12.04.1996

Jørn Riel im „Land der Menschen“ – Die Suche der Inuit

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Jørn Riel im „Land der Menschen“ – Die Suche der Inuit

Jørn Riel, „Heq, le chant pour celui qui désire vivre“, französische Übersetzung aus dem Dänischen von Inès Jorgensen, Larbey (Gaia Editions) 1995, 288 Seiten, 129 Franc.

NACHDEM sie mit ihrem hungrigen Baby schier endlos in den eisigen Weiten der Arktis umhergeirrt war, stieß die Inuit-Frau Shanuk auf ein verlassenes Iglu: Einzig ein gefrorener Frauenleichnam fand sich darin. Der Tod war so natürlich wie das Leben. Shanuk hatte keine Milch mehr. Also „schnitt sie mit ihrem Messer dünne Streifen aus den Oberschenkeln“ der Leiche und kaute das Fleisch sorgfältig, bevor sie es gut vorgewärmt in den kleinen Mund ihres Sohnes Heq spuckte.

Das war einmal im hohen Norden vor eintausend Jahren; Kannibalismus, meist verpönt, konnte zuweilen die letzte Rettung sein ... Heq überlebt und wächst heran. Eines Tages führt er seinen Stamm auf dem Pfad der Träume weit hinauf in den Norden, auf der Suche nach einer der vier Säulen, auf denen, wie jedes Kind weiß, der Himmel ruht. Eine lange Schlittenwanderung voller unvorhergesehener Ereignisse, vom nördlichen Kanada bis ins „Land der Menschen“, nach Grönland.

Grönland ist die eigentliche Heimat des dänischen Autors, Ethnologen und Forschungsreisenden Jørn Riel. Als echter Abenteuerreisender und Gelehrter verbrachte er sechzehn Jahre seines Lebens in Eisbärfellhosen und auf Hundeschlitten, um die Gebräuche und uralten Mythen der Eskimos zu erforschen. Und um abgeschnitten von der Welt, in einem Zelt auf dem Berge Qaqatoqaq, die Gletscherbewegungen zu studieren. Sein Werk? Dutzende von Erzählungen und Märchen, eine mitreißende und anregende, eine unglaubliche comédie humaine.

„Heq, le chant pour celui qui désire vivre“ (“Heq, das Lied für einen, der leben möchte“), ist die alte Geschichte eines sogenannten primitiven Volkes, das nichts kennt als das Feuer und die Jagd auf Rentiere, Eisbären, Seehunde und Frauen. Manchmal, da wird es von einer unwiderstehliche Lust zu töten gepackt. Es lebt in Gemeinschaft von wilden Tieren und Geistern, die durch die arktische Nacht klabautern. Seine Weisheit besteht in dem Wissen, daß der Gesang und das Lachen wesentlich sind, daß aber „die Gedanken sich besser in der Einsamkeit entfalten“. Der hungrige Stamm wird schließlich durch die Entdeckung eines gefrorenen Mammuts gerettet. Wahrhaftig eine Rückkehr zu den Wurzeln. Heq ist Schamane, „ein großer Erzähler, er verfügt auch über furchtbare, magische Wörter“. Seine Initiationsreise, auf der ihm der Geist des schwarzen Bären zur Seite steht, schlägt uns in ihren Bann.

Ein wunderbares Buch, das uns aus dem Alltag der elektronischen Bevormundung in eine ferne Welt entführt und das Lied entdecken läßt, „das die Einöde der Tundra gebiert“. Welche Kraft das Lachen und das menschliche Wort inmitten der Polarzeit haben! Nicht das diskursive Für und Wider, sondern Worte, die den Menschen von den Geistern geschenkt wurden. Für die Inuit „war die Begabung zu erzählen eines des größten Geschenke, die ein Mensch von den Geistern erhalten konnte“.

INGRID CARLANDER

dt. Miriam Lang

Le Monde diplomatique vom 12.04.1996