12.04.1996

ABRAHAM – NACHFORSCHUNGEN ÜBER EINEN PATRIARCHEN

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ABRAHAM – NACHFORSCHUNGEN ÜBER EINEN PATRIARCHEN

■ Geheimnisvolle Vaterfigur

VIELLEICHT war es sein eigener Vorname, der Abraham Ségal zu diesen akribischen Nachforschungen über seinen Namenspatron inspiriert hat: über Abraham, den Patriarchen, den alle drei großen monotheistischen Religionen für sich beanspruchen und von dem „mehrere Völker abstammen, die sich heute gegenseitig bekämpfen, obgleich sie angeblich eine gemeinsame Wurzel haben“1. Das Ergebnis ist eine kriminalistische Spurensuche, die von Ségal ebenso gelehrt wie lebendig erzählt wird.

Seine Recherchen führen ihn zu Gewährsleuten in mehreren Ländern, in das Israel der Intifada und zur Zeit des Friedensprozesses sowie nach Frankreich. Etwa fünfzig Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Bereichen werden auf diese Art zu Rate gezogen: Bibelforscher, Theologen, Archäologen, Historiker, Philologen, Kunsthistoriker, Talmudgelehrte, Soziologen, Psychologen, Islamwissenschaftler, Kabbalisten, Schriftsteller, bildende Künstler ... Er wandert von einem Experten zum anderen, aber auch von einem Buch zum nächsten, immer auf der Suche nach seinem Stein der Weisen, nach Abraham, dieser paradoxen, schillernden Figur: War er denn nun eine bedeutende Persönlichkeit der Geschichte? War er ein Kindesmörder oder nicht?

Es wird deutlich, wie viele Zweige der Wissenschaft der Autor bei seiner Suche einbezieht. Auch die Menge kommentierter bibliographischer Hinweise ist erstaunlich, die übrigens in den Fußnoten zahlreicher sind als in der zusammenfassenden Bibliographie am Schluß des Buches. Der Leser bleibt durchweg neugierig und bedauert schließlich das Fehlen von Namensregister, Stichwortverzeichnis und Verzeichnis der zitierten Bibelstellen, die es ihm erleichtern würden, auf diesen oder jenen Begriff noch einmal zurückzukommen.

Gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern bemüht sich Abraham Ségal, zwischen Geschichtsschreibung und Legende zu unterscheiden. Wie sie zweifelt er an der Existenz der Patriarchen. Wir erfahren verblüfft, daß „das Deuteronomium, das letzte Buch des Pentateuch (der fünf Bücher Mose), als erstes verfaßt und erst später für den Zusammenhang der großen historischen Darstellung verwendet wurde“. Erst im 4. oder 5. Jahrhundert vor Christus kam die Genesis (das erste Buch Mose) hinzu. „Auch wenn es paradox klingt, ist es doch gerade der neueste Abschnitt der Schrift, der dem Pentateuch den Charakter einer echten Überlieferung verleiht, indem er die Geschichten einfügt, die zeitlich am weitesten zurückliegen.“

HINZU kommt die Vermutung, daß die Genesis eine politische Antwort auf das Unglück des Exils darstellt, denn vor der Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil im 6. und 5. Jahrhundert ist keine schriftliche Fassung des Buchs bekannt. Ein Exil, für das Abram/Abraham ein Vorbild ist, da er aus Ur aufbrach, um sich via HarÛn in Kanaan niederzulassen. „Wenn du gehorchst, wirst du das Land erhalten, wenn nicht, wirst du es verlieren!“: In diesem Thema aus dem Exodus (zweites Buch Mose) kam die nationale Identität der Verbannten zum Ausdruck, „dieses verzweifelten, verlorenen Volks, dem man eher die Hoffnung zurückgeben mußte, als es an die Gesetze zu erinnern.“

Ob Mythische Figur oder historische Gestalt, jedenfalls ist Abram, aus dem Abraham wurde – so wie seine Frau Sarai zu Sarah wurde – der Vater der Gläubigen, der den Bund mit Gott geschlossen hat. Zuerst gebiert ihm Hagar, seine Dienerin – auf Sarahs Anregung hin – Ismael, den die Muslime für sich beanspruchen; dann bringt Sarah Isaak zur Welt, den er auf Gottes Befehl hin auf dem Berg Moria zu opfern bereit ist (Haqedah, Genesis 22). Ob nun Isaak (für die Christen eine Präfiguration der Kreuzigung Jesu), Abraham oder, wie die Muslime meinen, Ismael geopfert wird – die Angelegenheit ist komplex und wird das ganze Buch hindurch debattiert. Was für die einen nur eine furchtbare Geschichte ist, gilt den anderen als Glaubensfrage.

Die Haqedah spielt in Kierkegaards Werk, mehr noch aber in der Geschichte Israels und des Zionismus eine zentrale Rolle. Die Opfer aller Kämpfe und Kriege, die seit dem britischen Mandat ausgetragen wurden, finden in dieser Opferung ihren symbolischen Ausdruck. Daher rührt auch die Auflehnung zahlreicher Israelis und insbesondere des Malers und Bildhauers Menachem Kadischmann, der nacheinander Isaak und Abraham war: Isaak, als sein Vater ihn an die Front schickte, und Abraham, als er dasselbe mit seinem Sohn tat. Auch mag man es unerhört finden, daß einige Autoren es wagen, die jüdischen Kinder, die in Auschwitz verbrannt wurden, mit Isaak auf dem Altar zu vergleichen: Dadurch wird nur die religiöse Konnotation der Bezeichnung „Holocaust“ (“Opferung, bei der das Opfer gänzlich vom Feuer verzehrt wird“) wiederbelebt, der man um der historischen Genauigkeit Willen den Terminus „Genozid“ vorziehen sollte.

Am Ende der Arbeit, nach Exkursen über Freud und Kafka sowie einem Vergleich zwischen Ödipus und Isaak, gesteht der Autor, daß „ein Teil Abrahams dennoch im dunkeln bleibt, allen Analysen zum Trotz. Der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen seiner Berufung und der Opferung Isaaks, den er uns als einen facettenreichen Spiegel vorhält, besteht fort. Die mysteriöse Vaterfigur, sei sie nun befreiend oder bedrohlich, läßt nie kalt und wird noch lange Fragen aufwerfen.“

HAÏM VIDAL-SEPHIHA

dt. Miriam Lang

1 Abraham Ségal, „Abraham, enquête sur un patriarche“, mit einem Vorwort von Jean-Claude Carrière, Paris (Plon) 1995, 423 Seiten, 159 Franc.

Le Monde diplomatique vom 12.04.1996, von Haim Vidal-Sephiha