12.04.1996

Die Odyssee der Hoffnung

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Die Odyssee der Hoffnung

André Brink, „Les imaginations du sable“, französische Übersetzung aus dem Englischen von Jean Guiloineau. Paris (Stock, collection „Nouveau cabinet cosmopolite“) 1996, 623 Seiten, 150 Franc.

SEIT mindestens fünfzehn Jahren kennt Frankreich André Brink1 als einen der bedeutenden Schriftsteller Südafrikas. Sein vierter Roman, „Weiße Zeit der Dürre“, hatte 1980 den Medici-Preis für ausländische Literatur erhalten, bevor er von der Martinikanerin Euzhan Palcy verfilmt wurde. Sein weithin bekanntes Werk zeugt von den Leiden und der alltäglichen Gewalt, die dieses Land schon seit Generationen erfährt. Häufig wird Brink, insbesondere mit Breyten Breytenbach und Nadine Gordimer, zu der aktiven Minderheit weißer Künstler gezählt, die sich auf die Seite des ANC stellten. Die Werke weißer Schriftsteller wurden in Frankreich im übrigen wesentlich häufiger übersetzt als die ihrer schwarzen Landsleute. In letzter Zeit hat sich André Brink historischen Darstellungen gewidmet, die auch den Wandel seiner Gesellschaft beschreiben und in denen er die Mythen dekonstruiert, die vor allem seine eigene Leute, die Buren, in die Welt setzten.

Am Vorabend der Wahlen, die Nelson Mandela zum Oberhaupt des Landes machen werden, kehrt Kristien Muller nach elf Jahren freiwilligen Exils aus London zurück. Ihre geliebte Großmutter, die kauzige Ouma, liegt im Sterben. Durch ein Attentat, das ihren Hof und ebenso einen märchenhaften Vogelpalast zerstörte, wurde sie schwer verwundet. Ouma weigert sich zu sterben, solange sie der Enkelin nicht die Fackel weitergereicht und die Familiengeschichte erzählt hat. Auf diese Weise durchziehen neun Generationen mythischer Frauen diesen breit angelegten historischen Roman, der dem größten Zulu-Dichter, Masizi Kunene, gewidmet ist, dem „teuren Freund, der das Exil, die Heimkehr, die Geschichten und die Vorfahren kennt.“

Die Schwierigkeit der Rückkehr aus dem Exil stellt eines der Hauptthemen des Romans dar. Die Aussicht auf das Ende der Apartheid bedeutet ein wenig Balsam auf den Herzen der Figuren wie Kristien, Sandile oder des alten Soldaten Thando Kumalo. Bei der Lektüre dieses Romans scheint es, als sei Südafrika auf dem richtigen Weg, auch wenn alles noch sehr zerbrechlich ist: „Die stereotypen Verhaltensweisen schienen ... nicht mehr zu funktionieren. Wir hatten die Welt erstaunt, nun fanden wir uns selbst wie staunend“, gesteht Kristien, die von der endlich wiedergefundenen Menschlichkeit der Gemeinschaft überwältigt ist. Die schweren Hypotheken der Geschichte fallen ab, doch die Gewalt ist immer noch da, vor allem innerhalb des Familienclans. Und die Journalisten eilen wie üblich herbei, hungrig, wie sie sind, durch den Geruch von frischem Blut.

DAS Ende der Apartheid hat der Literatur neue Horizonte eröffnet, und sei es nur durch die Möglichkeit, eine neue Brüderlichkeit zu erfinden. „Les imaginations du sable“ (Die Phantasien des Sandes) ist ein Frauenroman, in dem Männer in vieler Hinsicht nebensächlich sind. Von Ouma Kristina bis zu Kristien Muller sind die Frauen Vorkämpferinnen und erweisen sich als fähig, „alles zu beherrschen, selbst den Tod“. Von ihrem Sterbebett aus wird Ouma zur Scheherazade und fesselt den Leser, indem sie die einzelnen Schichten einer ebenso faszinierenden wie tragischen Genealogie abträgt. Der Roman läßt uns in eine phantastische Welt eintauchen, eine „wunderbare Wirklichkeit“, die Gabriel Garcia Márquez' „Hundert Jahre Einsamkeit“ ebenbürtig ist, oder dem Salman Rushdie aus „Harun und das Meer der Geschichten“: „Dann kam ein Elefant und blies auf die Geschichte, die davonflog.“

Lange waren die südafrikanischen Schriftsteller in ihrer historischen Situation gefangen. Heutzutage suchen sie aus dieser Lage Auswege, die der Phantasie mehr Raum lassen. André Brink nimmt diese Herausforderung auf seine Weise an, indem er das Arkanum der Erinnerung bei den Buren noch einmal aufsucht. Unbestreitbar macht das Erzähltalent seine große Anziehungskraft aus.

ABDOURAHMAN WABERI

dt. Miriam Lang

1 Vom selben Autor sind in deutscher Sprache erschienen: „Blick ins Dunkel“, München (Goldmann) 1993; „Im Gegenteil“, aus dem Englischen von Hans Hermann, Berlin (Volk und Welt) 1994; „Die Nilpferd-Peitsche“, München (Goldmann), Neuauflage 1990; „Die Pestmauer“, München (Goldmann) 1988; „Stein des Anstoßes“, aus dem Englischen von Hans Herrmann, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1987; „Weiße Zeit der Dürre“, München (Goldmann), Neuauflage 1989; „Zeit des Terrors“, aus dem Englischen von Werner Peterich, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1994.

Le Monde diplomatique vom 12.04.1996, von Abdourahman Waberi