12.04.1996

Für eine polyzentrische Welt

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Für eine polyzentrische Welt

DAS weltweite Krisenmanagement der internationalen Wirtschaftsinstitutionen spielt sich im Rahmen eines überholten Währungssystems ab und schafft immer neue Konflikte, ohne sie noch lösen zu können: So lautet die Feststellung von Samir Amin. In drei Studien analysiert er die Politik der Institutionen von Bretton Woods und setzt mit seiner Kritik an deren Grundgedanken an, daß Entwicklung dasselbe bedeute wie Ausweitung der Märkte.1

Zunächst waren die internationalen Wirtschaftsinstitutionen in Europa und Japan in den Dienst des Nachkriegsbooms gestellt worden (Marshall-Plan, Europäische Einigung usw.), später in den eines „nationalbürgerlichen Entwicklungsprojekts“ (Konferenz von Bandung 1955). Doch der Kontext hat sich geändert. Diese Strategie, die während der „dreißig glorreichen Jahre“ zum Zuge kam, wurde von den westlichen Staaten getragen und machte sich gleichzeitig die Erfolge der nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und die Unterstützung der Ostblockstaaten zunutze. Nun aber befinden sich das Projekt des Wohlfahrtsstaats, der „Sowjetismus“ wie der Nationalpopulismus von Bandung in der Krise.

Der Autor bringt den inneren Widerspruch der gegenwärtigen Globalisierung ans Licht: die Diskrepanz zwischen dem Staat, der national geblieben, und der Wirtschaft, die global geworden ist. Er weist die Vorstellung zurück, daß die Welt von dem, „was man als Markt bezeichnet“, gelenkt werden könnte. Er zeigt, daß eine weltumspannende Ökonomie auch weltweit gültige Regeln braucht, also ein politisches System, das „im globalen Maßstab genauso effizient ist, wie es der Nationalstaat auf seiner Ebene war“. Andernfalls wird sich der unerträgliche Konflikt „zwischen einem universalen Wirtschaftsraum und den zersplitterten Bereichen politischer und sozialer Verwaltung“ noch weiter verschärfen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, aber auch neuen Nationalismen, Vorschub leisten.

DIESE Kritik geht für Samir Amin einher mit der Suche nach Strategien für eine dauerhafte Entwicklung. Ausgehend von dem Gedanken, daß der Übergang zu einer neuen sozialen Ordnung lange dauern wird, versucht er, „Etappenstrategien“ zu formulieren: den Aufbau einer „polyzentrischen Welt“, die politisch wie ökonomisch „vertraglich geregelte Interdependenzen“ herstellt, sowie die „Autonomie der großen, ungleich entwickelten Regionen, mit regionalen Währungssystemen und deren Untergliederungen“. Dieses Konzept ist eine geradlinige Fortschreibung der „Entkoppelung“, die Amin schon seit langem befürwortet. Ziel ist es, den Wiederaufbau solidarischer Strukturen und gegenseitiger Unterstützung zwischen den Ländern der Peripherie durch regionale Zusammenschlüsse zu ermöglichen, wobei die Position der Schwachen – der Bevölkerungen der Peripherie und der Ausgebeuteten der Zentrumsländer – gestärkt werden soll. Dieses Konzept der Regionalisierung kontrastiert er mit der Anbindung schwacher Zonen der Peripherie an mächtige Zentren, wofür beispielsweise Mexiko mit dem Nafta-Abkommen bereits den Preis bezahlt hat. Zahlreiche Wissenschaftler haben sich mittlerweile Amin als dem Vordenker dieser Richtung angeschlossen und halten wie er den heterogenen regionalen Freihandelszonen2 die Schaffung homogener Wirtschaftseinheiten entgegen, die im Rahmen eines Systems regulierter Handelsbeziehungen der Logik der multinationalen Firmen entgegentreten.

Amin erinnert daran, daß die Europäische Union selbst die Preise für ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse vom Weltmarkt abkoppelt – dasselbe aber den Ländern der Dritten Welt verbietet. Und die USA entwickeln eine aggressive Exportpolitik, die nötigenfalls mit einem Neoprotektionismus verbunden wird. Diese politischen Praktiken stehen dem Programm für eine neue Weltwirtschaftsordnung entgegen, das 1975 von den G7-Staaten und den Blockfreien vorgeschlagen worden war: Es forderte namentlich die Öffnung der Märkte des Nordens und die Verbesserung der terms of trade für Exporte aus dem Süden, erleichterten Technologietransfer und Zugang zu internationalen Finanzhilfen. Zwanzig Jahre danach sind diese Vorschläge immer noch aktuell.

JANETTE HABEL

dt. Miriam Lang

1 Samir Amin, „La gestion capitaliste de la crise“, Paris (L'Harmattan) 1995, 135 Seiten, 70 Franc. In deutscher Sprache sind u. a. erschienen: Samir Amin, „Das Reich des Chaos. Der neue Vormarsch der Ersten Welt“, Hamburg (VSA) 1992; Samir Amin u.a., „Dynamik der globalen Krise“, Wiesbaden (Westdeutscher Verlag) 1986.

2 Siehe Paul Sindic, „Für ein neues Handelssystem“, Le Monde diplomatique, Februar 1996.

Le Monde diplomatique vom 12.04.1996, von Janette Habel