10.05.1996

English spoken – muß das sein?

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English spoken – muß das sein?

Von

BERNARD

CASSEN

BEGEISTERT von ihrer eigenen Begeisterung stellen sich einige Internet-„Verrückte“ gerne eine Welt vor, die von demokratischen und libertären Idealen beherrscht wird, wo jeder endlich einmal genauso wichtig ist wie sein Nächster, denn mit seiner Tastatur und seiner Maus kann er von gleich zu gleich mit jedem anderen „Internauten“ kommunizieren und hat über seinen Bildschirm uneingeschränkten Zugang auf die riesigen Informationsvorkommen, von denen der Cyberspace überquillt. Dementsprechend vergrößert jeder neu angeschlossene Computer den Kreis der weltweiten Nutzer, der den höchsten Stand an dem Tag erreichen wird, an dem es ebenso viele Computer wie Menschen gibt, die älter als sechs oder sieben Jahre sind ...

Selbst wenn man von ihr mit geringerer technischer Begeisterung spricht, funktioniert diese These von der universellen Vereinigung und Demokratie nur, wenn etwas verschwiegen wird: Wer sich ins Netz begibt, muß sich einer dort vorfindlichen „Kultur“ anpassen, die keineswegs weltumspannend, sondern vielmehr angelsächsisch, um nicht zu sagen US- amerikanisch ist. Dies ist nicht weiter erstaunlich, weil sich 77 Prozent der Informationsanbieter in englischsprachigen Ländern befinden und vor allem weil das „Netz der Netze“, auch wenn es im Europäischen Kernforschungszentrum (CERN) in Genf entwickelt worden ist, in den Vereinigten Staaten installiert wurde, wo das Englische als einzige Sprache von allen verstanden wird. Dort befinden sich die Stellen, bei denen die Anfragen eingehen, und dort gibt es einen kostenlosen Zugang zur Benutzersoftware, die natürlich auch auf der englischen Sprache aufbaut.

Jeder ist also in der Tat vor dem Internet gleich, solange er des Englischen mächtig ist.1 Die Amerikaner haben die Universalität ihrer Sprache so sehr verinnerlicht, daß sie ohne jede bewußte hegemoniale Absicht dieses globale Netz eingerichtet haben, das nur auf englisch richtig funktioniert – und dies auch aus technischen Gründen, denn das Kodierungssystem Ascii (American Standard Code for Information Interchange) erfaßt nur eine begrenzte Zahl von Zeichen, nämlich so viele, wie für das Englische nötig sind – und zusätzlich auch für das Suaheli und das Indonesische ... Der Ascii-Code besteht aus Zeichensätzen mit 7 Bits (und nicht wie sonst üblich mit 8 Bits), und die Geräte, die ihn benutzen, tendieren obendrein noch dazu, bei den nichtenglischen Zeichen eins von acht Bits zu eliminieren. Daher sind bei diesem Code die diakritischen Zeichen des Französischen (Akzente, Tremas, Cédilles) auf dem Bildschirm nicht zu sehen.

Dieses Phänomen ist besonders deutlich bei den elektronischen Informationsaustauschdiensten: Forum (Usenet) und E-Mail. Die elektronische Post basiert auf einem Protokoll und auf einem standardisierten Nachrichtenformat, das ausschließlich den Ascii-Zeichensatz verwendet. Umweglösungen und verschiedene Tricks machen hingegen einige Ausnahmen möglich. Darüber hinaus existiert auch eine Kodierung mit Namen Mime (Multilingual Internet Mail Extension), die es ermöglicht, jeden Text in jedem Zeichensystem und also in jeder Sprache zu übermitteln. Aber da es sich um einen Standard und nicht um eine Norm handelt, ist Mime, auch wenn es immer häufiger verwendet wird, noch nicht universal nutzbar, und der Absender einer Nachricht weiß nicht im voraus, ob der Computer des Empfängers etwas anderes als den Ascii-Code entschlüsseln kann. So erklärt sich die gegenwärtige grafische Dürftigkeit der E-Mail. Die Foren besitzen einen größeren Spielraum, da einige Anbieter auch 8 Bit-Zeichen passieren lassen.

Das World Wide Web (WWW) oder einfach Web („Netz“), die Dienstleistung des Internet mit den größten Zuwachsraten, benutzt mehr Sprachen als der Mail-Dienst. Es arbeitet nicht mit dem Ascii-Zeichensatz, sondern bedient sich der Norm ISO Latin 1, die es seit 1987 gibt und die vierzehn Sprachen darzustellen erlaubt, die in vierzig Ländern gesprochen werden.2

Das heißt: Im digitalen Gefüge des Netzes steht nichts der Verwendung einer beliebigen Sprache im Wege. Es hängt alles von den Übertragungsprotokollen dieses „Kleinkrams“ ab, von der Ausarbeitung universeller Normen also und, was sicher ebenso wichtig ist, von den Mitteln, diese zur Anwendung zu bringen. So hat die ISO (International Standard Organization) die ISO/CEI-10646-Norm herausgebracht, einen universellen, auf mehreren Bits kodierten Zeichensatz, der alle Probleme bei der Kodierung und bei der späteren Darstellung von Zeichen löst. Schon jetzt existieren im Web Suchprogramme (Benutzeroberflächen) in anderen Sprachen als denen der ISO Latin 1 (Russisch, Griechisch, Arabisch, Hebräisch, Japanisch), aber es ist vielfach unmöglich, eine Seite in einer dieser Sprachen und eine Seite zum Beispiel in englisch anzuzeigen.

An dieser Stelle ist der Begriff der „kritischen Masse“ von Bedeutung: Auf zwei Millionen schätzt man im allgemeinen die Zahl der potentiellen Nutzer, für die es sich nach Marktkriterien lohnen würde, ein breites Spektrum von „Werkzeugen“ in einer anderen Sprache als Englisch herauszubringen. Japan hat diese Schwelle bereits überschritten, Frankreich und die anderen französischsprachigen Länder jedoch nicht, weil sie noch an dem zu geringen Angebot abrufbarer Dokumente kranken. Dieser Mangel könnte durch eine bewußte Politik der Institutionen und Verwaltungen in den französischsprachigen Ländern behoben werden. Die Erweiterung der Benutzerzahlen hängt davon ab, ob es möglich ist, die Länder des Südens zu Bedingungen anzuschließen, die ihren technischen und finanziellen Möglichkeiten gerecht werden. Auf diesem Gebiet hat die Französischsprachige Agentur für Hochschulen und Forschung das ehrgeizige Projekt eines französischsprachigen Unternetzes gestartet, das sich von seiner Umgebung im Internet deutlich abhebt: das Refer-Netz.

Im Internet muß also nicht zwangsläufig auf englisch kommuniziert werden.3 Wenn man sich dagegen durch die Entwicklung entsprechender Schnittstellen zwischen Menschen und Maschinen, von Programmen und vielsprachigen Protokollen schützt, könnte sich das sogar als eine kommerziell rentable „Nische“ erweisen, wie es in dem Ergebnis einer Studie der Quebecer Firma Alis Technologies festgestellt wird: „Das Französische ist dem Englischen so nah verwandt, daß Lösungen relativ einfach sind. Es gibt jedoch trotzdem genügend Unterschiede, die eine besondere Behandlung erfordern. Die Lösungen und die Fachkenntnisse, die dabei gewonnen werden, können später für die Unterstützung anderer Sprachen genutzt werden. Es handelt sich also um einen Wettbewerbsvorteil und um Absatzmöglichkeiten auf dem internationalen Markt, die nicht zu vernachlässigen sind“.4

Weil das Kulturelle bei politischen Beratungen allein nicht genügend ins Gewicht fällt, kann man zumindest hoffen, daß die Aussicht auf profitable Märkte dazu beiträgt, in Montreal genauso wie in Genf, Paris und nicht zuletzt auch in Brüssel politische Initiativen auszulösen, die sich dem gewachsen zeigen, was auf dem Spiel steht. War das Europa der Institutionen nicht mit dem Anspruch angetreten, die Sprachen der einzelnen Mitgliedsländer als gleichwertig zu behandeln? Nun ist die Gelegenheit da, dies zu beweisen, und zwar nicht nur in den Versammlungen und Texten der Europäischen Union, sondern auch auch auf den Straßen und Autobahnen der „Informationsgesellschaft“, die der „gemeinschaftlich korrekte“ Diskurs künftig wird einzubeziehen haben.

dt. Christian Voigt

1 Siehe: Stéphane Chaudiron, „Les autoroutes de l'information: une chance ou une menace pour le pluralisme linguistique et culturel?“, M, Nr. 82, März / April 1996.

2 Für Informationen über die gesamten technischen Daten siehe das Arbeitsdokument Nr. 3, „L'inforoute francophone“, das bei der zweiten Sitzung der Ministerkonferenz für höheres Schulwesen und Forschung in den französischsprachigen Ländern, die am 11. und 12. November 1995 in Cotonou stattgefunden hat. Für die Realisierung dieses Dokuments war die Agentur für höheres Schulwesen und Forschung in den französischsprachigen Ländern verantwortlich.

3 Siehe den Artikel „Les lauriers de la toile francophone“, Planète Internet Nr. 7, April 1996, in dem die hundert besten französischsprachigen sites erfaßt werden.

4 „Le problème des langues et du français dans les interfaces utilisées sur l'Internet“, in „L'inforoute francophone“, op. cit.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Bernard Cassen