10.05.1996

Schlachthof und Streichelzoo

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Schlachthof und Streichelzoo

Von

FLORENCE

BURGAT *

ZWAR fehlen bislang die völlig unwiderlegbaren Beweise für die Vermutung, daß der „Rinderwahnsinn“ auf den Menschen übertragen werden kann. Dennoch löst dieser Verdacht bei Verbrauchern und politisch Verantwortlichen eine berechtigte Furcht aus. Könnte dann die um sich greifende Fleischverweigerung nicht die Gelegenheit bieten, über den besonderen Charakter dieses Produktes nachzudenken? Wie wäre es, einmal in dem Stück Fleisch das Tier wahrzunehmen, einen Augenblick bei jener Logik zu verharren, die die Verwandlung von Tieren in Nahrung ermöglicht? Und wie wäre es, einmal jene nicht nur mit Spott zu bedenken, die getreu einer Fragestellung, die auf Pythagoras zurückgeht, fleischliche Nahrung verweigern? Eine Nahrung, die im übrigen dank Zuchtmethoden und industrieller Schlachtung einerseits im Überfluß vorhanden, andererseits abstrakt geworden ist.

Elisabeth de Fontenay eröffnet ihre Analyse der „Abhandlungen über die Tiere“ von Plutarch1 mit dem Phänomen der „wahnsinnigen Rinder“, die zu Fleischfressern geworden sind; sie zeigt auf, in welchem Sinne uns diese Texte zu einem Nachdenken über unsere technische Modernität auffordern. Plutarch macht sich seine Gedanken über das Grauen des Schlachtvorgangs: „Welche Neigung, welcher Mutwille oder welcher Beweggrund ließen jenen Menschen, der einst als erster totes Fleisch an seinen Mund führte, zur Tat schreiten (...), sich leblose Körper auftischen, Ebenbilder sozusagen, und sich Teile von Tieren als Nahrung geben, die kurz zuvor noch blökten, muhten, liefen und sehen konnten? Wie können seine Augen es ertragen, einen Mord zu schauen? (...) Wie konnte sein Geschmack nicht angeekelt sein von dem grauenvollen Schauspiel, im Unflat der Wunden zu wühlen?“2

Keiner wagt es heute, die Fleischfresser beim wollüstigen Mahle zu stören. Zwei fremde Ordnungen prallen da aufeinander: die Distanz, die zwischen der schillernden Welt fleischlicher Genüsse und der der warmen, sanften Tiere liegt, die nach der Behandlung am Fließband den Schlachthof als kopflose, steife Gerippe verlassen, ist schier unvorstellbar. Die Diskussion um den „Rinderwahnsinn“, bei der es nur um den Gesundheitsaspekt geht, verschleiert das Schicksal und die Lebensbedingungen des Schlachtviehs, das als schuldig angesehen wird, auf keinen Fall jedoch als Opfer. So stellt Alain Finkielkraut, wenn er „Mitleid mit den Kühen“ fordert, fest, daß „die Opfer die Tiere sind. Sie sind es, die bezahlen müssen“.3

Tiere, die krank sind oder auch nur verdächtig aussehen, deren Blut nicht rein ist, werden vernichtet: Die Kamera ist auf eine Kuh gerichtet, die taumelt und auf dem Zementboden zusammenbricht. Die nächste Einstellung soll den Fernsehzuschauer beruhigen: Da werden Verbrennungsöfen gezeigt, in die man die großen Kadaver mit steifen, gen Himmel gerichteten Beinen hineinstößt, das alles unter einem von Qualm verdunkelten Himmel. Die Schwerfälligkeit der Verwaltung und die für diese Arbeit benötigte Zeit haben die englischen Behörden darauf gebracht, eventuell die Gerippe als Brennstoff zu benutzen, um Energie zu erzeugen.4 Die Bezeichnung „Rinderwahn“ selbst klingt geradezu lustig, irgendwie kindlich: Er erinnert an Bison futé5 und läßt keinesfalls den Gedanken an einen vom Tode gezeichneten, leidenden Körper aufkommen, den niemand zu heilen gedenkt.

Um die Transparenz der Transportwege für Rindfleisch in Frankreich zu illustrieren, werden in Dokumentarfilmen Kälber gezeigt, die an dem Gerippe ihrer Mutter saugen, und dazu schwärmt ein Metzger von der Fleischqualität. Diese Verkürzung, in der der Übergang vom Tier zum Fleisch wie etwas Selbstverständliches dargestellt wird, zeigt, wie weit wir uns von der Welt der Tiere entfernt haben. Und wer würde es im übrigen wagen, vom Fleisch anders als in gastronomischen Begriffen zu reden? Oder in dem noch trockeneren, für eine Banalisierung jedoch noch dienlicheren Fachvokabular der Ernährungslehre?

„Im zarten Fleisch der Schlachtbank schreit sich eine rote Papierrose zu Tode“, und „ein Fleischfresser im Frack geht an der Blume vorbei und hört und sieht sie nicht.“6 Eine abstrakte Substanz, ein Kontinuum, eine ursprungslose Materie. Wenn die Viehzüchter nun beschlossen haben, französisches Fleisch kenntlich zu machen, wird dieses Anonymat jedoch in keiner Weise angetastet. Fleisch muß Spaß machen, die Lust am Essen soll von aller empathischen Beunruhigung entbunden sein, daran gemahnen uns unablässig die festlichen Bilder der Werbung.

„Die Metzgerei – ein Ort der Unschuld“

KOMME da nur keiner auf die Idee, sein Ohr an das reglose Fleisch zu legen. Er könnte den rauhen Atem des dahinscheidenden Tieres vernehmen. Das Mitleid für das Elend der Nutztiere verliert sich schnell, wenn das Schauspiel ihres Leidens im verborgenen stattfindet und ihre Ausbeutung durch die Kraft wirtschaftlicher Argumente gerechtfertigt ist. Vom Leidensweg des Tieres weiß der Konsument nichts, und er will es auch gar nicht wissen: Nicht umsonst sind der Ort des Tötens und der des Verkaufs sauber getrennt, und derjenige, der tötet, ist nicht mehr der, welcher verkauft. Die tatsächliche Gegenwart des Todes wird der Wahrnehmung entzogen, und genau dadurch erscheint die Möglichkeit der Ernährung mit Fleisch als immer undenkbarer: Sie rückt in den Bereich des Unvorstellbaren, woran nichts mehr anknüpft.

Die Aufgabenteilung hat dazu beigetragen, die Trennung zwischen Tier und Fleisch zu festigen und erspart uns so das Nachdenken darüber. Verschiedene Zwischenschritte und Vermittlungen führen zur Aufhebung des Verbots und zur Abschaffung jedes Gefühls für Schuld und Verantwortung. Man kann nicht die Lebens- und Todesumstände von Schlachtvieh beklagen und gleichzeitig diese Umstände durch den täglichen Konsum von Fleisch selbst verursachen. Diejenigen, die aus ethischen Gründen darauf verzichten, zeugen von einer kritischen Haltung gegenüber einem sehr starken gesellschaftlichen Herdentrieb und von einem ernsthaften Willen, ein Nachdenken darüber zu bewirken, was Fleisch wirklich ist.

Die Geschichte vom Zerlegen und Garnieren des Fleisches zeigt eindeutig eine Veränderung in der Darbietung von Fleischprodukten: Die mit Zellophan überzogenen Plastikschalen in den Auslagen haben, wie Pierre Gascar schreibt, nach und nach „einen autonomen Status erreicht, eine Wirklichkeit, die sich gegenüber dem Zusammenhang, dem sie angehören, verselbständigt hat. (...) Die Metzgerei ist ein Ort der Unschuld.“7 Für die meisten Kinder stellt sich zwischen dem Fleisch, welches sie mit ihren Eltern im Supermarkt kaufen, und den extrem vermenschlichten Tieren in ihren Comics kein Zusammenhang her. Wenn sie sich jedoch dessen bewußt werden, sind viele von ihnen schockiert, angeekelt.

Der Rückgriff auf Argumente wie Tradition und ausgewogene Ernährung, oder die Praktiken der Werbung seit Anfang des Jahrhunderts – die darin bestehen, das Einverständnis des Tieres zu inszenieren, ein Gerippe zu werden und somit seine Schlachtung mit Humor zu nehmen – tun ein übriges, um den Fleischkonsum von jedem ethischen Unbehagen zu befreien. Kurz, es geht darum, diese Sichtweise als selbstverständlich und gleichzeitig jede Art von Mitgefühl als Ausdruck unangebrachter Gefühlsduselei darzustellen.

Die Gleichgültigkeit gegenüber den Lebensbedingungen von Schlachtvieh in Ländern, in denen viele Menschen mit Haustieren zusammenleben, sollte Verwunderung hervorrufen. Die Konfrontation mit einem Wesen, das Bedürfnisse und Wünsche äußert, Zärtlichkeit gibt und nimmt, mit Menschen Gefühle teilt, könnte der Köngsweg zur Weigerung sein, das Tier auf eine Produktionsmaschine zu reduzieren. Aber ganz offensichtlich wird diese Verbindung nicht gezogen. Die Rollenverteilung zeichnet sich innerhalb der Tierwelt ab: Da gibt es Edle und Mischlinge, solche zum Liebhaben und solche zum Essen.

Man sollte übrigens nicht glauben, daß Haustiere wirklich so sehr Gegenstand der Fürsorge sind: Die Zahl ausgesetzter Tiere steigt, wie die vom Landwirtschaftsministerium herausgegebenen Zahlen beweisen. Der an der Autobahn zurückgelassene Hund stellt jedenfalls eine ernstzunehmende Verdrehung solch angeblicher Tierliebe oder sogar Tiervergötterung dar, die man von einer ethischen Besorgtheit um die Lebensbedingungen der Tiere im allgemeinen streng unterscheiden muß. Und werfen die belustigten Bemerkungen, die der Anblick oder die Erwähnung tierischen Leids hervorrufen, nicht viel eher Fragen nach der Humanität derer auf, die sie äußern?

Angst und Patriotismus

BEMERKENSWERT ist in diesem Zusammenhang auch die falsche Empörung über die Hunde- und Katzennahrung aus der Büchse, die ja nur einen Skandal unter vielen darstellt. Denn diejenigen, die behaupten, für die hungernde Bevölkerung Partei zu ergreifen, pflegen zwar die Tiernahrung unerträglich zu finden, nicht aber die Tatsache, daß wir, die Menschen, uns pantagruelistische Gelage gönnen. Ausgerechnet diese aus den überflüssigen Teilen hergestellte Pampe, also die Schlachtabfälle, die für die menschliche Ernährung ungeeignet sind, ziehen den Sarkasmus dieser „Menschenfreunde“ auf sich. Und wenn wir schon bei der Verteilung des Nahrungsreichtums sind: Jeder weiß heute, daß ein guter Teil der Pflanzenproteine aus Ländern stammt, in denen gehungert wird, um jene Tiere zu mästen, die wir essen.8

Die Diskussion um den „Rinderwahn“ wird einseitig durch die Sorge um die Gesundheit bestimmt. In Frankreich wächst sich diese zu einer Mischung aus Angst und Patriotismus aus, die man unter der Forderung „Eßt französisch!“ zusammenfassen kann. Nichts wird über die leidenden Tiere gesagt, die unsere „widernatürliche Landwirtschaft“9 sterbenskrank gemacht hat. Nichts über die als „natürlich“ suggerierte Bestimmung von Milliarden von Tieren für die Schlachtbank. Wenn dem Fressen und Gefressenwerden der Lebewesen untereinander vitale Gründe zugrunde liegen, in den meisten Fällen ein „Naturgesetz“, so stellt die Maßlosigkeit, der wir uns mit Hilfe industrieller Produktionsmethoden überlassen, einen nicht nur graduellen, sondern einen grundlegenden Unterschied zu den Jagdgepflogenheiten von Bevölkerungsgruppen dar, die keine anderen Ernährungsmöglichkeiten haben und für die immer schon – und immer noch – ein Prinzip der Beschränkung gilt. Die Handlung, ein Tier zu töten, um sich davon zu ernähren, müßte den Charakter einer Ausnahme, einer Übertretung behalten, eine schwerwiegende Tat bleiben. Aber genau dies hat die industrialisierte Aufzucht und Schlachtung wie einen Aberglauben weggefegt, als poetische, prälogische Haltung, als schlichtweg irrational. Als man auf die Idee kam, daß Grasfresser sich an fleischliche Nahrung gewöhnen könnten, hat man in der Reduzierung des Tiers zu einer Maschine einen gewaltigen Schritt nach vorn getan.

Sollte man sich nicht Gedanken machen über eine Landwirtschaft, die streng genommen das Land längst verlassen hat, indem sie dem Vieh Luft und Erde raubt, es nur noch zum Mästen in geschlossene Gebäude sperrt und ankettet? Tatsache ist, daß unsere Welt für das Tier „zu einem riesigen Konzentrationslager geworden ist, mit Foltersälen, in denen zwangsgemästet, Massenzüchtung praktiziert und künstliche Dauerbeleuchtung angewandt wird“10, ein elendes Dasein, das einem oftmals sehr langen Transport in die Schlachthöfe vorausgeht, wo grauenhafte Zustände herrschen, die von der Weltvereinigung zum Schutz von Nutztieren (Protection mondiale des animaux de ferme, PMAF) durch entsprechende Bilder ans Licht gebracht wurden.11 Der Endzweck ist Zuwachs an Profit und für den Landwirt eine Entlastung, die darin besteht, sich nicht mehr selbst um das Vieh kümmern zu müssen. Die Wortwahl sekundiert einer Technisierung, die mit einer Entindividualisierung einhergeht, durch die das Tier selbst immer mehr in Vergessenheit gerät: „Stückvieh“, „Lebendfleisch“ sind Ausdrücke, mit denen die Fachleute diesen Rohstoff bezeichnen, der ehrlicherweise nicht mehr die schöne Bezeichnung „Lebewesen“ tragen kann, denn mit Leben, mit Seele hat dies nichts mehr zu tun.12

dt. Christophe Zerpka

1 Elisabeth de Fontenay, „La raison du plus fort“, Vorwort zu „Trois traits pour les animaux“ von Plutarch, Paris (POL) 1992.

2 Plutarch, „Ob es statthaft ist, Fleisch zu essen“, zitiert von Elisabeth de Fontenay, op. cit.

3 Le Monde, 2. April 1996.

4 Le Monde, 4. April 1996.

5 Die französische Bezeichnung des Rinderwahns lautet vache folle (verrückte Kuh). Bison futé (pfiffiger Bison) ist ein Ausdruck aus dem Verkehrsfunk, der Autofahrer an Staus vorbeileitet. (Anm. d. Übers.)

6 Jacques Prévert, „Au pavillon de la boucherie“, in: ders., „Histoires“, Paris (Gallimard) 1963.

7 Pierre Gascar, „Les Bouchers“, Paris (Delpire) 1973.

8 Vgl. Joni Seager, „Bilan sur la consommation de viande et ses conséquences“, in: „Atlas de la Terre. Le coût écologique de nos modes de vie“, Paris (Autrement) 1995.

9 Eric Fottorino, „Une agriculture contre nature“, Le Monde, 28. März 1996. Zu verweisen ist auch auf das grundlegende Werk von Robert Dantzer und Pierre Mormède: „Le Stress en élevage intensif“, Paris (Masson) 1979.

10 Jacques Julliard, Le Nouvel Observateur, 4. April 1996.

11 PMAF, 4, rue Maurice-Barrès, F-57000 Metz.

12 Vgl. dazu das Werk von Eric Baratay: „L'Eglise et l'Animal“, Paris (Editions du Cerf) 1996.

* Philosophin, Autorin von „L'Animal dans les pratiques de consommation“, Paris (PUF, coll. „Que sais-je?“) 1995.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Florence Burgat