10.05.1996

Lagos oder Die Wunder der Lagune

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Lagos oder Die Wunder der Lagune

■ Lagos in Nigeria, die bevölkerungsreichste Hauptstadt Schwarzafrikas, scheint jeder Kontrolle zu entgleiten. Neben Nobelvierteln, wo die Reichen sich in bunkera

Lagos in Nigeria, die bevölkerungsreichste Hauptstadt Schwarzafrikas, scheint jeder Kontrolle zu entgleiten. Neben Nobelvierteln, wo die Reichen sich in bunkerartigen Villen vergraben, leben Arme dichtgedrängt in Slums. Korruption und Schattenwirtschaft blühen, und der nigerianische Selfmademann findet immer Möglichkeiten, sich zu entfalten. Da der öffentliche Dienst zusammengebrochen ist, nehmen die Bewohner die Dinge selbst in die Hand. Die Privatisierung – teils geplant, teils eher chaotisch – betrifft das Transportwesen, Erziehung, Gesundheit, Telekommunikation und Stromversorgung. Trotz der Verschlechterung der Lebensbedingungen wächst diese spannungsgeladene Stadt unaufhörlich weiter.

Von unseren Sonderkorrespondenten

DANIEL BROWN und MARC-ANTOINE PÉROUSE DE MONTCLOS *

VOM Flugzeug aus betrachtet, erinnern die Wolkenkratzer des Hafenviertels auf der Insel Lagos ein wenig an Manhattan. Von unten gesehen ähnelt das Viertel um die Broad Street einer tropischen Bronx. Area boys, kleine Ganoven, legen sich mit den Fahrgästen der klapprigen Taxis an; von Zeit zu Zeit verjagt die Armee mit Knüppelschlägen die Straßenhändler.

Zur Zeit des Ölbooms der siebziger Jahre galt Nigeria mit einem jährlichen Bruttosozialprodukt von 1000 US-Dollar pro Einwohner als vielversprechendes Land. 1995 gehörte es mit 270 US-Dollar Jahreseinkommen bereits zu den ärmsten Ländern der Welt. Victoria, das elegante Viertel der Botschaften und internationalen Konzerne, erzeugt ein falsches Bild. Die Insel Ogogoro sieht aus wie der Sitz eines Luxusferienclubs, ist aber von Stacheldraht umgeben und wird von privaten Wachdiensten geschützt. Bar Beach könnte ein netter Strand sein, wenn die Unterströmung einen nicht in die Tiefe zöge, die Militärdiktatur dort nicht bewaffnete Banditen öffentlich hinrichten ließe und das Gelände nicht von einem dicken Rohr durchkreuzt würde, das zu enormen Kosten ein durch das Meer arg mitgenommenes Viertel mit Wasser versorgt und daran erinnert, daß Lagos auf einer Lagune erbaut worden ist.

Sonntags unterhalten sich die Spaziergänger über die Bewegungen der Bagger, die die Ahmadu Bello Road aufzuschütten versuchen. In den letzten zwei Jahren hat die Regierung sieben Millionen Dollar für den Bau eines Deiches und zur Bekämpfung der Erosion durch das Meer ausgegeben: gerade genug, um das Meer zurückzuhalten, aber noch nicht ausreichend, um ein Vorhaben zu Ende zu führen, das sowohl für das beauftragte Unternehmen als auch für die öffentlichen Auftraggeber, die dafür Kommissionen kassieren, äußerst lukrativ ist.

Lagos fischt im trüben. Schon Aussagen über die Bevölkerungszahlen sind verwirrend in einem Land, in dem Volkszählungen stark politischen Charakter haben. Von ihren Ergebnissen hängt sowohl die Vertretung der einzelnen Staaten in den zentralen Institutionen ab als auch der Prozentsatz der von der Zentralmacht zurückverteilten Zuschüsse. Mit fast 6 Millionen Einwohnern laut der Zählung von 1991 ist die ehemalige Bundeshauptstadt die größte Metropole Schwarzafrikas und Nigeria mit seinen 100 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land des Subkontinents.

Die Formen der Überlebenskunst

LAGOS ist kosmopolitisch, aber deshalb noch kein Kondensat Nigerias. Die spezifischen Übel seines städtischen Wachstums sind nicht typisch für den Rest des Landes. Nach dem Biafrakrieg, während des Ölbooms der siebziger Jahre, explodierte die Stadt. Innerhalb von dreißig Jahren hat sich ihre Bevölkerung verzehnfacht. Die ursprünglichen Einwohner, die Yoruba des Aworistammes, sind in der Masse untergegangen. Die alte Kolonialstadt neben dem historischen Yoruba-Stadtzentrum ist auf das Festland ,übergeschwappt‘. Seit der Zählung von 1962 haben die Vororte mehr Einwohner als die Insel Lagos selbst.

Lagos erscheint wie ein Mosaik aus Gegensätzen. Es ist wie ein Spiel von Lichtreflexen zwischen Moderne und Tradition auf einem vermoderten Gewässer, das vor lauter Verschmutzung nichts mehr reflektieren kann. Überraschend flaniert ein nackter Bettler inmitten einer geschäftigen Menge. Als lebender Anachronismus fährt der König der Stadt, ein Yoruba- Oba, in ein Agbdada-gewand gehüllt, im Mercedes spazieren. Ein Polizist legt mitten im Verkehrschaos eine Rapnummer hin.

Die zehn Kilometer lange Brücke zwischen dem Geschäftsviertel und dem Flughafen führt über Wasser und Lagunenslums. Die Third Mainland Bridge wurde 1991 zur Feier des Geburtstags des damaligen Staatschefs, General Ibrahim Babangida, eingeweiht. Straßenhändler werfen sich auf die im Stau steckenden Autofahrer. Gelegenheitsfischer, die von der Brücke aus ihre Angel auswerfen, verkaufen shawa, fritierten Fisch. Unten am Wasser in Makoko leben echte Fischer in Pfahlhütten, die man nur mit einer Piroge erreichen kann. Es sind Fon, die von der Grenze zu Benin hierhergekommen sind, um ihr Glück zu machen. Auf dem Höhepunkt des Einwohnerwachstums kamen täglich tausend neue Zuwanderer nach Lagos.

Die ehemalige Hauptstadt Nigerias pflegt die Gegensätze: Hier besteht tiefstes Elend neben Enklaven des Reichtums. Man könnte sie als afrikanisches Venedig bezeichnen: Ihre Inseln erstrecken sich in eine Lagune, die ihr 1490 nach ihrer Entdeckung durch die Portugiesen zu ihrem Namen verhalf. Doch ist sie nichts weniger als eine Touristenattraktion. Im Gegenteil, sie gilt als gefährlichste Stadt Afrikas.

Für die Bevölkerung heiligt jedes Mittel den Zweck. Es gibt die mama-markets, die die Marktstände innehaben, doch die „gesellschaftliche Förderung“ der Frau beispielsweise besteht oft in Prostitution, in die immer jüngere Mädchen hineingezogen werden. Auf den Bürgersteigen der eleganten Viertel sind sie immer mehr präsent, während es in Ojo Elegba, in Straßen mit von Gästen überquellenden Bars, reifere Frauen sind, welche die Kunden in Reih und Glied erwarten. In Nachtclubs wie dem Coco's oder in den großen Hotels auf Victoria Island, wo Auslandsnigerianer angemacht werden und wo in Dollars bezahlt wird, ist ihre Aufmachung eleganter.

Die Konkurrenz ist so stark, daß es inzwischen bereits einige von Zuhältern kontrollierte Bordelle gibt. „Wir haben keine Probleme mit den Behörden“, sagt David, ein Polizeibeamter im Ruhestand, der in einem entfernten Vorort ein Stundenhotel mit in grellen Farben gemalten nackten Frauen auf der Fassade führt. „Hierher kommen sogar Gouverneure, um sich mit den Mädchen zu entspannen.“

Mit seinem Hungerlohn als Polizist konnte er seine zwei Frauen und fünf Kinder nur schwer ernähren. Jetzt geht es ihm finanziell blendend. Wie die meisten Nigerianer nimmt er Aids nicht ernst. Die „Krankheit ohne Heilmittel“, arun ko gbo oogun, wie sie in Yoruba heißt, bleibt als Thema tabu. Der Sexologe des Frauenmagazins Quality erklärt, daß es „den Männern widerstrebt, ein Impermeable [Präservativ] zu benutzen. Die Zahl der Aids-Opfer ist sicher übertrieben. Ich glaube, im ganzen Land gibt es nicht mehr als 2000. Man stößt kaum jemals auf einen Betroffenen.“ Nach den Schätzungen des Gesundheitsministers Daihatu Tafida gibt es jedoch 650000 HIV-Positive.1

Die Überlebenskunst nimmt unterschiedliche Formen an. Die Korruption, das dash, ist eine Institution und macht angeblich bis zu 10 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Zwar teilt die Großfamilie die Einkünfte wieder unter ihren Mitgliedern auf und spielt in wirtschaftlichen Krisenzeiten die Rolle einer Sozialversicherung, doch der gesellschaftliche Druck ist sehr stark und führt zu immer mehr Korruption, selbst wenn dadurch der lokale Unternehmer seinen Profit nicht reinvestieren kann oder sein Geld bei einer Schweizer Bank deponiert. Die Weltbank schätzte die Kapitalflucht in den achtziger Jahren auf bis zu fünfzig Milliarden Dollar.

Korruption und Unterschlagung gehen Hand in Hand mit dem Phänomen der „419er“-Hochstapler, so benannt nach dem Artikel des Strafgesetzbuchs, der ihr Vorgehen unter Strafe stellt. Sie sind darauf spezialisiert, westliche Geschäftsleute zu prellen, naive Opfer, omugo, denen man ein großes Geschäft verspricht, um dann nach Einkassieren eines „Vorschusses“ spurlos zu verschwinden. Die nigerianische Justiz soll bis zu 5000 dieser White-collar-Betrüger ausgemacht haben, doch bis heute ist keiner verurteilt worden.2 Einer Reportage des US-amerikanischen Fernsehsenders CBS vom Dezember 1994 zufolge, die einen Skandal und den Selbstmord eines in die Sache verwickelten Zollbeamten zur Folge hatte, soll auf diese Weise amerikanischen Geschäftsleuten eine Milliarde Dollar abgeluchst worden sein.

Gefälschte Papiere sind weit verbreitet in Lagos. So ist es ein leichtes, sich Briefpapier etwa mit dem Briefkopf der nigerianischen Erdölgesellschaft NNPC zu verschaffen, um dubiosen Geschäften einen seriösen Anstrich zu verleihen. Auf dem Markt von Oluwole wird eine ganze Auswahl angeboten: Autosteuermarken zu sieben Dollar, Führerscheine und Pässe von Afroamerikanern zu je 400 Dollar. „Der Fälschungsmarkt ist ein offenes Geschäft“, erklärt „Mr. Smith“, ein Verkäufer. „Man braucht sich nicht zu verstecken. Viele Beamte sind darin verwickelt.“

Auch der Handel mit Fälschungen blüht. Auf dem Hehlermarkt von Alaba findet man nicht nur die üblichen Fälschungen aus Asien (Rolex-Uhren, Lacoste- Hemden et cetera), sondern auch lokale Produkte, die in erster Linie aus der Ibo-Gegend im Südosten des Landes stammen: Autoersatzteile aus den Handwerksbetrieben von Nnewi, Schuhe aus Aba ...

Die Veruntreuung im öffentlichen Dienst ist eine weitere Spezialität. Parallele Postämter bieten Telefondienste zu unschlagbaren Preisen an. Der Trick ist nur am Knäuel der elektrischen Drähte über dem Wellblechdach zu erkennen. Entweder wurde die offizielle Leitung angezapft, oder die Betreiber haben in der nationalen Telefongesellschaft, Nitel, Komplizen, die am Ende des Monats ihren Anteil abholen. Vielleicht wird auch die Rechnung aufgrund ständiger Adressenänderungen nie bezahlt. Beim Elektrizitätswerk Nepa lassen sich durch kräftiges dashen die Stromrechnungen bis auf einen lächerlichen Betrag reduzieren. Die Reichsten greifen auf einen eigenen Generator zurück (Nigeria soll beim Kauf stromerzeugender Geräte weltweit an erster Stelle stehen) und benutzen Handys.

Die Kriminalität dringt überall in die Schattenwirtschaft ein, angefangen bei den Eliten. Die Universitäten sind voll von Geheimgesellschaften, die eine Mischung aus Hexerei und Erpressung betreiben. Zu Anfang waren es studentische Selbsthilfeclubs, die den Initiierten vorbehalten blieben. Der erste davon, der Sea-dogs-Club, wurde in den fünfziger Jahren von Nobelpreisträger Wole Soyinka persönlich gegründet. Aber nicht zuletzt aufgrund der Krise des Universitätssystems haben sich diese Clubs zu kriminellen Vereinigungen entwickelt.

Neben den kleinen Straßenhändlern, die man in allen afrikanischen Städten sieht, gibt es in Lagos auch etliche Händler, die vor allem durch den Devisenhandel oder den Benzinschmuggel nach Benin sehr reich geworden sind. Schlimmer noch: Der Hafen von Apapa in Lagos ist der zentrale Drogenumschlagplatz in Schwarzafrika, mit einer Zweigstelle in Monrovia, seit die Nigerianer unter dem Deckmantel der westafrikanischen Friedenstruppe Ecomog in Liberia eingerückt sind. Seit der Einführung harter Drogen auch für den lokalen Konsum sind area boys aufgetaucht, die unter den Autobahnbrücken herumhängen, die Passanten und Autofahrer bedrohen und sogar mit blanker Waffe angreifen.

Kamikaze im Verkehrsstrom

DIE Folgen des Erdölbooms, die Wirtschaftskrise und die Einführung eines Strukturanpassungsprogramms, das sich vor allem in den Städten auswirkte, der Verlust sowohl der familiären Autorität als auch der sozialen Kontrolle in den Städten sowie die Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen haben Lagos zu einem explosiven Cocktail gemacht.

Die Probleme im Transportsektor zeigen, wie breitgefächert die Probleme sind, die aus dem Wachstum der Stadt entstehen. Die kommunale Busgesellschaft, die die örtlichen Busse, genannten molue, betrieb, hat Pleite gemacht. Jetzt gibt es nur noch private Betreiber zur Sicherung des täglichen Transports von Millionen Arbeitnehmern. Nicht alle haben Lizenzen. Es gibt die Danfo-Minibusse (VWs, die bisher in einem westlichen Vorort von Lagos zusammengebaut wurden, die Fabrik soll jetzt schließen), Kiakia („quick-quick“), Bolekaja („Komm-raus-und-hau- dich“), Okada-Motorräder (benannt nach einer der größten privaten Fluglinien wegen ihrer Schnelligkeit in Verkehrsstaus) und Kabu-Kabu (illegale Taxis).

„In Lagos Auto zu fahren ist schwer vorstellbar“, sagt ein Fahrer, ein Ibo, der vor dreizehn Jahren aus dem Südosten hierher gezogen ist. „Die Wagen sind zerbeulte Trümmerhaufen ohne Stoßdämpfer. Der Auspuff schleift über den Boden und sprüht dabei Funken. Die Leute fahren wie die Irren. Lastwagen wechseln ohne Vorwarnung die Spur, und die Busfahrer fluchen ständig. Es gibt dauernd Unfälle.“

In der Bushaltestelle Ojota in einem nördlichen Vorort herrscht drangvolle Enge. Ein Yellow Fever, einer der wegen der Farbe ihrer Hemden Gelbfieber genannten Verkehrspolizisten, schätzt, daß wöchentlich etwa zehn Fußgänger überfahren werden. „Oft sind es Ausländer, die nicht wissen, wie man eine Straße überquert.“ Nur selten benutzt jemand die Fußgängerbrücken über die breiten Straßen. Die Leute werfen sich lieber mit ihren Bündeln und unterschiedlichen Körben auf dem Kopf oder auf dem Rücken wie Kamikaze in den Verkehrsstrom.

Ebenso wie ihre chaotischen Verkehrsstaus scheint auch die Stadt selbst unregierbar. Der demographische Druck sowie ein gewisses liberales Erbe der Briten vermitteln den Eindruck eines weitgehenden Gewährenlassens in der Stadtplanung. Der letzte Raumordnungsplan stammt von 1980 und wurde nie in die Tat umgesetzt. Es gibt keine Baugenehmigungen, Slums werden nur selten abgerissen. Die einzige Ausnahme ist Maroko, das 1990 von der Armee unter hygienischen Vorwänden abgerissen wurde – wobei es in Wahrheit um Grundstücksspekulation ging, denn Marokos 100000 Einwohner lebten zu nah am eleganten Victoriaviertel.

Lagos hat einen schlechteren Ruf als je zuvor, wegen der bewaffneten Banditen, der „419er“ und der area Boys, aber auch wegen der Übergriffe der Militärjunta unter General Sani Abacha. Im Vergleich zu scheinbar friedlicheren Städten wie Dakar, Abidjan oder selbst Kano in Nordnigeria erweckt die größte Metropole Schwarzafrikas den Eindruck eines Katastrophenszenarios. Und doch ist sie weniger mörderisch als Johannesburg. Südafrika hält zusammen mit Kolumbien den Weltrekord der Mordrate: 53 Morde auf 100000 Einwohner, gegen 14 in den USA, 5 in Frankreich und nur 2 in Nigeria ...

Nun sind die nigerianischen Zahlen sicherlich sehr unrealistisch, sowohl aufgrund der Mängel der statistischen Erfassung als auch aufgrund der Unbeliebtheit der Polizei. Man zeigt einen Mord nicht auf dem Polizeirevier an, aus Angst, selbst verhaftet zu werden und dashen zu müssen, um freizukommen. Deshalb liegen manchmal Leichen auf der Straße. Dennoch läuft man in Lagos weniger Gefahr, getötet zu werden, als in Johannesburg, denn es sind nur wenige Schußwaffen im Umlauf. Seit der Unabhängigkeit haben (mit Ausnahme einer Periode von zehn Jahren) Militärs die Macht inne, und sie wachen eifersüchtig über ihr Schußwaffenmonopol und vergeben nur sehr wenige Waffenscheine. Der Schmuggel aus dem Tschad oder Liberia und die handwerkliche Herstellung von Waffen halten sich in Grenzen.

Die Gewalt hält die Geschäftsleute auch nicht vom Investieren ab, auch wenn sie sich in bunkerartigen Villen mit Privatwachleuten und Stacheldrahtverhau verschanzen. Während eines Besuchs in Paris im März 1995 erklärte der ehemalige Übergangspräsident Ernest Shonekan, der einigen der größten Unternehmen in Nigeria vorsteht, so der zur Gruppe Unilever gehörenden USC: „Die Geschäfte gehen in unruhigen Zeiten besser. Ich erinnere mich, daß es während der Biafrakrise für uns ausgezeichnet lief. Heute versuchen wir, die Welt der Geschäfte von der der Politik zu trennen.“ Viele in Nigeria ansässige Ausländer teilen diesen Standpunkt. So etwa der britische Direktor einer Zementfabrik, der uns erklärte: „Geschäfte brauchen keine politische Stabilität, um zu florieren.“

Trotz der Aggressivität, die durch die harte Konkurrenz und die Verknappung der Ressourcen noch verstärkt wird, ist Lagos ein Nährboden, der dem Selfmademan nigerianischer Art viele Möglichkeiten bietet, seine Kreativität einzusetzen. Ein Beispiel ist die Presse, die als die freieste Schwarzafrikas gilt. In Nigeria gibt es etwa 15000 Journalisten und mehrere hundert Pressetitel, von denen etwa vierzig auf Tageszeitungen entfallen. Nach Südafrika ist es der zweitgrößte Produzent von Druckschriften auf dem Kontinent.

Die meisten Zeitungen haben ihren Sitz in Lagos, wo sich die meisten Leser und die Pressezaren befinden. Die Bandbreite der Titel reicht vom Regierungsorgan Daily Times bis hin zu den Skandalblättchen. Die Militärjunta unter Abacha hat der Presse schwer zugesetzt: Sie hat zensiert, Journalisten inhaftiert und drei der bekanntesten Tageszeitungen, den Guardian, den Punch und den Concord, geschlossen. Sie hat versucht, die unabhängige Presse zu erdrosseln, indem sie den staatlichen Stellen verbot, in den privaten Medien zu inserieren. „In einer Wirtschaft, die zu 60 Prozent vom staatlichen Sektor abhängt, bedeutet ein solches Verbot den Rückgang unserer Werbeeinnahmen um 60 Prozent“, klagt Utibe Ukim, der Verantwortliche des Wirtschaftsteils im Newsday.

Dennoch hat die Junta jene Leute nicht zum Schweigen bringen können, die laut dem Korrespondenten von Reuter, James Jukwey, „mit den Geheimdiensten Katz und Maus spielen“. Das sind zum Beispiel die Dissidenten des Concord, die in der Illegalität das erste nigerianische Samisdat herausgaben, die Wochenzeitung Tempo, der bald darauf die Tageszeitung AM and PM News folgte. Diese wurden an ständig wechselnden Orten gedruckt, dem Sicherheitsdienst, dem gefürchteten SSS, der den Produktionsweg von den Straßenverkäufern zurückzuverfolgen versuchte, immer einen Schritt voraus. Abdul Oroh, der Direktor der Civil Liberties Organisation, der ältesten Menschenrechtsorganisation Nigerias, meint: „Man wird die Einwohner von Lagos niemals zum Schweigen bringen können: Sie werden ihre Unzufriedenheit auf den Märkten, in den Universitäten oder bei einem Bier weiterhin ausdrücken.“

Von Juni bis Oktober 1995 hat es in Lagos zum ersten Mal in Nigeria sogar einen Piratensender gegeben, Radio Freedom, ein mobiler Sender der Opposition, der inzwischen von der Polizei beschlagnahmt wurde. Die neuen privaten Rundfunkstationen (Ray Power) und Fernsehsender (DBN) mit offizieller Sendegenehmigung hingegen sind keine Bedrohung für die Machthaber. Sie sind apolitisch und gehen jeder Konfrontation aus dem Weg.3 Da sie viel investiert haben, würden sie nach einer Beschlagnahmung pleite gehen. Ray Power, der populärste Rundfunksender von Lagos, sendet als einziger 24 Stunden am Tag. Seinen Erfolg führt er auf einen neuen Stil zurück – er arbeitet mit DJs wie in den USA und internationalen Hitparaden.

Doch die Jugend widersetzt sich der Amerikanisierung. In Lagos mit seinen berühmten Musikern wie Fela Anikulapo Kuti, King Sunny Ade und Chief Ayinde Barrister gibt es hochmoderne Studios. Nigeria ist nach Südafrika der zweitgrößte Plattenproduzent Schwarzafrikas. In den siebziger Jahren sang Fela seinen Protest gegen den „unbekannten Soldaten“, der sein Haus geplündert und seine Mutter zum Fenster hinausgeworfen hatte. Lagbaja, ein neues Talent, will den unbekannten Mitbürger verkörpern, „den normalen Mann“. Er tritt nur maskiert auf. „Zu Felas Zeiten“, sagt er, „gab es noch Hoffnung. Jetzt nicht mehr. Musik kann nicht alles verändern, doch das soziale und politische Engagement der Musiker kann dazu beitragen, die Jugend zu beeinflussen.“

Dem Wahnsinn entgehen

IN seinem Nachtclub „The Shrine“ tritt ein gealterter, von Marihuana ausgelaugter und durch Krankheit abgemagerter Fela weiter auf, doch seine Tiraden gegen die Regierung wirken weniger als in der Vergangenheit. Es ist die Zeit der verlorenen Illusionen und nicht mehr die der Utopie von Kalakuta, der kurzlebigen Bohemerepublik, die der Musiker mit seinen vierzig Frauen Ende der siebziger Jahre gegründet hatte. Sein Sohn Femi führt die Tradition weiter. Er singt in Pidgin: „You go see nonsense thing/ You go cry, you go vex till you break your head/ Fire engines go come to quench fire, then they forget water/ They say: to quench fire you must pay“ (Du siehst sinnlose Dinge. Du schreist, du regst dich auf, bis dein Kopf explodiert. Die Feuerwehr kommt zum Feuerlöschen und vergißt das Wasser. Sie sagen: Wenn wir das Feuer löschen sollen, mußt du bezahlen).6

Der aus dem städtischen Kosmopolitismus entstehende kulturelle Synkretismus ist auch in religiösen Dingen wiederzufinden. Ein blühendes Geschäft, nach dem Wuchern der zahllosen Sekten wie „The Latter Rain Assembly“, „The End-Time Church“, „Holy Ghost in Action“ und so weiter zu urteilen. Die traditionelle Religion der Yoruba beinhaltet als praktisches Element eine Heilkunde, die in negativer Weise der Jujuhexerei gleichgestellt wird: Die Babalawo-Heiler verschreiben Pflanzen und Affenköpfe, die auf dem Markt von Jankara feilgeboten werden. So sind auch die ersten Sekten in den zwanziger Jahren während einer Pestepidemie in Lagos entstanden: die Cherubim, die Seraphim und so weiter sind Heilkundekirchen. Sonntags bei Sonnenaufgang werfen sich die gläubigen aladura („die vom Gebet Besessenen“) auf den Stränden der Halbinsel Lokki in ihren weißen Gewändern ins Wasser. Diese aufgrund des starken Wellengangs sehr bewegte Taufe wiederholt sich jede Woche und symbolisiert die Wiedergeburt der „neuen Christen“, die sich auch „born again“ nennen. In ihrer Verlorenheit werfen sich die Migranten vom Land dem nächstbesten Scharlatan in die Arme. Viele suchen so bereitwillig Zuflucht in der Religion, um dem Wahnsinn dieser Stadt zu entgehen, von der man nicht weiß, wer sie regiert: die Militärgouverneure, die traditionellen Chefs, die Geschäftsleute? Es gibt keinen Bürgermeister, und die fünfzehn Kommunen des Staates Lagos haben nur sehr geringe Machtbefugnisse. Die im Dezember 1990 gewählten Gemeinderäte wurden im November 1993 von der Militärjunta aufgelöst. Einige ihrer Vorsitzenden landeten sogar im Gefängnis, so etwa Chief Ademola Adeniji-Adele, der Gemeindeverantwortliche der Insel Lagos, dem man seine Unterstützung für den gewählten Präsidenten Moshood-Abiola vorwarf.

Zu all diesen Übeln kommt hinzu, daß Lagos als oppositionelle Stadt angesehen wird. Es liegt im Gebiet der Yoruba, während die Macht traditionell von der muslimischen Oligarchie des Nordens ausgeübt wird. Im Juni 1993 hat die Bevölkerung von Lagos mehrheitlich für die mittlerweile aufgelöste Sozialdemokratische Partei Abiolas gestimmt. Abiola selbst ist Yoruba und sitzt heute im Gefängnis, weil er eine Parallelregierung zu der Militärjunta bilden wollte, die die Wahlergebnisse für nichtig erklärt hatte.4

Lagos gilt wegen der großen Zahl an Arbeitern und Studenten, die dort leben, auch als oppositionell. Die großen Streiks des Sommers 1994, die das ganze Land lähmten, und die studentischen Aufstände des Juni 1989 gegen das Strukturanpassungsprogramm des Internationalen Währungsfonds sind noch allen in Erinnerung. Wegen seiner strategischen Bedeutung bleibt Lagos auch der Lieblingsschauplatz für Staatsstreiche, auch wenn es offiziell nur mehr einer der dreißig Staaten der nigerianischen Föderation ist. Lagos wurde endgültig als Hauptstadt abgelöst, als die Regierung 1991 nach Abuja übersiedelte, dem magischen Schaufenster Nigerias im Zentrum des Landes, weitab von der Küste.

Im Gegensatz zu anderen afrikanischen Staaten, in denen die Hauptstadt deutliche Tendenzen zu einem Wasserkopf entwickelt hat, wie Senegal mit Dakar und Elfenbeinküste mit Abidjan, ist Lagos kein Ungeheuer, das seine Tentakeln ausstreckt: Nur 7 Prozent der nigerianischen Bevölkerung und 19 Prozent der städtischen Bevölkerung leben dort. Dennoch ist es die wirtschaftliche Hauptstadt der Föderation, das Hauptgeschäftszentrum Westafrikas, das Eldorado, in dem Millionen Arme ihr Glück suchen. Trotz Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise, trotz Gewalt und Elend wächst es weiter in den Windungen der Lagune und auf den Schleichwegen der Überlebenskunst. Wie lange noch?

dt. Christiane Kayser

1 Vgl. West Africa, London, 7. März 1994.

2 Vgl. Michele Maringues, „Gentlemen cambrioleurs“, Croissance, Paris, Nr. 386, Oktober 1995, Seiten 42-43.

3 Vgl. „L'Etat du monde 1996“, Paris (La Découverte) S. 387. 1992 wurden in Nigeria 1562 Bücher veröffentlicht, im restlichen Westafrika 513 und in Südafrika 4738. Eine Umfrage ergab, daß 47 Prozent der Nigerianer über sechzehn Jahre eine Tageszeitung lesen.

4 Vgl. „Stubborn Problems“, KFO Music, Tabu Records, Vertrieb Polydor-Polygram, 1995.

5 1991 konnte Gouverneur Michael Otedola, der Kandidat der National Republican Convention, die Wahl nur gewinnen wegen der internen Widersprüche innerhalb der SDP, einer Partei, die sich als Erbin der zur Zeit der Unabhängigkeit aktiven Gruppe „Action“ und ihres berühmten Yoruba-Vorsitzenden Chief Obafemi Awolowo darstellen wollte.

* Journalist bzw. Akademiker.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Brown und Perouse de Montclos