12.04.1996

Neuordnung der politischen Strukturen

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Neuordnung der politischen Strukturen

ZWEI Jahre nach ihrem Erfolg bei den Wahlen sieht die gescheiterte Rechte in Italien am 21. April einem neuen Gang an die Urnen entgegen. Nach wie vor kann sie auf das Fehlen einer glaubwürdigen linken Alternative rechnen. Pietro Ingrao, seit mehr als 50 Jahren in der italienischen Politik, beleuchtet die Hintergründe der Krise, die das Land erschüttert.

Von PIETRO INGRAO *

Drei Geschichten aus Italien. Die erste spielt in Turin, am 2. März 1996: Ein Streik der Geschäftsleute, die Rolläden der Geschäfte bleiben aus Protest gegen den „Würgegriff der Steuer“ geschlossen. In der Versammlung sind auch ein paar abfällige Bemerkungen gegen die Großindustrie (die Agnellis) und gegen die Großmärkte, die neuen Handelsherren zu hören, aber Wut und Groll richten sich in erster Linie gegen den raffgierigen Staat – er ist schuld, daß es den selbständigen Unternehmern so schlecht geht, ihnen, die doch den Wohlstand schaffen und unters Volk bringen.

Als Romano Prodi, der Führer des „Olivenbaums“, der Mitte-Links-Koalition, das Wort ergreift, wird er ausgepfiffen und zum Schweigen gebracht. Prodi muß den Saal verlassen. Gianfranco Fini dagegen, der Führer der ehemals faschistischen Rechten, wird stürmisch gefeiert. Am nächsten Tag sind die Ereignisse von Turin die Spitzenmeldung in sämtlichen Zeitungen und im Fernsehen. Empörter Protest der Mitte-Links-Koalition; es triumphiert hingegen Berlusconi, Finis enger Verbündeter.

Mit einem Schlag wird die Steuergesetzgebung zum zentralen Thema im laufenden Wahlkampf. Die (von der Mitte- Links-Koalition gestützte) Regierung Dini erklärt sich bereit, auf eine Zusatzsteuer zu verzichten, die – als Ergebnis der heftigen Gewerkschaftskämpfe vom Herbst 1994 – ein Jahr zuvor beschlossen worden war, um einen (kleinen) Teil der Rentenreform zu finanzieren.

Das Aufflackern des Protests in Turin ist lediglich ein weiteres Beispiel für jenes Aufbegehren in der reichen Poebene, das Anfang der neunziger Jahre Umberto Bossis Lega Nord so großen Auftrieb gab. Bossi droht mit der Ablösung des Nordens von Rom und von den „faulen“ und „mafiosen“ Süditalienern.

Bemerkenswert, daß der Protest der wohlhabenden Städte Venetiens und der Lombardei gegen Rom und gegen die Steuergesetzgebung nun auch das eher kühle Turin erfaßt, wo der europäische und transnationale Fiat-Konzern bestimmend ist. Sollte das bedeuten, daß Agnelli und die angesehenen Mailänder Bankkreise (die Freunde von Lazard und der Bundesbank) die Situation nicht mehr ganz im Griff haben? Man wird sehen.

Zweite Episode, ebenfalls im Norden: Mailand. Pirelli ist aus der Entwicklung des italienischen Kapitalismus nicht wegzudenken: Seit einem Jahrhundert steht Fiat für Autos und Pirelli für Reifen. Früher hatten die Pirelli-Werke viertausend Beschäftigte. Heute, im Zeitalter der Globalisierung und der flexiblen Unternehmensstrukturen, sind es wenig mehr als vierhundert, zum Großteil junge Leute und Neueingestellte.

Die Maschinen des neuen Unternehmens Pirelli brauchen keinen Schlaf. Sie sparen Arbeit, sie schaffen Arbeitsplätze ab, und sie geben den Arbeitern den Takt vor. So verlangte Pirelli am Ende der Sommerferien 1995 von seinen Beschäftigten Sonntagsarbeit.

Lange Verhandlungen wurden eröffnet. An deren Ende unterzeichnete die Chemiegewerkschaft am 24. Januar 1996 eine Vereinbarung, die für jeden Arbeitssonntag eine Zulage von 51000 Lire brutto1 und sechzig Neueinstellungen vorsah. Das Abkommen wurde den Arbeitern zur Abstimmung vorgelegt – und mit 58 Prozent der Stimmen abgelehnt.

Neue Verhandlungen. Aber unterdessen hat das Unternehmen einseitig Sonntagsarbeit angeordnet, die Antwort darauf ist ein Streik der Sonntagsschicht. Schließlich gibt die Gewerkschaft nach. Das Ergebnis: ein Arbeitstag im Jahr weniger, eine Zulage von 55000 Lire sowie sechzig Neueinstellungen. Nicht mehr als Brosamen, dennoch gibt es diesmal keine Abstimmung, das Abkommen wird in einer Vollversammlung verabschiedet und am 2. März unterzeichnet. Sonntag, der 3. März: die Maschinen haben gesiegt, ihren Erfordernissen wird sich die menschliche Arbeit künftig anpassen. L'Avvenire, die Zeitung der Kurie, schreibt darüber: „Und doch will uns die sich abzeichnende Übereinkunft auch weiterhin wie der Ausverkauf eines höheren Guts durch die Gewerkschaft vorkommen. (...) Die Sonntagsarbeit könnte Werte wie Freiheit, Familie, Gemeinschaftsleben, das spirituelle Leben des einzelnen aufs Spiel setzen. (...) Statt einer Befreiung besteht die Gefahr, daß neue Abhängigkeiten des Menschen von den Rhythmen der industriellen Produktion geschaffen werden.“

Dritte Episode: auf der Sila, einer herrlichen Hochebene mit Wäldern und Seen in Kalabrien, tief im Süden, im Mezzogiorno. In 1200 Metern Höhe liegt ein Dorf, San Giovanni in Fiore. Ich kenne es noch aus der Zeit, als mich ich hier in den Wäldern versteckt hielt, während des Untergrundkampfes gegen den Faschismus.

Jetzt ist das Dorf seit mehreren Tagen durch über 500 Arbeitslose vom Rest Kalabriens abgeschnitten. Alte Autos, Baumstämme, Federn aus geplatzten Matratzen, Wracks von Waschmaschinen, alles muß dazu herhalten, die Straßen zu blockieren.

Ein Abgeordneter der aus der KPI hervorgegangenen Demokratischen Linkspartei PDS berichtet: „In San Giovanni in Fiore gibt es 20000 Einwohner. Ein Viertel davon ist offiziell arbeitslos. Die Arbeitslosenrate der aktiven Bevölkerung beträgt damit 50 Prozent. 1983 gab es in San Giovanni noch 700 Forstarbeiter, jetzt sind es nur noch 230.“

Kämpfe ohne gemeinsame Perspektiven

IN dieser landwirtschaftlichen Region wurde in den sechziger und siebziger Jahren ein großangelegter Versuch der Industrialisierung unternommen, eine Art Invasion des Zentralstaates mit beträchtlichen Subventionen an geldgierige Unternehmer. Die wenigen damals geschaffenen Industrieanlagen sind heute Fabrikfriedhöfe. Wie wird es mit den Eingeschlossenen von San Giovanni weitergehen? Niemand weiß, ob es ihnen besser ergehen wird als den entlassenen sardischen Bergleuten, die sich monatelang in den Schächten ihres Bergwerks verschanzten, oder anderen von der Produktion Ausgeschlossenen, die auf einen Schornstein kletterten, nur um sich bei Zeitungen oder beim Fernsehen Gehör für ihr Problem zu verschaffen.

Drei Episoden, drei unterschiedliche und widersprüchliche Erscheinungsformen der Probleme, die Italien im Augenblick erschüttern. Was auf den ersten Blick verblüfft, ist das Fehlen einer gemeinsamen Perspektive in diesen erbitterten Kämpfen. Und doch verweisen sie bei genauerer Betrachtung – wenn auch in unterschiedlicher Ausformung – auf den allgemeinen Wandel, den wir mit den Begriffen „Globalisierung der kapitalistischen Produktion“, „langsames Wirtschaftswachstum“ und „strukturelle Arbeitslosigkeit“ zu beschreiben pflegen. Um es mit Marx zu sagen: Die tote Arbeit verzehrt die lebendige.

Wir haben es mit der Auflösung der sozialen Blöcke zu tun. Die große Distanz zwischen den Ereignissen in Turin und denen bei Pirelli oder in Kalabrien unterstreicht den Zerfall von Bündnisformen, die in Italien zu Zeiten der christdemokratisch-sozialistischen Regierung und der KPI eingegangen wurden. Augenblicklich ist es hierzulande sehr in Mode, gegen den consociativismo2, die Bündniswirtschaft zu wettern, die in der Ersten Republik zwischen Regierung und Opposition, oder genauer, zwischen DC und KPI geherrscht habe. Dieser Begriff wird jedoch verfälschend gebraucht. Ich war mehr als 50 Jahre in der KPI aktiv, und ich erinnere mich noch sehr genau, wie schmerzlich und aufreibend der Kampf der Kommunisten gegen die DC und ihr Machtsystem war. Von wegen Bündnis: Man riskierte den Lebensunterhalt, den Arbeitsplatz, und mußte mit gnadenlosen Repressalien von seiten der Arbeitgeber rechnen. Und es ging ja nicht nur um die tägliche Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Nicht zufällig hat es in Italien eine Organisation namens „Gladio“ unter Oberbefehl des CIA gegeben und eine Regierung mit beschränkter Souveränität, unter Kontrolle der Großmacht USA.3

Und doch war damals ein Kampf um die Vorherrschaft im Gange, eine Dialektik zwischen den sozialen Blöcken, die auf ihre Weise die Zusammenstöße zwischen verbündeten oder gegnerischen Gruppen in feste Bahnen lenkte und dem erbitterten Kampf zwischen Klassen und Schichten einen Rahmen und, man könnte sagen, eine Ordnung gab. Daraus erwuchs auch eine Art von Verpflichtung, sich über Programme und kulturelle und ideelle Inhalte zu verständigen. Italien war ein Land mit äußerst schwacher Einheit. Die demokratische Republik (die heute schon „Erste Republik“ genannt wird) bildete einen noch ungefestigten institutionellen Rahmen für diesen Wettstreit zwischen den Klassen einer Nation, die Ende der vierziger Jahre weder die Revolution des Taylorismus bewältigt hatte noch die gewaltigen Modernisierungsprozesse – in Kultur, Sitten und Jargons –, die das zwanzigste Jahrhundert zu einer Epoche des radikalen Umbruchs machten.

Und dieses in seinem inneren Zusammenhalt noch schwache Italien wird heute von der weltweiten Innovation des Posttaylorismus erschüttert und von den unerhörten Veränderungen, die dieser unausweichlich mit sich bringt, gebeutelt. Weitere Faktoren haben den Übergang zusätzlich erschwert, und nicht zufällig betrafen diese die wichtigsten politischen Exponenten der Ersten Republik. Die KPI sah sich in den katastrophalen Zusammenbruch der Sowjetunion mit hineingezogen. Zwar ist die Gleichsetzung von KPI und Stalinismus, die der französische Historiker François Furet vornimmt, falsch: Schon seit den zwanziger Jahren hat die KPI – wenn auch manchmal auf Irrwegen – nach Alternativen zum stalinistischen Credo gesucht (und zwar nicht nur in der Person von Antonio Gramsci, der ganz bewußt gegen Stalin agierte). Aber der Zusammenbruch der UdSSR konnte nicht spurlos an der Kommunistischen Partei vorübergehen. Denn jetzt mußte sich zeigen, ob sie das Geschehen würde deuten und daraus die Konsequenzen ziehen können. Es gelang ihr nicht. So verschwand die KPI, und auch die Rifondazione Comunista, die aus der Abspaltung von der PDS hervorgegangene Partei, konnte sie nicht ersetzen. Und der Untergang der KPI bestand nicht nur in der Auslöschung eines Namens und dem Verlust einer klaren Strategie. Es war ein ganz bestimmtes Verhältnis zur Gesellschaft, eine ganz bestimmte politische Kultur und Praxis, die da in sich zusammenfielen.

Über die Democrazia Cristiana (und ihren wichtigsten Bündnispartner, die PSI) brach die Sintflut von tangentopoli4 herein: Die Aufdeckung der politischen Korruption und der Raffgier einer ausgelaugten, durch Straffreiheit allzusehr verwöhnten Führungsschicht.

Und dennoch reichen weder der Untergang der KPI und der Zerfall der DC noch der Wirbelsturm von tangentopoli, der eine ganze Politikerklasse hinwegfegte, aus, um die Kluft zu erklären, die sich durch soziale Schichten und Gruppen zieht.

Das deutschsprachige Mitteleuropa wird sowohl in der Lombardei als auch in Venetien, die an seinen Ausläufern liegen, zu einem Wunschbild verklärt. Als sich Anfang der neunziger Jahre die reaktionäre und rassistische Revolte der Lega Nord formierte, da rekrutierte sich ihre Anhängerschaft nicht nur aus dem Kleinbürgertum und der Mittelschicht (Handel, kleine und mittlere Unternehmer, Selbständige). Die Lega Nord band auch weite Teile der Lohnabhängigen an sich, die von der kapitalistischen Umstrukturierung der achtziger Jahre bereits schwer betroffen waren. So fielen traditionelle Hochburgen der Arbeiterbewegung, in denen zunehmend die Ungewißheit über das eigene Geschick, die Unsicherheit der Arbeitsplätze, die neuen Gesetze der vernetzten Unternehmen und die neue Flexibilität der Arbeit vorherrschten. Im fernen Süditalien (dem der Norden vorwirft, privilegiert zu werden und von der Macht der Mafia beherrscht zu sein) beschleunigen die neuen Vorgehensweisen des weltweiten Konkurrenzkampfes den Untergang der wenigen Fabriken, die ein wohlfahrtsstaatlicher Keynesianismus italienischer Machart hier errichtet hatte.

Die Auflösung der sozialen Lager

1992 scheitert der letzte (kostspielige) Versuch, Italien in der Europäischen Währungsunion zu halten. Es folgt die Abwertung, Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat und Privatisierungen werden durchgesetzt, und es beginnt der schmerzensreiche Weg hin zu einer Sanierung des Staatshaushalts: Die Staatsverschuldung hat die astronomische Ziffer von zwei Billiarden Lire erreicht. Zu den Einschnitten in der posttayloristischen Industrie kommen also die staatlichen Kürzungen noch hinzu.

Dies ist der Hintergrund, vor dem die Bewegung der neoautoritären Rechten aufkommt, in Form der Allianz zwischen dem großen TV-Magnaten Silvio Berlusconi und den Führern der Alleanza Nazionale.

Zu all diesen ohnehin schwerwiegenden Ereignissen kommen die bitteren Wahrheiten der Skandale hinzu, die der Mailänder Richter-Pool mit Antonio di Pietro an der Spitze aufdeckt. Ferner die Folgen der widersinnigen Führung der Staatsgeschäfte seitens der Allianz zwischen DC und PSI während der gesamten achtziger Jahre. Die neue autoritäre Rechte gewinnt die Wahlen vom 27. März 1994, hält sich aber nur kurze Zeit. Während der gesamten langen politischen und sozialen Krise der neunziger Jahre ist die Regierung in den Händen der italienischen Bank, hoher Funktionäre des Staates sowie von Universitätsprofessoren und Technokraten – unter der Schirmherrschaft des Präsidenten der Republik. Die in der PDS zusammengefaßte Mitte- Links-Koalition hält das für das kleinste Übel und strebt nun anstelle der Einheit der Linken die Allianz mit der Mitte an, die Bildung eines politischen Blocks mit den Gemäßigten. Auf der Linken bleibt nur noch Rifondazione Comunista bewußt in der Opposition.

Die politische Landschaft Italiens hat sich also von Grund auf verändert. Das politische Modewort, das täglich beschworene Schreckgespenst, ist derzeit die „Unregierbarkeit“. Das führt zu einer Überbewertung – und zugleich Verschleierung – der institutionellen Probleme, die unausgesetzt als Ursprung allen Übels benannt werden. Im Zentrum der Kritik steht das Verhältniswahlrecht, das als Ursache der „Parteienwirtschaft“ angeprangert wird. Daraus folgen endlose Debatten um alle möglichen Formen des „Mehrheitswahlrechts“, bis hin zu einer jähen Begeisterung für die Präsidialdemokratie nach französischem Muster.

Italien bedarf tiefgreifender Reformen der Institutionen. Aber die Krise der Institutionen ist nur zum Teil durch italienische Ereignisse bedingt. Ihre Wurzeln liegen auch im Prozeß der Globalisierung und der digitalen Vernetzung, die aus dem Taylorismus hervorgegangen sind.

Die Frage der „Regierbarkeit“ verweist auf diesen Zusammenhang, der mit dem Namen von Maastricht verknüpft ist. Italien steht heute immer noch an sechster Stelle unter den Industrienationen der Welt. Aber die Arbeitslosenquote liegt bei 12,1 Prozent, im Süden steigt die Arbeitslosigkeit bis auf 21,2 Prozent, unter den Jugendlichen erreicht sie 56 Prozent. Es gibt eine „neue“, strukturelle Arbeitslosigkeit im Unterschied zu den Zeiten, in denen das tayloristische Wachstum zugleich auch wachsende Beschäftigung und zunehmenden Konsum bedeutete.

Und es handelt sich hier nicht nur um quantitative Veränderungen, wie das Beispiel der Sonntagsarbeit bei Pirelli zeigt. Hochsensible Bereiche des sozialen Lebens sind betroffen. Die starke Bindung zwischen der Fabrik und ihrem Umfeld, die soziale Schichten, Emotionen und Formen der politischen Arbeit zusammenhielt, ist aufgebrochen. Sprachen und Kommunikationsformen verlieren ihre Bedeutung und werden durch den großen neuen Kommunikator Fernsehen ersetzt. Die traditionellen Gelegenheiten und Orte des sozialen Austauschs verschwinden. Enorme Probleme entstehen auch bei der Ausbildung zu einer „flexiblen“ oder „polyvalenten“ Arbeit (in Italien geht die allgemeine Schulpflicht heute gerade bis 14 Jahre).

Das Bruttosozialprodukt bemißt diese sozialen Güter nicht oder nur in geringem Ausmaß. Und doch hängen davon die Antworten auf viele Fragen ab, über die man heute in Italien diskutiert. Denn die vielbeschworene Unregierbarkeit resultiert aus dem Zerfall traditioneller sozialer Subjekte, aus der Auflösung des sozialen Beziehungsgeflechts, aus dem Verschwinden oder dem Wandel von Modalitäten und Zeiten des öffentlichen politischen Raums.

Selbst der Untergang der Parteien (und ihre Wiederkehr in den vielfältigsten, wenig dauerhaften, ja teils unverständlichen Formen) geht auf die Auflösung der Klassenverhältnisse zurück. Diese bildeten in unserem Jahrhundert den Rahmen, innerhalb dessen der soziale Konflikt ausgetragen wurde und sich das politische Handeln entwickelte mit seiner Fähigkeit, sich in kollektive Aktion umzusetzen und eine eigene Kultur zum Ausdruck zu bringen.

Auch die Spaltung der italienischen Linken (in einen mehrheitlichen Flügel, die PDS, der immer mehr in die Mitte abzudriften scheint, und einen anderen – Rifondazione Comunista –, der bisher noch in einem schwierigen Widerstandskampf befangen ist) läßt sich mit dem Zusammenbruch der UdSSR allein oder durch Verwendung solcher Kategorien wie „Verrat“ nicht erklären. Sie spiegelt die Krise einer diesem Jahrhundert eigenen Form von Politik wider, die der gemeinsamen Verwirklichung eines Gesellschaftsprojekts verpflichtet war. Die Dimension dieser Politik, die auf die Macht des Nationalstaats abstellt, auf die der gesamte europäische Reformismus Bezug nahm, unterliegt einer starken Veränderung: Heute geht sie über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus.

Im Herbst 94 gab es in Italien eine breite Massenbewegung, an der sich Millionen beteiligten, um den Rentenanspruch zu verteidigen. Diese Bewegung blieb auf Italien beschränkt und stieß weder in Frankreich noch in Europa auch nur auf einen Funken Solidarität. Vor wenigen Monaten kam es in Frankreich zu einer ebenso starken und inhaltlich ähnlichen Revolte zur Verteidigung des Wohlfahrtsstaats. Und wenn das Echo in Italien auch groß war, so wurde die französische Bewegung in Europa doch ebenfalls alleingelassen. Ich frage mich: Ist es heute möglich, den Wohlfahrtsstaat in einem Land Europas zu verteidigen, ohne notwendigerweise die internationale Dimension mit einzubeziehen? Und kann man wohlfahrtsstaatliche Grundsätze in Europa neu überdenken, ohne dabei gleichzeitig die zu verteidigenden Werte zu analysieren und damit die Kriterien von Maastricht grundsätzlich neu zu überdenken und zu korrigieren?

Nimmt man diese Aufgabe nicht in Angriff und werden die damit verbundenen politischen und sozialen Problemstellungen nicht genauer erfaßt, dann wird die Linke aus ihrer Orientierungslosigkeit nicht herausfinden, und auch den Gemäßigten hinterherzulaufen wird ihr gegen den Trend nach rechts nichts nutzen.

In den letzten 25 Jahren haben die kapitalistischen Veränderungen die Grundlagen der linken Identität wie Orte, Allianzen und politische Formen hinweggefegt. Entweder entspricht die Antwort diesen Gegebenheiten – in welcher Zeit auch immer –, oder es wird sehr schwer sein, die Beziehung zwischen den Bürgern und der Politik zu erneuern, die die große Erfindung der Linken in diesem Jahrhundert war.

dt. Barbara Kleiner

1 1000 Lire entsprechen derzeit 0,94 DM.

2 Dieser Neologismus bezeichnet die Aufteilung der Mehrzahl der öffentlichen und privaten Arbeitsplätze unter den politischen Parteien.

3 Zahlreiche hochrangige Persönlichkeiten des politischen Lebens waren in dieses bewaffnete antikommunistische Netz verwickelt, das auf europäischer Ebene agierte. Es war während des Kalten Kriegs von der Nato eingerichtet worden und existierte noch vierzig Jahre später.

4 Mit diesem Ausdruck bezeichnet man die in Italien lange Zeit verbreitete Schmiergeldwirtschaft (tangenti) der politischen Parteien.

* Ehemaliges Führungsmitglied der italienischen kommunistischen Partei KPI, ehemaliger Vorsitzender des Abgeordnetenhauses. Hat gemeinsam mit Rossana Rossanda das Buch „Appuntamenti di fine secolo“, herausgegeben. (Rom, Manifestolibri 1995).

Le Monde diplomatique vom 12.04.1996, von Pietro Ingrao