caen verlaufen und Ifs und Hérouville miteinander verbinden soll: ein „föderatives Projekt“, das bisher nur auf dem Reißbrett existiert.
Die schlechten Verkehrsverbindungen sind seit langem eine wirtschaftliche Barriere für die Untere Normandie. Die Pariser Autobahn, die nach Deauville führt, zweigt nach Caen ab, aber sie reicht nicht bis nach Cherbourg. Wenn man von Caen nach Rennes will, kommt das einer Expedition gleich: keine Nord-Süd-Verbindung und eine schlecht funktionierende Eisenbahnstrecke. Auf ihr verkehren „Turbozüge“, in den siebziger Jahren der letzte Schrei, allerdings nur bis zur Ölkrise. Das Material ist inzwischen veraltet, und heute braucht man von Paris nach Caen eine halbe Stunde länger als vor zwanzig Jahren.
Jangui Le Carpentier macht den politischen Feudalismus der vorhergehenden Politikergeneration dafür verantwortlich: „Nehmen wir zum Beispiel den Einzug der Atomkraft in die Region. In einem Umkreis von fünfzehn Kilometern haben die betroffenen Stadtverwaltungen Geld erhalten und davon Tennisplätze gebaut, aber niemand war fähig, vernünftig zu verhandeln und als Gegenleistung ein Maximum an regionaler Infrastruktur herauszuschlagen. Wir haben hier drei EDF- Atomkraftwerke und die Cogem (Compagnie générale des matières nucléaires) und sind die einzigen, die über keine elektrische Eisenbahnlinie verfügen. Die alten Politiker haben versagt.“
Große Projekte stehen an: die Elektrifizierung der SNCF-Linie Paris-Caen- Cherbourg und eine Eisenbahnanbindung an die Regionen Pays de la Loire und Bretagne (die es geschafft haben, eine Verlängerung der Hochgeschwindigkeitsstrecke bis nach Rennes und Angers durchzusetzen). Zwei große Verkehrsachsen sollen gebaut werden: die Autoroute des estuaires, die Le Havre mit der Bretagne verbinden und an Caen vorbeiführen wird, und die Nord-Sud atlantique, eine europäische Autobahn, die von Stockholm aus die Untere Normandie, die Bretagne und die Aquitaine durchqueren und nach Gibraltar führen wird. Doch das vorgebliche Ziel – Caen verkehrstechnisch einzubinden – wirkt eher wie der uneingestandene Wunsch, die Region möglichst schnell durchqueren zu können.
Und dies um so mehr, als diese Großprojekte nicht über die Realität hinwegzutäuschen vermögen: Weitere Konflikte zeichnen sich ab, neue Unruhen kündigen sich an. In Cherbourg, wo die atomar betriebenen U-Boote hergestellt werden, stehen aufgrund der Kürzungen des Rüstungshaushaltes 2000 Entlassungen bevor. In La Hague zeigt sich im Umfeld des nuklearen Mülleimers Europas eine außergewöhnlich hohe Krebsrate. In Lisieux macht sich die Armut breit.
In Alençon, Saint-Lô, Granville und Carpiquet, den Orten, in denen Fabriken von Moulinex angesiedelt sind, fürchtet man die Zukunft. Denn nach langem Hin und Her hat die Investitionsgesellschaft Euris als Hauptaktionär die Kontrolle über Moulinex übernommen. Deren Vorsitzender Jean-Charles Naouri hat im vergangenen Jahr die Leitung Pierre Blayau übergeben, der mit einem Schockprogramm aufwartete: Die Kapazitäten der mexikanischen Fabrik, die den amerikanischen Markt versorgt, sollen verdoppelt und die spanischen Niederlassungen ausgebaut werden. Kurz, es soll dort produziert werden, wo man auch verkauft – was einem Todesurteil für die acht Fabriken in der Unteren Normandie gleichkommt (6300 Beschäftigte, davon 2000 im Raum Caen).
Die dritte wirtschaftliche Umwälzung hat bereits begonnen. Sie hat weder etwas mit der Bodenplanung von 1957-1978, noch mit der Beschäftigungspolitik der Jahre 1980-1995 zu tun, sie gehorcht allein der Logik des Geldes. Caen hat im Dezember 1995 auf seine Weise dagegen protestiert.
dt. Kora Perle
1 11,5 Prozent gegenüber dem nationalen Durchschnitt von 12 Prozent, aber die höchste Arbeitslosenrate bei den unter 25jährigen (32,6 Prozent gegenüber 25,3 Prozent in Frankreich).
2 In der Unteren Normandie waren 50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, heute sind es 12 Prozent (das ist immer noch doppelt soviel wie der nationale Durchschnitt).
3 Die Elektronische Industrie: 1992 mit 15300 Beschäftigten der erste Arbeitgeber in der Region.
4 1990 betrug der Immigrantenanteil der Bevölkerung 1,6 Prozent gegenüber landesweiten 6,3 Prozent.
5 Beim Aktionstag gegen die Arbeitslosigkeit im November 1978 wurden fünfzig Geschäfte beschädigt, zwei Demonstranten verletzt, zwei weitere verhaftet. „Caen brennt und blutet“ lauteten die Schlagzeilen der nationalen Presse. Alle politischen Gruppierungen, die extreme Linke eingeschlossen, verurteilen die „unkontrollierten Elemente, die nichts mit der Arbeiterklasse gemein haben“.
6 Die einzige Fabrik, die von der für RVI so wichtigen Rhone-Axe abweicht. Täglich verlassen 75 Lastwagen die Fließbänder. Vor kurzem erhielt das Werk eine Investition von 350 Millionen Franc, eine neue Spritzanlage und ein Walzwerk. Sie beschäftigt 3430 Menschen, davon 200 mit unsicheren Verträgen und 70 mit Zeitverträgen.
7 Philips Composants produziert 1 Million Chips pro Tag, exportiert 95 Prozent seiner Produktion und hat in einem Jahr 200 Arbeitsplätze geschaffen. Philips Circuits imprimés, das 1994 eröffnet wurde, beschäftigt 350 Menschen.
8 Die Beschäftigungsrate in der Industrie fiel von 33,9 Prozent im Jahr 1975 auf 27,3 Prozent im Jahr 1992. In der gleichen Zeit stieg die Beschäftigungsrate im tertiären Sektor von 44,7 Prozent auf 61,7 Prozent.
9 SUD (Solidaires, unitaires, démocrates) ging 1988 aus einer Spaltung der CFDT-PTT hervor. Die erste Sektion der SUD in Caen wird 1989 im Postverteilungszentrum von vier ehemaligen Gewerkschaftlern der CFDT gegründet. Nach den Ereignissen vom Dezember 1995 verlassen mehrere hundert Eisenbahner die CFDT und gründen SUD-Rail.
Journalist.