10.05.1996

Vom ungleichen Tausch zum gerechten Handel

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Vom ungleichen Tausch zum gerechten Handel

D IE Würde der Produzenten in der Dritten Welt muß respektiert werden, und damit auch die Würde des Verbrauchers. Bei der Gestaltung der Handelsbeziehungen sind das Einkommensniveau, die Vereinigungsfreiheit, das Allgemeinwohl und der Umweltschutz zu berücksichtigen. Es geht darum, die Käufer zu erziehen, die mit ihrem Verhalten für eine bestimmte Gesellschaft optieren. Solche Ideale sind nicht etwa Hirngespinste einiger liebenswerter Weltverbesserer. Mittlerweile steht fest, daß sich die Idee des gerechten Handels etabliert hat und daß die Machtverhältnisse zwischen Nord und Süd durch Beziehungen abgelöst werden können, die das Prinzip der Ausbeutung überwinden.

Von JACQUES DECORNOY

„Es gibt nur wenige, ja sogar sehr wenige Europäer, die sich dazu durchringen können, die Gefühle jener Werkzeuge zu beachten, mit denen Kaffee oder Zucker produziert wird und die man als ,Eingeborene‘ bezeichnet.“

Multatuli, „Max Havelaar“1

Können zwei Tassen Kaffee, die ganz ähnlich schmecken, zwei grundverschiedene politische Botschaften enthalten? Könnte es sein, daß in zwei Tafeln Schokolade, die kaum zu unterscheiden sind, zwei völlig unterschiedliche Geschichten verpackt sind? Können wir uns noch vorstellen, daß in weiter Ferne, am anderen Ende der Nahrungskette, zahllose Bauern sich nach wie vor für andere abschinden, während sie anderswo begonnen haben, für sich selbst zu arbeiten? Ist es denkbar, daß allmählich – nicht in der Theorie, sondern durch langsames und geduldiges Handeln jenseits von Dilettantismus und Flickschusterei – die negativen Triebkräfte der ungleichen Tauschbeziehungen sich in ihrer krassesten Zuspitzung enthüllen? Und wenn die Verhältnisse bloßgestellt und neue Praxisansätze entstanden sind, ließen sich solche Überlegungen dann auch auf benachbarte Bereiche übertragen, etwa auf unsere Informationssysteme (was wissen wir über die Bedeutung der Zeichen, die wir konsumieren?), auf unsere Geldkreisläufe und letztlich sogar auf die Frage, für welche Ziele die völlig entwurzelten Existenzen heute leben?

1957 gründen einige junge Katholiken im Süden der Niederlande eine Vereinigung mit dem Ziel, Waren aus der Dritten Welt zu importieren.2 1964 bestehen die Länder des Südens bei einer Versammlung der Handels- und Entwicklungskonferenz der UN (UNCTAD) auf der Notwendigkeit gerechter Handelsbeziehungen („Handel, keine Almosen“). 1969 wird der erste Dritte-Welt-Laden in den Niederlanden eröffnet, heute sind daraus 3000 geworden. 1988 wird unter dem Namen „Max Havelaar“ die erste Marke für „gerechten Handel“ eingeführt. Was zunächst nur mit Kaffee begann, hat sich bis 1995 erheblich weiterentwickelt: „Die Zahl der Partner, die die Vereinigungen für gerechten Handel im Süden haben, wird auf achthunderttausend Bauernfamilien oder fünf Millionen Menschen geschätzt.“3

1995 wurden unter den diversen Markennamen, die für gerechten Handel stehen, 13500 Tonnen Kaffee nach Europa importiert und verkauft. Ist das nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein? Warten wir ab ... Wenn die Kakaobutter in der Schokolade durch billigere Fette ersetzt wird, sind davon Millionen von Kleinbauern und Arbeitern betroffen. Dagegen haben die verschiedenen Organisationen, die sich für neue Formen des Handels zwischen Nord und Süd einsetzen, eine Kampagne gestartet. Unberührt von solchen Schicksalsfragen zeigen sich indessen die Giganten der Nahrungsmittelbranche, die fortwährend zu neuen Unternehmensgruppen fusionieren, wie zum Beispiel die Schokoladenproduzenten Nestlé/Rowntree, Jacobs/Suchard/Kraft/ Philip Morris und Cadbury/Schweppes oder die Großkonzerne der Fettersatzstoffindustrie, also Unilever, Karlshamms, Fuji Oil und so weiter. Im Vergleich mit diesen Branchenriesen mag der Umsatz des gerechten Handels – etwa 200 Millionen Ecu in Europa – bescheiden wirken. Und das ist er auch, wiewohl er zügig expandiert. Aber das Phänomen läßt sich nicht auf Zahlen reduzieren.

Die (Über-)Lebensbedingungen von Hunderten Millionen Kleinbauern, Arbeitern und Gelegenheitsarbeitern in der Dritten Welt sind bekannt: Isolierung, völlige Abhängigkeit von Aufkäufern und Zwischenhändlern, die ihrerseits keinen Einfluß auf die Weltmarktpreise haben, unsichere Ernten (was im Fall von Monokulturen totale Unsicherheit bedeutet), chronische Verschuldung, fehlendes Eigenkapital, unzureichende technische Hilfsmittel, Unmöglichkeit jeglicher Vorausplanung, Hungerlöhne (Begleiterscheinung aller Arten von Ausbeutung) und unzureichende Bedingungen im Gesundheitsbereich (die noch verschärft werden durch beträchtliches Zusammenstreichen der Sozialprogramme und eine gnadenlose Währungspolitik). All dies führt unausweichlich zur Entwurzelung der betroffenen Menschen, die in unregierbare Städte strömen, wo die unkontrollierte Einwanderung allenthalben Alarm auslöst ... Gegen diese von Zynismus und Gewinnsucht durchtränkte Welt können sich die Kleinbauern nicht wehren, wenn sie keine Gelegenheit haben, sich untereinander zusammenzuschließen, oder auch mit anderen Partnern, die mit den herrschenden unberechenbaren Zuständen brechen wollen.

Es ist eine langwierige Aufgabe, die nur tastend vorankommt und viel freiwilliges Engagement erfordert. Und die am Ende in einem Bericht des Europäischen Parlaments lediglich mit folgender Feststellung gewürdigt wird: „So erstaunlich es auch sein mag, im Dschungel des internationalen Handels gibt es doch einige ,Nischen‘ im Zeichen der Gerechtigkeit und der Solidarität: ,Fair Trade‘, ,Commercio equo et solidale‘ und ,Gerechter und partnerschaftlicher Handel‘ sind einige Bezeichnungen aus einem Wirtschaftsbereich, der immer noch zu einem großen Teil im verborgenen und in Verbund mit Vereinigungen wie Artisans du monde, Weltladen, Oxfam, Max Havelaar, SOS Wereldhandel, TransFair oder CTM (Cooperazione Terzo Mondo) operiert.“4

Im verborgenen? Das stimmt immer weniger, auch wenn die Situation in Westeuropa aus vielen Gründen von Land zu Land, ja sogar von Region zu Region ganz unterschiedlich ist. Beweis dafür ist der erste europäische Aktionstag, der am 11. Mai 1996 unter dem Motto „Für einen gerechten Handel mit Afrika“ stattfindet und von News, einem internationalen Verbund der Dritte-Welt-Läden aus dreizehn Ländern, veranstaltet wird. Ein weiterer Beweis ist die Kampagne, die in Frankreich unter dem Motto „Freiheit für deine Klamotten“, aber auch in Kanada, Australien und Japan durchgeführt wird und die Nord-Süd-Beziehungen im Textil- und Bekleidungsbereich anschaulich machen soll.5 Im wallonischen Teil Belgiens gibt es dazu eine sehr eindrucksvolle Wanderausstellung. Eine weitere sichtbare Aktion ist die Kampagne zum Thema Schuhe, die bekanntlich von (fast) allen Menschen getragen werden. Sie richtet sich an Hersteller und Händler, aber informiert natürlich auch die Verbraucher.6 Und so tritt den Vertretern der weltweiten Wegwerfideologie auf einmal die alte, immer noch gültige Analyse der Dritte-Welt-Gruppen entgegen; und die ist heute gewiß weitaus „gefährlicher“ als früher, geht es doch nicht mehr nur um die Machtbeziehungen zwischen Nord und Süd, sondern um die Entscheidung für einen bestimmten Gesellschaftstypus, hier wie dort.

Das „hier wie dort“ gilt tatsächlich, denn wenn der Handel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit stattfindet, werden damit die Mechanismen von Herrschaft angetastet. Aber gilt dies für die Mechanismen in allen Bereichen? Sicher nicht, und man muß sogleich auch auf die Grenzen des ganzen Unterfangens hinweisen: Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird es sich nicht – oder zumindest nicht direkt – auf weite Bereiche der Industrieproduktion oder der Dienstleistungen auswirken können. Man wird sich vielmehr auf einige Grundprodukte und auf das Handwerk beschränken müssen. Aber was die Grundprodukte anbelangt, handelt es sich um einige Schlüsselsektoren, die 60 oder gar mehr als 80 Prozent der Exporte eines Landes ausmachen (beim Kaffee gilt dies für Ruanda, Burundi und Uganda).

Die vorrangige Aufgabe gerechten Handels besteht darin, die Bauern aus ihrer gegenwärtigen Leibeigenschaft zu befreien, das heißt aus den Lebensbedingungen, denen sie sich ausgesetzt sehen. Zu diesem Zweck ist ein System zu schaffen, das die Zwischenhändler zwischen dem verkaufenden Produzenten und dem Endverbraucher möglichst weitgehend ausschaltet. Es muß ein Einkaufspreis festgelegt werden, der in den meisten Fällen über dem Weltmarktpreis liegt, welcher in der Regel nichts mit den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen zu tun hat. Die Arbeit muß vorfinanziert werden, und es muß mehr oder weniger langfristige Verträge geben (dies wäre eine Sicherheit, ohne die es keinen Handel in Würde geben kann). Darüber hinaus müssen technische Hilfsmittel bereitgestellt werden, die für die Produktqualität, für die Verwaltung und für die Ausbildung wichtig sind. All das müßte geschehen, ohne die Produzenten des Südens an die Käufer des Nordens zu binden, es sei denn durch den Anspruch auf Gerechtigkeit.

Es bedeutet eine Abkehr von der philosophischen Basis des „klassischen“ Handels, wenn man darauf aus ist, den Partner zu stärken anstatt ihn auszubeuten oder von seinen Fehlern und Schwächen, von seiner Unbeweglichkeit oder seiner Unwissenheit zu profitieren. Eines der angestrebten Ziele ist die Hilfe bei der Erschließung neuer Produktions- und Absatzmöglichkeiten, womit dem zunehmenden Trend entgegengewirkt wird, die Landwirtschaft nach den wirklichen oder auch nur vermeintlichen Bedürfnissen des Verbrauchers im Norden zu organisieren. Diese alte Praxis hat Multatuli schon 1860 in seinem oben zitierten Roman angeprangert: „Die (niederländische) Regierung zwingt den (javanischen) Bauern dazu, auf seinem eigenen Land die Pflanzen anzubauen, die die Regierung ausgesucht hat. Sie bestraft ihn, wenn er seine Ernte an jemand anderen als an den Staat verkauft. Und sie setzt den Preis fest, der diesem Bauern gezahlt wird.“7

Aber wenn man den Partner stärken will, muß man auch die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern, in denen er lebt. Deshalb gilt es vor allem auch, die Regeln zu respektieren, die vielfach über diejenigen hinausgehen, die von der Internationalen Arbeitsorganisation (oft der einsame Rufer in der Wüste) in ihren Vereinbarungen festgeschrieben wurden: demokratisches Funktionieren der Kooperativen, gerechte Bezahlung ihrer Mitglieder und Mitarbeiter (der Vertrag mit einem großen indischen Spielzeughersteller wurde gekündigt, als man entdeckte, daß die Arbeiter nicht den angegebenen Lohn erhielten), Umweltschutz, Verwendung der Gewinne (soweit vorhanden ...) für produktive Investitionen zugunsten von Arbeitsplätzen und für Gemeinschaftseinrichtungen im Gesundheits- und Ausbildungsbereich. Darüber hinaus werden Organisationsformen gefördert, die über die Größe der örtlichen Kooperativen hinausreichen.

So ist die Frente Solidario de Pequeños Cafetaleros de América Latina entstanden, die in allen kaffeeproduzierenden Ländern des Kontinents vertreten ist und mehr als 200000 Kleinbauern vertritt. Der Sitz der Frente Solidario ist Costa Rica, geleitet wird die Organisation von einem Guatemalteken. Die europäischen Organisationen für gerechten Handel sind am Geschäftsvolumen gemessen nicht der größte Kunde, wohl aber hinsichtlich der erzielten Überschüsse. Ein anderes Beispiel sind die sechshundert Teepflanzer aus dem Honde Valley in Simbabwe, die sich in Verbindung mit einem halbstaatlichen Unternehmen, das Verarbeitung und Export übernimmt, zusammengeschlossen haben, um für ihre Produktion die Möglichkeiten des gerechten Handels zu nutzen und somit soziale und wirtschaftliche Entwicklungsprogramme finanzieren zu können. Ein weiteres Beispiel sind die Tausende von Bienenzüchtern im mexikanischen Chiapas, die Kooperativen gebildet haben und mit Hinweis auf die Bedingungen, die sie mit den transatlantischen Partnern aushandeln, höhere Preise auch bei den lokalen Käufern durchsetzen können. Mit anderen Worten: Die Verbesserung der Nord-Süd-Beziehungen trägt auch dazu bei, bestimmte Machtverhältnisse vor Ort zu verändern.8

Vierzig Jahre nach den ersten konkreten Schritten hat sich in Europa ein System etabliert, das erstaunlich breitgefächert und doch flexibel genug ist, um sich unaufhörlich auszuweiten. Es handelt sich um ein dichtes Geflecht aus Initiativen, die sich um eine Verbindung zwischen höchster fachlicher Kompetenz (Laboratorien, genaue fachliche Kenntnisse für lobbyistische Bemühungen vor allem in Brüssel, Beobachtung der Weltmarktpreise bestimmter Produkte und der Auswirkungen von neuen Formen der Handelsorganisation) und informellen persönlichen Beziehungen zu den überall neu entstehenden NGOs bemühen. Diese Kontakte sind notwendig, um die Erfolgsaussichten zu sondieren, wenn es etwa um den Import von Tamarindenkonfitüre aus Laos oder von handwerklich gefertigten Lederwaren aus Kalkutta geht, oder um den Aufbau einer Verkaufskette für Reis aus Nordostthailand (innerhalb von achtzehn Monaten).

Nach und nach haben sich so Strukturen (offenbar ohne bürokratische „Verunreinigungen“) herausgebildet, die sich in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedlich rasch immer weiter ausbreiten. Dabei liegt „Zentraleuropa“ (Beneluxländer, Deutschland, Schweiz und Großbritannien) weit in Führung vor Südeuropa (inklusive Frankreich) und sogar vor Nordeuropa, das man – aufgrund der sozialdemokratischen Tradition und des Interesses für die Dritte Welt – weiter vorne erwartet hätte.

Auch wenn sich die Aufmerksamkeit inzwischen eher auf das Vorgehen der supranationalen Organisationen für gerechten Handel richtet, hat die Bewegung ihre historischen Wurzeln doch in einer Basis, die immer wieder je nach den lokalen Gegebenheiten neue Erfahrungen beisteuert. Im flämischen Teil Belgiens wird seit fünf Jahren im Durchschnitt jeden Monat ein Dritte-Welt-Laden eröffnet. Im wallonischen Teil des Landes entwickeln sich die „J'M“ (Jeunes Magasins du monde), die jungen Dritte-Welt-Läden, in denen man sich den Zustand der Beziehungen zwischen Nord und Süd vor Augen führen kann, wobei die Schüler vom ganz bewußten Gebrauch dieses oder jenes Nahrungsmittels ausgehen. (Dieses Herangehen ist weitaus seriöser als das traurige Unternehmen, das vor einiger Zeit in Frankreich ablief, als eine Reissammlung für Somalia von einem Minister initiiert wurde, der damit nur ins Fernsehen kommen wollte.)

Durch viele Initiativen, die großenteils von freiwilligen Helfern getragen werden, wird der „politische Gehalt“ einer Tafel Schokolade oder einer Ledertasche anschaulich gemacht, während die anonymen Produzenten im Süden erleben, wie sich ihre Situation verbessert. Und News, die Organisation, die die Dritte-Welt-Läden koordiniert, veranstaltet Konferenzen (die letzte vom 16. bis zum 18. Februar in Salzburg) mit hochqualifizierten Referaten und hilft damit den einzelnen Läden, ihre Aufgabe als Orte der Begegnung und der Aufklärung wahrzunehmen.9

Aber die Organisation des gerechten Handels geht über dieses Ladennetz hinaus. Und wiederum haben die Niederlande eine Vorreiterrolle gespielt, denn dort tauchte 1988 erstmals das Etikett „Max Havelaar“ auf den Kaffeepackungen auf. Es war eigentlich keine Marke, sondern bestätigte, daß dieses Produkt (von der Pflanzung in Kolumbien oder Uganda über den Röstbetrieb bis zum Supermarkt in Europa) den strengen (im Norden und im Süden gültigen) Normen des gerechten Handels entspricht. Heute gibt es in Europa für Kaffee, aber auch für Tee, Schokolade (Kakao, Zucker), Honig und so weiter drei Marken nebeneinander: Fairtrade Mark (Irland, Großbritannien), TransFair (Deutschland, Österreich, Luxemburg, Italien) und Max Havelaar (Niederlande, Belgien, Frankreich, Dänemark, Schweiz).

In diesen Kreisen kennt man sich untereinander und entwickelt die Kontakte schrittweise fort, vom Brainstorming und zahllosen Projekten auf informeller Ebene bis zur Schaffung organisatorischer Voraussetzungen, um die verschiedenen Aktionen in Europa und im Süden zu verknüpfen und aufeinander abzustimmen. So kam es 1990 zur Gründung der Europäischen Vereinigung für Gerechten Handel (Efta), die dreizehn Organisationen aus zehn Ländern umfaßt (siehe Kasten).

Entsprechend der Geschichte, den Traditionen, den Kapazitäten und den Mitteln hat sich eine Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedern der Vereinigung ergeben: Die deutsche Gepa befaßt sich insbesondere mit den europäischen Normen für Spielzeug aus der Dritten Welt und für Biokulturen. Die Schweizer O.S. 3 widmet sich vor allem den Fragen, die mit Schokolade zusammenhängen (philippinischer Zucker, bolivianischer Kakao und so weiter). Die Efta beobachtet sehr genau die Entwicklung des Verbraucherverhaltens und steht in ständigem Kontakt mit den Produktionskooperativen in Landwirtschaft und Handwerk. Auch der Untersuchung und der Beeinflussung der auf europäischer Ebene gefällten Entscheidungen schenkt sie verstärkte Aufmerksamkeit. Denn die Anhänger des gerechten Handels haben natürlich eine europäische Vision, die der dominierenden Vision von Markt und Profit diametral entgegensteht.

Von daher versteht sich die unablässige Arbeit des Informierens, Erklärens und Druckausübens gegenüber den EU-Institutionen. Am 18. Januar 1994 verabschiedete das Europäische Parlament auf der Grundlage eines Berichts des italienischen Abgeordneten Alexander Langer eine Resolution „über die Förderung der Gerechtigkeit und der Solidarität im Nord-Süd-Handel“. Eine Reihe von Ideen wurde den Verantwortlichen der EU als Vorschläge unterbreitet: für ein europäisches Kaffeeabkommen, für die Beteiligung der Produzenten an den internationalen Verhandlungen über den Handel und für eine weitergehende Öffnung Europas für Produkte, die das Etikett des gerechten Handels tragen (das als ein Schlüsselelement für eine Politik der dauerhaften Entwicklung angesehen wird).

Im Mittelpunkt der Diskussionen steht gegenwärtig das bereits erwähnte heikle Vorhaben, die Verwendung anderer Fettstoffe als der Kakaobutter für Schokolade zu erlauben. Seine Verwirklichung würde Hunderttausende von Kleinbauern ruinieren. In dieser wie in vielen anderen Angelegenheiten müssen die Machtverhältnisse und die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Europäischen Kommission berücksichtigt werden: Die GD 3 (Generaldirektion Industrie und Wettbewerb) und die GD 6 (Landwirtschaft) haben für die Verfechter des gerechten Handels kein so offenes Ohr wie die GD 8 (Entwicklung und Zusammenarbeit). Letztere gewährt insbesondere Zuschüsse für Aktionen zur Information und Sensibilisierung der öffentlichen Meinung, die in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Assoziationen der NGOs durchgeführt werden.

Auf der einen Seite hört man Lobgesänge auf den sakrosankten Wettbewerb, auf der anderen Aufrufe zu Vernunft und Solidarität. Es ist bekannt, nach welcher Seite sich bislang – bei den europäischen Instanzen wie anderswo – die Waagschale neigt. Niemand will auf die prophetischen Stimmen hören, die der Union vorschlagen, den gerechten Handel zu ihrem Gesetz zu erheben, um sich zu ersparen, was höchstwahrscheinlich auf sie zukommen wird: künftige bewaffnete Interventionen im Süden und alle möglichen Krisen auf ihrem eigenen Territorium.

Die Idee und die Praxis des gerechten Handels gewinnen jedoch an Boden, und zwar mit Hilfe erfolgreicher Läden und gut sortierter Verkaufskataloge, mittlerweile aber auch über die großen Supermarktketten. Auch die vertreiben zunehmend Waren mit solchen Etiketten, weil sie Rücksicht auf die entsprechenden Kundenwünsche nehmen müssen.10 Die so ausgezeichneten Waren – und das ist die beste Bestätigung – haben in den Niederlanden 2,4 Prozent und in der Schweiz 3,5 Prozent des Kaffeemarktes erobert (die Importe sind von 1380 Tonnen 1988 auf 13500 Tonnen 1995 gestiegen). Die Zunahme dieses Phänomens (zum Beispiel ein Zuwachs von 20 Prozent pro Jahr im wallonischen Teil Belgiens) stellt eine Herausforderung für die Verantwortlichen der Bewegung dar, die sich zugleich mit einem immer stärker werdenden Druck aus dem Süden und mit den Problemen der Finanzierung von Vorhaben im Süden wie im Norden konfrontiert sehen (was für die Zukunft die Frage nach alternativen Kreditsystemen aufwirft).

Ebenso müssen bei der Bezahlung der Produzenten und der Festsetzung der Verkaufspreise die ständigen spekulativen Preisschwankungen und die Launen der Wechselkurse berücksichtigt werden. Vor allem aber geht es um die Würde des Bauern in Simbabwe oder Guatemala. Eine starke Minderheit der Verbraucher in Europa (und allgemein auf der nördlichen Halbkugel) – natürlich nicht die mit den geringsten Einkommen – ist bereit, etwas mehr für ein Produkt auszugeben, das im Süden unter „anderen“ Bedingungen produziert wurde.

In einer Zeit des Zerfalls der gesellschaftlichen Strukturen, des schwindelerregenden Anstiegs der Arbeitslosenzahlen, der geistigen Orientierungslosigkeit, des ideologischen Feldzugs im Namen der „Globalisierung“, der das Bewußtsein um die Nord-Süd- und die Klassengegensätze aus den Köpfen löschen soll, in einer Zeit beschleunigter Machtballung im Bereich der Industrie und der Finanzen und der abgrundtiefen Belanglosigkeit offizieller linker Positionen gibt es dennoch Kräfte, die diese Gewißheiten durchlöchern und jenseits der offiziellen Kreise das blutleere politische Leben reaktivieren. Der gerechte Handel ist eine jener Schulen, in denen eine neue Suche nach Sinn beginnt. Die setzt einerseits auf hohem Niveau an, was die Qualität der geleisteten Arbeit betrifft, andererseits muß sie noch vornehmlich symbolis

1 Multatuli, „Max Havelaar. Die Kaffeeversteigerung der Niederländischen Handelsgesellschaft“, aus d. Niederl. v. Martina den Hertog-Vogt, Les Bois (Schweiz; Bruckner und Thünker) 1993. Die niederländische Originalausgabe dieses Klassikers der antikolonialistischen Literatur stammt aus dem Jahre 1860. Der Autor, dessen eigentlicher Name Eduard Douwes Dekker (1820-1887) lautete, arbeitete in der Kolonialverwaltung von Niederländisch-Indien. Zu seinem Gesamtwerk vgl. die Zeitschrift Septentrion, Nr. 1, Rekken (Belgien) 1996.

2 Vgl. Europäische Vereinigung für Gerechten Handel (Efta; Witmakersstraat 10, Maastricht, Niederlande), „Commerce équitable. Memento 1995“. In dieser Studie werden die wichtigsten Themenbereiche behandelt: Kaffee, Tee, Leder, Kakao, Zucker, Bananen, Textilien.

3 Ebd. Siehe auch die sehr gut dokumentierte Analyse „An Alternative Report on Trade. An NGO perspective on international trade“ der International Coalition for Development Action (ICDA), 115, rue Stévin, Brüssel, 1995.

4 In: „Bericht der Kommission für Entwicklung und Zusammenarbeit über die Entwicklung der gerechten und solidarischen Nord-Süd-Handelsbeziehungen“, Berichterstatter Alexander Langer, Europäisches Parlament, Sitzungsdokument vom 24. November 1993.

5 In Frankreich koordiniert diese Aktionen die Fédération Artisans du monde, 4, rue Franklin, 93200 Saint-Denis, die eine Dreimonatszeitschrift Commerce équitable herausgibt (Nr. 1, 1. Trimester 1996).

6 Die Koordinierung in Frankreich leitet: Agir ici – Pour un monde solidaire (in Zusammenarbeit mit sieben anderen Organisationen aus dem Ausland), 14, passage Dubail, 75010 Paris.

7 Multatuli, op. cit. Siehe auch Edward Goldsmith, „Neue Kolonialreiche und neue Formen der Abhängigkeit“, Le Monde diplomatique, April 1996.

8 Vgl. Commerce équitable, op. cit. Weitere Quelle waren Gespräche mit den Verantwortlichen für die europäischen Vertriebsnetze.

9 Siehe zum Beispiel den von Brid Bowen vorgelegten Bericht über den Handel mit dem südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas: „Background Paper on Africa (especially Sub-Saharian Africa) on Trade and the Role of Lobbying in Making that Trade Fair(er)“. Dieser Text soll dazu dienen, den Druck auf die europäischen Institutionen zu verstärken und für den europäischen Aktionstag am 11. Mai 1996 werben.

10 Zur diesbezüglichen Lage in den einzelnen Ländern siehe die Untersuchung „Fair Trade in Europe“, Efta, 1995. Die Beziehungen zwischen den Organisationen, die für einen gerechten Handel arbeiten, und den europäischen Institutionen sowie die Vorschläge für eine andere Politik werden behandelt in Commerce équitable, op. cit., S. 36-45.

11 Das führt zum Beispiel auch zu einem Nachdenken über die Zukunft unserer Gesellschaft. Siehe hierzu „Le travail en question“ (Vorwort von Riccardo Petrella), eine Untersuchung, die 1995 von den Organisationen Orcades (Frankreich), Déclaration de Berne (Schweiz) und Les Magasins du monde – Oxfam (Belgien) durchgeführt wurde.

12 Multatuli, op. cit.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Jacques Decornoy