10.05.1996

Die Gefahren einer Techno-Utopie

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Die Gefahren einer Techno-Utopie

Von

RICCARDO

PETRELLA *

AUSGEHEND von den Vereinigten Staaten hat sich die Informationsgesellschaft in den letzten Jahren zu einer Techno-Utopie entwickelt, die der Legitimierung und Erklärung des Weltkapitalismus dient. In den hochindustrialisierten Ländern der Welt ist sie zum vorrangigen Ziel des soziotechnologischen und kulturellen Engineering geworden und fördert dabei das eigentliche Ziel des heutigen Kapitalismus, nämlich die Schaffung eines weltweiten Marktplatzes (global market place), auf dem sich die privaten Marktkräfte uneingeschränkt entfalten können.

Der Kapitalismus soll mit einem geschichtlichen Sinn und einem gesellschaftlichen Inhalt versehen werden, die innovativ und mobilisierend wirken.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts und im 20. bis zu Beginn der sechziger Jahre legitimierte sich der Kapitalismus in England, Frankreich, Deutschland, Japan, Amerika und so weiter durch eine doppelte gesamtgesellschaftliche Funktion (wenn auch häufig zu Unrecht): durch den Nutzen für die Nation einerseits und Innovation und Fortschritt andererseits. Die „nationale“ Seite bestand darin, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu gewährleisten, den Interessen der Nation zu dienen, ihre Unabhängigkeit zu unterstützen und langfristig die technische, wirtschaftliche und kommerzielle Basis des Landes zu sichern. Die zweite historische Aufgabe des „nationalen“ Kapitalismus war, durch Planung (mittels der Ingenieure) und Durchführung (mittels Investitionen) die „zweite industrielle Revolution“ zu verwirklichen, die auf Stahl, Zement, Elektrizität, Erdöl und der Mikrobiologie basierte, zu den Eisenbahnen, dem Auto, den Wolkenkratzern, den Telegrafen, dem Telefon, den Impfstoffen und so weiter führte und die Agrar- in eine Industriegesellschaft verwandelte.

Wie kann sich nun der Kapitalismus der Gegenwart legitimieren, der sich zunehmend als global und postindustriell versteht? Seine Anhänger können nicht mehr wie früher sagen: „Was für General Motors gut ist, ist auch für die Vereinigten Staaten gut.“ Niemand würde ihnen mehr glauben, wenn sie behaupteten: „Was für General Motors gut ist, ist auch für die ganze Welt gut.“ Denn das Kapital interessiert sich ausschließlich für die solventen Märkte, das heißt für 1,5 Milliarden von 6 Milliarden Erdbewohnern.

Seine Stellvertreter wiederholen unaufhörlich, daß es nicht ihre Aufgabe ist, Arbeitsplätze zu schaffen, zur Erweiterung der persönlichen Freiheiten beizutragen, die soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten oder die Umwelt für zukünftige Generationen vorzubereiten. Ihre einzige Verpflichtung besteht darin, Gewinne zu erzielen, wo immer es möglich ist, um in dem gnadenlosen weltweiten Wettbewerb zu überleben. Zu diesem Zweck versuchen sie, um jeden Preis Kosten – vor allem Lohnkosten – durch technologische Innovationen zu senken. Die angeblichen Werte Innovation und Fortschritt tragen also gemeinsam mit der Schaffung der „Informationsgesellschaft“ zur erwünschten Legitimation bei.

Seit der Mitte der sechziger Jahre haben die Herolde der Rüstung, der Werkzeugmaschinen, der Elektromechanik, der Telekommunikation, der Banken, der Versicherungen wie auch der Schulen für Handel und Management ebenso wie die Mehrzahl der Politiker immer wieder verkündet, daß die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien nicht nur die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch das Gesamtwerk an Prinzipien, Regeln und Mechanismen, die das Funktionieren der Gesellschaft bestimmen, einschneidend verändern würden, um einer neuen Gesellschaft Platz zu machen.

Die neue Informationsgesellschaft sollte eine allgemeine Verbesserung der Lebensqualität, eine größere individuelle und allgemeine Kreativität, ein Mehr an sozialer Beteiligung und Demokratie und eine größere soziale und kulturelle Integration gewährleisten. Interaktivität und Zugänglichkeit sollten die Schlüsselbegriffe dieser Gesellschaft werden. Die räumliche Aufteilung der Länder und ihrer Städte würde sich verändern. Und vor allem sollte die menschliche Arbeit verändert, bereichert und von den schwersten physischen und materiellen Belastungen befreit werden. Obwohl die Erfahrungen der letzten fünfundzwanzig Jahre gezeigt haben, daß diese Vorstellung auf einer Techno-Utopie fußt, ist in den letzten fünf Jahren eine neue Welle der Aufbruchstimmung und der Euphorie über die westliche Gesellschaft hereingebrochen. Die „Informationsgesellschaft“, so heißt es, stehe vor der Tür, und deshalb sei nun der Bau von Datenautobahnen vordringlich, als notwendige Voraussetzung, um an der Transformation der Industriegesellschaft in eine Informationsgesellschaft teilnehmen zu können und so ins 21. Jahrhundert zu gelangen.

Die neue Botschaft kommt wieder einmal aus den Vereinigten Staaten, wird von Japanern und Europäern allerdings freudig übernommen und dient den Interessen des Weltkapitalismus. Die neue weltweite Aristokratie auf dem Feld der Finanzen, der Medien, der Computer, der Telekommunikation, des Verkehrs und der Freizeit strotzt nur so vor Freude und Selbstgefälligkeit. Sie ernennt sich selbst zum Motor einer Gesellschaft des Wissens und der revolutionierten Intelligenz. Die Legitimität ihrer Macht bezieht sie aus dem Wissensvorsprung und aus dem Bewußtsein, herauszuragen.

Der Kapitalismus, der sich in großer Geschwindigkeit über den Globus ausbreitet, braucht die Infrastruktur, Produkte und Dienstleistungen der „Informationsgesellschaft“. Die weltweit miteinander konkurrierenden Firmenkonglomerate setzen auf die Daten- und Kommunikationsautobahnen, um ihre Geschäfte besser zu regeln (die internen Geschäfte der Multis machen etwa ein Drittel des Welthandels aus), um ihre Eroberungsstrategien zu verfolgen, ihre Normen zu entwickeln und durchzusetzen und um die quasi monopolistischen Positionen zu verteidigen, die sie mittels ihrer Patente auf den Märkten erobert haben.

Das gleiche gilt für den Finanzkapitalismus. Einer der wichtigsten Beiträge der neuen Technologien zur heutigen Wirtschaft war die Beschleunigung der Kapitalbewegungen. Insofern erweist sich die Techno- Utopie der Informationsgesellschaft als hilfreich für die neue Führungsschicht des Planeten, um die Fermente zu propagieren und durchzusetzen, die die Globalisierung, das heißt die vollständige Liberalisierung aller Märkte auf der Welt, vorantreiben.

Den neuen Herren der Welt zufolge bedarf die Informationsgesellschaft neuer Steuerungsmechanismen, die die staatlichen Möglichkeiten übersteigen. Diese Steuerung soll dem weltumspannenden und sich selbst regulierenden Markt überlassen bleiben. Und damit schließt sich der Kreis. Der Weltkapitalismus wird durch die Informationsgesellschaft nicht nur legitimiert, sondern man ermöglicht es ihm auch noch, die Autobahnen der Zukunft zu seinem eigenen ausschließlichen Nutzen zu bauen.

dt. Christian Voigt

* Professor an der katholischen Universität Louvain (Belgien), Mitverfasser von „Limites à la compétitivité“, Paris (La Découverte) 1995.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Riccardo Petrella