10.05.1996

Europa aus französischer und deutscher Sicht

zurück

Europa aus französischer und deutscher Sicht

Während Frankreich das gemeinsame Europa im Licht der deutsch-französischen Beziehungen wahrnimmt, hat Deutschland die eigenen Interessen im Blick. In seinem soeben erschienenen Buch1 spricht der ehemalige französische Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement, wie der Untertitel sagt, „frei und offen“ über dieses ungleiche Verhältnis und plädiert für eine politische Organisation des Kontinents, die auf einem öffentlichen Raum für demokratische Debatten beruht.

Von

PIERRE

BÉHAR *

STETS faszinierte mich dieser große germanische Körper, der neben dem unseren lebt, gleichzeitig so nah und so fern“ – wie der in Lille geborene Charles de Gaulle stammt auch Jean-Pierre Chevènement aus einer Gegend, die erst unter Ludwig XIV. französisch wurde: aus der Franche-Comté. All diese Söhne der „Vauban-Grenze“2 haben einen ausgeprägten Sinn für die Nation, da sie stärker als andere die Anwesenheit des Fremden spüren, und dies wiederum ermöglicht ihnen einen Blick auf Frankreich und Europa, der ihren Mitbürgern mitunter ungewöhnlich vorkommen mag. Das jüngste Buch des früheren Verteidigungsministers, das sich mit den Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, darüber hinaus aber auch mit der Zukunft des alten Kontinents befaßt, liefert ein brillantes Beispiel dafür.

Die deutsche Einigung, die im Herzen Europas eine demographische und ökonomische Macht schuf, die nicht mehr von derselben Größenordnung ist wie die Frankreichs, Italiens oder Großbritanniens, hat zum einen ein gewisses Ungleichgewicht bewirkt. Überdies aber verliehen ihr die Umstände, unter denen sie erfolgte, eine besondere Bedeutung, denn möglich war die Wiedervereinigung erst nach dem Ende des Kalten Krieges, das sich seinerseits dem Zusammenbruch des Sowjetreichs verdankte. Frankreich und Westdeutschland waren nach 1945 nicht nur den Dimensionen nach vergleichbar; sie befanden sich auch in einem ähnlichen moralischen Zustand, hatten sie doch einen Krieg hinter sich, in dem sie erstmals beide besiegt worden waren, Frankreich 1940 und Deutschland 1945.

1990 ändert sich die Lage. Der langjährige und weltumspannende Ost-West- Konflikt lastete auf Deutschland bekanntlich besonders drückend, fand er doch direkt auf seinem Boden statt und teilte das Land in zwei Hälften: Der Sieg des Westens über den Osten war daher zugleich ein Sieg des kapitalistischen Deutschlands über das sozialistische, er besiegelte die Überlegenheit seines ökonomischen und gesellschaftlichen Modells über das des Rivalen. Aber auch die anderen Länder Westeuropas, die nicht so strebsam in die Schule des Kapitalismus gegangen waren, gerieten ins Hintertreffen. Sie müssen sich jetzt gefallen lassen, daß Deutschland mit seinem ganzen neuen Gewicht versucht, sie durch die Mechanismen, die zur Einheitswährung führen sollen, nach seinem Vorbild umzumodeln.

Das Modell jedoch ist nicht nur ein ökonomisches, sondern vor allem auch ein politisches: Es impliziert eine politische Organisation föderativen Typs, wie sie der Verfassung Deutschlands entspricht: „Im Gegensatz zu Frankreich fürchtet sich Deutschland nicht davor, im neu entstehenden Europa unterzugehen. Dies freilich nicht so sehr, weil es darin seiner Größe nach dominieren wird, sondern vielmehr aus prinzipiellen Gründen: Das Europa von Maastricht führt nämlich nur sein föderatives Modell fort. Die übereilte Errichtung eines föderalistischen Europa würde das deutsche Volk nicht daran hindern, weiterzubestehen und seinen Einfluß geltend zu machen, denn die deutsche Nation existiert gleichsam autark.“ Im Unterschied zu Frankreich nämlich, meint der Autor, waren in Deutschland „die Nation und der Staat immer zwei verschiedene Dinge. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation umfaßte ja immer auch andere Nationalitäten“, auf einem Gebiet, das von Italien über Böhmen und Slowenien bis nach Flandern reichte.

Diese Gedanken müßte man natürlich differenzieren und etwas genauer entwickeln. Es stimmt nicht ganz, daß Nation und Staat in Deutschland immer unterschieden waren. Gerade weil der deutsche Staat, wenn auch gewiß in primitiver Form, bereits im Hochmittelalter, noch vor dem französischen, real existierte, konnte er sich schon im 10. Jahrhundert in jenes Abenteuer stürzen, von dem die ganze Epoche träumte: ein Römisches Reich mit universellem Anspruch wiederherzustellen. Dieser Versuch, der seine Kräfte überstieg, zerstörte schließlich den Staat, der ihn unternommen hatte. Der deutsche Staat verschwand, und zurück blieb ein Reich, das nur eine unvollendete Form der politischen Organisation war. Zeugnis und Frucht dieses Scheiterns ist die föderale Verfaßtheit.

Verpaßte Revolution, gebremste Aufklärung

DER Föderalismus, der häufig als zukunftweisendes Modell gepriesen wird – und tatsächlich einige praktische Vorteile bieten kann –, ist in Wahrheit bloß ein Überbleibsel des Mittelalters und eine zurückgebliebene Form, dem Politischen einen Körper zu geben. Nicht der zyklisch wiederkehrende deutsche Staat, sondern der französische, der sich von Philipp dem Schönen über Richelieu, Ludwig den XIV., die Revolution und Napoleon bis zur Republik kontinuierlich fortentwickelt hat, bildet die moderne und vollendete Form der Organisation des Politischen. Doch diese Bemerkungen sprechen letztlich nicht gegen die Überlegungen von Jean-Pierre Chevènement, sondern bestätigen sie nur.

Die Zurückgebliebenheit der politischen Organisation wirkt sich auch auf die Konzeption der Staatsbürgerschaft aus: Deutschland, dem die Revolution von 1789 fehlt, ist nie zur wirklichen Laizität vorgedrungen, weil das deutsche Bürgertum es versäumt hat, die Aufklärung, den zentralen Gedanken des 18. Jahrhunderts, zu Ende zu denken. Es blieb bei einer konfessionellen Form von Aufklärung stehen, die es ihm nicht erlaubte, den geistig-moralischen Rahmen zu verlassen, den die mittelalterliche territoriale Teilung vorgab. Darum sind auch heutzutage noch hitzige Debatten wie die über das Kruzifix in den Schulen möglich, die einen Franzosen geradezu archaisch anmuten.

Das deutsche Bestreben, Europa seinem Modell anzugleichen, beruht, wie Jean-Pierre Chevènement audrücklich betont, nicht auf einem Willen zur Macht, sondern resultiert paradoxerweise aus einer Angst vor sich selbst: Kanzler Helmut Kohl scheint den künftigen Generationen nicht zu trauen, denn man kann ja nie wissen, was sie mit dem Instrument anstellen werden, das er ihnen hinterläßt. Auch hier lohnt es sich, den Überlegungen des Autors zu folgen: Das Grundgefühl Deutschlands, das an einer besonders ungünstigen Stelle Europas liegt – nur die geographische Lage Polens und der baltischen Länder ist noch weniger beneidenswert –, ist die Angst, eingeschnürt zu werden. Das höchste Ziel der deutschen Politik ist es daher, diese Angst zu beseitigen, um sich dann auch nicht mehr vor den eigenen Reaktionen fürchten zu müssen.

Doch so sehr man dafür Verständnis haben mag, der Versuch, die Einigung Europas auf dem Weg über die Währungsunion zu bewirken, ist für Frankreich nicht akzeptabel: „Die Währung (...) ist in Wahrheit ein Herzstück der Souveränität. Eine gemeinsame Währung für zwei Nationen kann nur Bestand haben, wenn sie den schwächeren Partner unterdrückt. Sie setzt ein Räderwerk in Gang, aus dem es kein Entkommen gibt. Denn sie impliziert eine Harmonisierung der Haushaltspolitik beider Länder und damit eine Vereinheitlichung ihrer gesamten Politik.“ Die Folgen sind bereits spürbar: Man denke nur an die allmähliche Wiedereingliederung Frankreichs in die Nato, an das Ende seiner Weltdiplomatie und, vor allem, an die Krise, in die das republikanische Modell geraten ist. Seit der französische Staatsrat anerkannt hat, daß die Normen der Gemeinschaft über den vom Parlament verabschiedeten Gesetzen stehen, „stoßen die Bürger auf Institutionen, auf die sie, wie sie denken, keinerlei Einfluß mehr haben (...). Noch nie war die französische Politik so sehr von der Börse oder, wie es heute heißen muß, den Finanzmärkten abhängig (...). Die Instrumente, die sich der Staat im Lauf der Jahre zugelegt hatte, um die Wirtschaft zu steuern, sind nur noch morsches Holz.“ In den großen Streiks vom Herbst 1995 konnte man bereits die ersten negativen Auswirkungen beobachten.

Das Postulat, das dem Denken von Jean-Pierre Chevènement zugrunde liegt, ist, daß jeder politische Körper, will er nicht ein Leichnam oder ein Hampelmann werden, nur leben kann, wenn ihn der Wille seiner Mitglieder beseelt. Kein politischer Körper kann über längere Zeit existieren, wenn einer winzigen Minderheit fast unsichtbarer Entscheidungsträger eine gewaltige Mehrheit willenloser Werkzeuge gegenübersteht. Nur ein gemeinsamer Wille, der aus demokratischen Wahlen und Debatten resultiert, gibt der französischen Republik ihr festes Fundament, und nur er kann in Zukunft ein europäisches Europa begründen. Ziel des Autors ist es also nicht, Europa zu den Akten zu legen, sondern es zu retten. Und auch die deutsch-französische „Partnerschaft“ wird von ihm nicht in Frage gestellt: „Die beiden Nationen (...) bilden offensichtlich die Hauptverbindung zwischen Süd- und Nordeuropa, zwischen der lateinischen und der germanischen Komponente. (...) Nicht die Idee eines gemeinsamen deutsch-französischen Handelns ist daher in Frage zu stellen, wohl aber die Modalitäten dieses Handelns (angefangen mit der Währung) sowie sein sozialer und politischer Inhalt.“ Die Überlegungen Jean- Pierre Chevènements sind also keineswegs bloß kritischer Natur, sondern durchaus auch positiv: Sie münden in ein Projekt für Europa, das auf einer Zusammenarbeit zwischen den Völkern beruht.

Chevènement, Präsident des Mouvement des citoyens, versucht eine konkrete Vorstellung von diesem Europa der Nationen zu entwickeln, indem er über die praktischen Mittel nachdenkt, mit denen sich – Grundbedingung jeder Demokratie – „öffentliche Diskussionsräume“ schaffen lassen, in denen so etwas wie eine öffentliche Meinung auf europäischer Ebene Gestalt gewinnen könnte: „Letztlich ist das föderative Prinzip mit meinen Gedanken nicht unvereinbar. Auf lange Sicht darf man die Bildung eines europäischen Bundes nicht a priori ausschließen, vorausgesetzt, daß zuvor ein europäischer öffentlicher Raum entsteht, in dem offen debattiert werden kann.“ Dieses Europa, das sich dann auch in einer gemeinsamen Währung verkörpern könnte, wäre endlich, wie General de Gaulle es sich wünschte, „europäisch“: einerseits frei von US-amerikanischer Vormundschaft, andererseits alles andere als eine Festung der Reichen, sondern ein Faktor des Friedens, welcher sich sichern ließe, indem man die Beziehungen zu Rußland vertieft und die zur muslimischen Welt neu belebt.

Die Hauptsorge Europas muß es sein, universelle Werte und nicht nur partikulare Interessen zu vertreten. Chevènement bekämpft die „völlig unrealistische“ Vision einer sofortigen Föderation nicht etwa deshalb, weil die Nation für ihn ein Ziel in sich wäre, sondern weil sie, ob es einem gefällt oder nicht, die tausendjährige Wirklichkeit Europas ist, die sich nur – und dies wäre das genaue Gegenteil dessen, was die Föderalisten wollen – um den Preis einer „Verschärfung reaktionärster Nationalismen“ ignorieren läßt. Indem er Tabus bricht und Hintergründe aufdeckt, macht der Autor die wahren Dimensionen des europäischen Problems deutlich. Er stellt die wesentlichen Fragen, über die in einer Demokratie, die dieses Namens würdig ist, in allgemeinen Wahlen entschieden werden sollte.

dt. Andreas Knop

* Professor an der Saaruniversität, Forschungsdirektor am Institut für Europäische Studien an der Universität Paris VIII.

1 Jean-Pierre Chevènement, „France-Allemagne. Parlons franc“, Paris (Plon) 1996.

2 Sébastien le Prestre de Vauban (1633-1707) war der Festungsbaumeister Ludwigs XIV. Er konstruierte eine Reihe weit vorgeschobener Festungen (u. a. Straßburg, Lille, Belfort und Metz), die bis ins 19. Jahrhundert als uneinnehmbar galten.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Pierre Behar