10.05.1996

Internet zwischen Entsetzen und Ekstase

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Internet zwischen Entsetzen und Ekstase

War das Internet vor knapp zwei Jahren in der Öffentlichkeit noch kaum bekannt, so hat es sich inzwischen zu einem gesellschaftlichen Phänomen entwickelt, das Begeisterung und Kontroversen auslöst – wie so oft, wenn eine technische Neuerung zur Modeerscheinung wird. Die Ursprünge des Netzes gehen zwar auf das Ende der sechziger Jahre zurück, doch kam es erst 1974 wirklich in Gang. Damals richtete Vint Cerf, ein Professor in Los Angeles, ein Protokoll ein, wonach alle Computer miteinander verbunden werden können, und nannte das Ergebnis „Internet“. Er hatte erkannt, daß auch Computer Herdentiere sind und in Verbindung mit anderen Computern am effektivsten arbeiten.

Der massive Ausbau der Internet-Galaxie ist jedoch neueren Datums. 1989 gründeten Forscher in Genf das World Wide Web, das auf einer Hypertextkonzeption beruhte, damit die nichtlineare Suche von Dokumenten in Datenbanken ermöglichte und das Internet in ein benutzerfreundlicheres Netz verwandelte. Dank dieser Neuerung verdoppelt sich die Zahl der angeschlossenen Computer nun jedes Jahr und die der Web-sites alle drei Monate. E-Mail, Diskussionsforen und Archivnutzung sind die Leistungen, die am häufigsten genutzt werden und am schnellsten, einfachsten und am wenigsten kostenaufwendig sind. Das Regelwerk von Internet ist feingesponnen, es ist öffentlich und nicht im Besitz eines kommerziellen Unternehmens. Als unzerstörbares, dezentralisiertes und der Allgemeinheit eigenes Netzwerk ist das Internet eine Wiederbelebung der Utopie von einer weltweiten, harmonischen Gemeinschaft der Menschen, in der jeder die anderen braucht, um seine Kenntnisse zu vervollkommnen und den Geist zu schärfen.

Doch während noch immer drei Viertel der Menschheit davon ausgeschlossen sind, machen sich bereits Sekten und Pornographen im Netz breit, und kommerzielle Unternehmen versuchen, es unter ihre Kontrolle zu bekommen. Es stellen sich viele neue juristische, ethische und politische Probleme. Die Bürger müssen sich das Netz aneignen, bevor die Mastodonten der Finanzwelt, der Medien und des Freizeitbereichs es zu ihrem eigenen und ausschließlichen Nutzen tun.I. R.

(Dossier Internet auf den Seiten 4 bis 9)

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von I.R.