10.05.1996

Cybiont, das planetare Gehirn

zurück

Cybiont, das planetare Gehirn

DER Mensch verwandelt sich immer mehr in ein ,Erdneuron‘, welches in das Nervensystem eingebettet ist, das er geschaffen hat. Die Vermählung von Biosphäre und Technosphäre in ihrer fortgeschrittensten und entmaterialisiertesten Form steht am Ursprung der Schaffung eines planetaren Gehirns und einer Gesellschaft in Echtzeit. (...) Dieses neue Wesen, das da in den hochentwickelten Industriegesellschaften zum Vorschein kommt, ist der symbiotische Mensch.“ So lautet die Kernthese des neuesten Buches von Joäl de Rosnay1, der damit an eine rigorose Betrachtung über den Menschen als einer Koevolution der Natur anknüpft, über die von ihm geschaffenen Werkzeuge ebenso wie über diverse Lebensformen, wobei das 1975 erschienene Werk „Le Macroscope“ als ein erster Leitfaden gelten kann.

Für dieses planetare Gehirn schlägt Joäl de Rosnay den Begriff cybionte vor. Er schließt den Menschen ein, das tierische und pflanzliche Leben, Maschinen, Kommunikationsnetze, Gesellschaften, und würde so den äußersten Konvergenzpunkt menschlicher Gesellschaften bilden. Der Autor verfügt über ein erstaunliches kulturelles und technisches Wissen, welches an das der Enzyklopädisten denken läßt, die sich ja auch zum Ziel gesetzt hatten, eine „Allgemeine Übersicht der Leistungen des menschlichen Geistes auf allen Gebieten“ zu schaffen – und er verfügt ebenso über eine außergewöhnliche Gabe der Darstellung und der Begriffsbildung. Gleichwohl: Diese Konvergenzthese – wenn auch nur bildlich gesehen – in Richtung auf ein hybrides Leben, das gleichzeitig biologisch, mechanisch und elektronisch sein soll, kann im ersten Augenblick nur heftige Reaktionen hervorrufen.

Und dennoch: Wenn nach und nach die allgemeine Gültigkeit der großen Naturkräfte (Selbstorganisation, Autokatalyse, Ausschluß durch Wettbewerb, Hierarchie von Komplexitätsebenen, natürliche Auslese und so weiter) zu Tage tritt – die für Insektenstaaten wie für internationale Institutionen oder das Entstehen der Planeten zutrifft –, gewinnt der Versuch an Stärke und Überzeugungskraft. Er wird, wie der Autor sagen würde, autokatalytisch. Das, was sich letztlich als Grundfrage stellt, ist die Definition des Lebens selbst. Und diese ruft nicht nach einfachen Antworten. So sieht der britische Astrophysiker Stephen Hawking Computerviren als durchaus lebendig an ...

DAS Instrument, welches für den symbiotischen Menschen zugleich das Mittel zur Erforschung des Cybionten darstellt wie auch den Partner, mit dem sein Gehirn verknüpft wird, ist (durch seine Fähigkeit zur Simulation, die immer grenzenloser wird) natürlich der Computer. Der Leser sieht also faszinierende oder beunruhigende Perspektiven (je nach dem Gebrauch, den man davon macht) der virtuellen Realität, des Cyberspace und der Biotik, jener Verbindung von Biologie und Informatik, sich vor seinen Augen entwickeln. Dies soll nur einen bescheidenen Eindruck vom Überfluß an Informationen, von Überlegungsrichtungen, von Verbindungsbrücken zwischen den verschiedensten Wissensbereichen und den gezähmten Intuitionen des Autors wiedergeben, die dieses Werk, das sich jeder knappen Schlußfolgerung verweigert, in sich birgt.

WIRD aber dieser Mensch des 21. Jahrhunderts noch Spuren von Humanismus aufweisen? Joäl de Rosnay glaubt, daß dies durch einen freiwilligen Schritt möglich ist, und er widmet das letzte Kapitel seines Buches den Kulturen und Werten für eine neue Welt. Dabei ist seine Hauptorientierung die Notwendigkeit einer zunehmenden Kraft jener Werte, die er vereinfacht als „weiblich“ bezeichnet: Solidarität, Ausgleich, Ergänzungsfähigkeit, und der gleichzeitige Rückgang „männlicher“ Werte wie Wettbewerb und Konkurrenz. Sind wir denn nicht schon mitten drin in dieser Problematik?

Bernard Cassen

1 Joäl de Rosnay, „L'Homme symbiotique. Regards sur le troisième millénaire“, Paris (Le Seuil) 1995, 350 Seiten.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Bernard Cassen