10.05.1996

Warum mußten die Rosenbergs sterben?

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Warum mußten die Rosenbergs sterben?

ZUM ersten Jahrestag des Anschlags von Oklahoma City hat der US- amerikanische Senat soeben – mit 91 gegen 9 Stimmen – eine Reihe von „Antiterror“-Maßnahmen verabschiedet, durch die zum Tode Verurteilte schneller hingerichtet werden sollen. Die Verteidiger der bürgerlichen Freiheiten halten diese Gesetzesmaßnahmen (die Präsident Clintons Billigung haben) für „beispiellos seit der McCarthy-Ära“. Tatsächlich hatte vor vierzig Jahre eine vergleichbare Verfolgungspsychose das Ehepaar Rosenberg auf den elektrischen Stuhl gebracht. Im letzten Sommer veröffentlichten nun die US-Geheimdienste einen Teil des Belastungsmaterials, das zum Todesurteil geführt hatte; endlich sollte die Wahrheit über diese Affäre ans Licht kommen. Was sagen uns diese Dokumente?

Von SCHOFIELD CORYELL *

Sollte es schlechtes Gewissen gewesen sein – eine bei den großen Strategen eines lange vergangenen ideologischen Krieges doch unerwartete Regung – was die Geheimdienstchefs zu dem Versuch bewogen hat, die Hinrichtung der Rosenbergs ein weiteres Mal nachträglich zu rechtfertigen? Dies war offensichtlich die Absicht von CIA (Central Intelligence Agency) und NSA (National Security Agency, ein militärischer Geheimdienst), als sie im vergangenen Sommer einen Teil der geheimen Nachrichten veröffentlichten, die während des Zweiten Weltkriegs zwischen den in New York ansässigen Agenten des KGB und ihren Vorgesetzten in Moskau ausgetauscht wurden. Mitteilungen, in denen der Name Rosenberg häufig auftauchte.

Diese Botschaften sollen gegen Ende des Weltkrieges abgefangen und seit 1946, also direkt nach dem Krieg, von Spezialisten des NSA dechiffriert worden sein. Einige Jahre danach wurde der Prozeß gegen die Rosenbergs eröffnet; 50 Jahre lang blieben diese Dokumente dann als „streng geheim“ unter Verschluß.

In einem fast schon triumphierenden Ton berichtete die New York Times von der Pressekonferenz am 10. Juli 1995, auf der der CIA den Medien die große geheime Entschlüsselungsaktion präsentierte, die auf den Codenamen „Venona“ getauft worden war. Unter der Schlagzeile „Die USA erklären, wie sie den Code des Spionagerings um die Atombombe geknackt haben“1, heißt es in dem Artikel: „Die amerikanischen Geheimdienste haben heute eines ihrer ältesten Geheimnisse gelüftet: Wie im Zweiten Weltkrieg eine kleine Gruppe von Dechiffrierern die ersten Versuche von sowjetischer Seite aufdeckte, sich in den Besitz der Pläne für die Atombombe zu bringen.“ Das ist aber eigentlich auch schon alles. Die Affäre Rosenberg dokumentiert in erster Linie die Verärgerung der USA, die Alleinherrschaft über das gigantische Vernichtungspotential der Atombombe verloren zu haben.

Ebenso wie die New York Times berichtete die gesamte US-amerikanische Presse über diese „Enthüllungen“. Dennoch war der Public-Relations-Offensive des CIA wenig Erfolg beschieden. Das Wochenmagazin Time spielte die Sache eher herunter und beschränkte sich auf eine kurze, entschieden sachlich gehaltene Notiz in der Rubrik „Diese Woche“: „Unter den nun offenbar identifizierten Mitgliedern des sowjetischen Spionagerings sind Julius und Ethel Rosenberg, deren Hinrichtung 1953 Anlaß zu endlosen Untersuchungen und Debatten gab.“2

In Frankreich fanden diese „Enthüllungen“ kein besonders großes Echo, lösten aber doch einige Reaktionen aus. Le Monde rief voller Anteilnahme die Affäre Rosenberg in Erinnerung und verglich sie mit dem Fall von Sacco und Vanzetti. Abschließend zitierte sie einen der Söhne Rosenberg, Robert Meeropol, der die Echtheit der Dokumente anzweifelte und den CIA beschuldigte, „Meister in der Kunst der Desinformation“ geworden zu sein.3 Der Figaro hingegen veröffentlichte am 14. Februar 1996 (also einige Monate nach der Pressekonferenz) einen Artikel von Thierry Wolton, in dem dieser behauptete, die fraglichen Dokumente bewiesen zweifelsfrei, daß Julius Rosenberg nichts Geringeres gewesen sei als „der Chef eines bedeutenden Spionagerings, der für die Sowjetunion arbeitete.“ Die rechte Wochenzeitschrift Valeurs actuelles verkündete in einem Artikel vom 19. August 1995: „Die Rosenbergs waren sehr wohl schuldig.“

Doch was beweist die Operation „Venona“? Die entschlüsselten sowjetischen Botschaften handeln von verschiedenen, durchaus interessanten Themen, aber nie von den „Geheimnissen“ um die Herstellung der Atombombe. Unter anderem werden darin die großen Atomanlagen in Los Alamos, New Mexico, erwähnt; es ist die Rede von den Namen berühmter Wissenschaftlern, die dort arbeiteten – die waren jedoch allgemein bekannt4 – und vom Versuch, weniger bekannte, aber wissenschaftlich qualifizierte Leute anzuwerben. Darüber hinaus enthalten die „Venona“- Dokumente genaue Angaben über Geldsummen, die die Sowjets ihren amerikanischen Mitarbeitern offenbar im Austausch für Informationen über die Entwicklungen in der Radartechnik und der Luftfahrt bezahlt haben.

In zwanzig der neunundvierzig vom CIA veröffentlichten Botschaften taucht angeblich der Name von Julius Rosenberg auf, zunächst unter dem Decknamen „Antenne“, dann unter „Liberal“ – aber wie kann man sicher sein, daß das wirklich seine Pseudonyme waren? Es gibt jedenfalls ausreichend Gründe, an der völligen Echtheit der Dokumente zu zweifeln.

Das beginnt mit den Unstimmigkeiten in den Daten: Angeblich wurde mit der Entschlüsselung 1946 begonnen. Von diesem Zeitpunkt an haben die US-amerikanischen Behörden also angeblich gewußt, daß Julius Rosenberg ein „wichtiger Spion“ war. Warum ist er dann erst 1950 verhaftet worden – just als der Koreakrieg ausbrach?

Eine andere Unstimmigkeit ist noch auffälliger: Fast alle in den „Venona“- Botschaften genannten Personen sind durch Code-Namen gedeckt, nur die nicht, durch die die Rosenbergs eindeutig identifiziert werden können. Reiner Zufall? So erfährt Moskau am 21. September 1944 von den Absichten „Liberals“, die Schwägerin seiner Frau, Ruth Greenglass, die in der Stanton Street in Brooklyn lebt, zu rekrutieren. Ruths Mann, David Greenglass, ein Mechaniker in Los Angeles, ist der Bruder von Ethel Rosenberg. Da Name und Adresse von Ruth Greenglass unverschlüsselt genannt werden, wird dadurch der wichtige Spion „Liberal“ enttarnt.

Aaron Katz, seit 40 Jahren der Vorsitzende des National Committee to Reopen the Rosenberg Case mit Sitz in New York, meint, eine derartige Nachlässigkeit „hätten die Verantwortlichen des KGB in den USA sowie ihre Vorgesetzten in Moskau mit dem Gulag büßen müssen“. Laut Katz ist jedoch offenbar nichts dergleichen geschehen, woraus er folgert: „Aus ihrem Wunsch heraus, ,Liberal‘ mit allen Mitteln bloßzustellen, haben die amerikanischen Geheimdienste offenbar einen Schnitzer gemacht, durch den sie sich selber bloßstellen“5.

Für Katz sind die „Venona“-Dokumente nicht mehr als eine plumpe Fälschung. Tatsächlich weisen sie außer einer Reihe von zensierten Stellen eine so große Zahl von „Lücken“ auf – Wortgruppen, die nicht zu entschlüsseln waren –, daß es schwerfällt, das Ganze für glaubwürdig zu halten. Auf diesem Standpunkt steht auch die Mehrheit derer, die sich für eine Wiederaufnahme des Verfahrens einsetzen, wie der eigensinnige Journalist Sidney Zion, der den Fall gründlich untersucht hat, Eric Foner, ein Geschichtsprofessor an der Columbia University, oder der Rechtsanwalt William Kunstler, ein Verteidiger der Opfer von Ungerechtigkeit und Willkür.

Diese eindeutig negative Einschätzung der Operation „Venona“ wird aber bei weitem nicht von allen geteilt, selbst nicht in der Linken und unter den eingefleischten Gegnern von alten und neuen Hexenjagden. Walter und Miriam Schneir beispielsweise sind die Autoren von „Invitation to an Inquest“6, einem gründlich recherchierten und analytischen Buch, in dem sie für eine radikale Revision des Verfahrens eintreten. Sie haben „Venona“ so ernst genommen, daß sie ihre bisherige Position revidierten – wobei sie allerdings nicht so weit gehen, nachträglich die Todesstrafe zu rechtfertigen. Ronald Radosh und Joyce Milton hatten in ihrem Buch „The Rosenberg File“7 den Schuldspruch eher befürwortet, sich jedoch gegen die Todesstrafe ausgesprochen und die eklatanten Unregelmäßigkeiten des Prozesses kritisiert. Sie freuen sich nun, ihren Standpunkt durch die „Venona“-Akten bestätigt zu sehen.

„Ein höllisches Puzzle“

DIE „Venona“-Dokumente, die NSA und CIA nun als „neue Beweise“ für die Schuldigkeit der Rosenbergs präsentieren, waren in Geheimdienstkreisen und bei einigen gut informierten Journalisten schon längst bekannt. So hat Peter Wright, ein leitender britischer Geheimdienstoffizier mit engen Kontakten zum CIA, in seiner Autobiographie „Spycatcher“, die bei ihrem Erscheinen 1987 ein Bestseller wurde, der Operation „Venona“ ein ganzes Kapitel gewidmet. Für Wright war „Venona“ „das größte Spionageabwehrgeheimnis der westlichen Welt“8, was ihn jedoch nicht daran hindert, sein Buch mit einem recht skeptischen Unterton zu schließen, indem er „Venona“ ein „höllisches und lückenhaftes Puzzle“ nennt, das „viel versprach und wenig enthüllte“9.

1980 veröffentlichte der US-amerikanische Journalist und CIA- und Geheimdienstexperte David Martin das Buch „KGB contre CIA“ – mit großem Wohlwollen gegenüber dem letzteren – in dem er mehrfach auf die Operation „Venona“ anspielt, allerdings ohne diesen Codenamen zu nennen10.

Warum also hat sich die Regierung der Vereinigten Staaten dazu entschlossen, den Medien auf so spektakuläre Weise Dokumente offenzulegen, die, obgleich als „streng geheim“ eingestuft, schon seit geraumer Zeit bekannt waren, und zwar nicht nur bei Insidern, sondern auch bei Tausenden von Bestseller-Lesern? Aaron Katz beantwortet diese Frage mit dem Hinweis, daß seit einigen Jahren und vor allem in jüngster Zeit immer mehr Bücher, Bühnenstücke und unterschiedliche Stellungnahmen erschienen sind, die die offizielle Version der Affäre Rosenberg in Zweifel ziehen.

Die Veröffentlichung mehrerer Pro- Rosenberg-Bücher wie „The Murder of the Rosenbergs“ vom New Yorker Anwalt Stanley Yalkowsk oder „Fatal Error: The Miscarriage of Justice that Sealed the Fate of the Rosenbergs“ vom Washingtoner Anwalt Joseph Sharlitt hatte das Time- Magazin schon 199011 dazu veranlaßt, Abschriften von Tonbändern des ehemaligen sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow abzudrucken, auf denen der verstorbene Spitzenpolitiker den Rosenbergs „für ihre Hilfe dankte“. Doch die schwachen und ungenauen Erinnerungen eines Mannes ohne wissenschaftliche Sachkenntnis fielen weniger ins Gewicht als die Erklärungen der sowjetischen Verantwortlichen für das atomare Entwicklungsprogramm, wie beispielsweise Boris Brokhowitz, der 1989 der New York Times gegenüber erklärte: „Ihr habt die Rosenbergs umsonst auf den elektrischen Stuhl gebracht. Wir haben nichts von ihnen erfahren.“12

Zu diesen Erklärungen und Stellungnahmen kommt nun noch das „Geständnis“ von Roy Cohn hinzu, einem stellvertretenden Staatsanwalt im Prozeß Rosenberg und Protégé des Senators McCarthy. In seiner 1988 posthum erschienen Autobiographie13 gibt Cohn ausdrücklich zu, den Richter Kaufman unter Druck gesetzt zu haben, der ihm noch vor Eröffnung des Verfahrens versprochen hatte, er werde Julius Rosenberg zum Tode verurteilen. Cohn hatte dann weiter darauf gedrungen, daß auch Ethel zum Tode verurteilt werde.

In einem erfolgreichen Theaterstück von Tony Kushner, „Angels in America“, verkörpert die Figur des Roy Cohn den Zynismus und die Brutalität der McCarthy-Ära und ihres Klimas der Hexenjagd. Gegen Ende des Stücks tritt auch kurz der anklagende Geist von Ethel Rosenberg auf.14

Eine besonders interessante Kritik an der offiziellen Version der Affäre Rosenberg kam von einer überraschenden und bedeutsamen Seite, von der Amerikanischen Anwaltsvereinigung (American Bar Association, ABA). Auf ihrer Jahresversammlung 1993 im Hotel Waldorf Astoria in New York rekonstruierte diese einflußreiche und konservative Organisation den Prozeß von 1951 und spielte ihn nach. Die Rechtsanwälte stützten sich dabei auf dieselben Fakten und Argumente wie im Originalprozeß, ließen allerdings einige ungesetzliche Verfahrensweisen von damals weg. Die Geschworenen wurden tatsächlich aus einer Liste von New Yorkern ausgelost, die Rechtsanwälte und Richter waren echte Juristen, und nur die Rollen der Angeklagten und der Zeugen wurden von professionellen Schauspielern übernommen. Tausende Fernsehzuschauer konnten die Verhandlung verfolgen, die in langen Auszügen im Fernsehprogramm Court TV ausgestrahlt wurde. Die Verhandlungen dauerten zwei Tage und endeten, unter strikter Einhaltung sämtlicher Regeln des Gesetzes, mit einem einstimmigen „Nicht schuldig“.

Der wirkliche Rosenberg-Prozeß hingegen war ein Justizskandal. Zum einen, weil Verlauf und Urteil allein auf der Zeugenaussage von David Greenglass beruhten, dem Bruder von Ethel Rosenberg und einfachen Mechaniker in den Atomanlagen von Los Alamos. Die vagen Skizzen, die Greenglass angefertigt hatte und die dem Gericht zur Verfügung standen, stellten das einzige Beweisstück gegen die Rosenbergs dar.

Darüber hinaus war der Prozeß von einem grundsätzlichen Widerspruch zwischen den Punkten der Anklage und der Urteilsbegründung gekennzeichnet. Denn die Anklage gegen die Rosenbergs hatte auf „Komplott“ zu Spionagezwecken gelautet, hingerichtet aber wurden sie wegen des „Tatbestands“ Hochverrat, das heißt wegen Weitergabe geheimer Informationen über die Atombombe an eine ausländische Macht. Dieser „Tatbestand“ war aber nicht nachgewiesen worden. Am Ende des Prozesses hatte Richter Kaufman nicht gezögert, zu erklären, durch ihre Hilfeleistung für „die Russen“ seien die Angeklagten auch für den Tod von 50000 amerikanischen Soldaten im Koreakrieg verantwortlich.

Selbst wenn man sie für vollkommen echt hielte, so würden die „Venona“-Dokumente doch nur die Gültigkeit der Anklage (Komplott zu Spionagezwecken) beweisen. In keiner Weise dagegen rechtfertigen sie die Hinrichtung von Julius, vor allem aber von Ethel Rosenberg wegen Hochverrats. Diese doppelte Hinrichtung ist und bleibt ein unverzeihliches Verbrechen.

dt. Barbara Kleiner

1 „US tells How It Cracked Code of A-Bomb Spy Ring“, The New York Times, 12. Juli 1995.

2 Time, 24. Juli 1995.

3 „La passion Rosenberg“, Le Monde, 13. Juni 1995.

4 Darunter Niels Bohr, Enrico Fermi, Robert Oppenheimer, Harold Urey und Edward Teller.

5 In einem Brief an die „Französische Vereinigung zur Wiederaufnahme des Falles Rosenberg“.

6 Walter und Miriam Schneir, „Invitation to an Inquest“, New York (Doubleday) 1965.

7 Ronald Radosh und Joyce Milton, „Dossier Rosenberg“ Paris (Hachette) 1985.

8 Peter Wright und Paul Greengrass, „Spycatcher“, Berlin (Ullstein) 1989

9 ebd.

10 David C. Martin, „KGB contre CIA“ Paris (Presse de la Renaissance) 1981.

11 Time, 1. Oktober 1990.

12 The New York Times, 12. Juli 1995.

13 Sidney Zion, „The Autobiography of Roy Cohn“, New York (Lyle Stuart) 1988.

14 Dieses Stück ist auch in Europa aufgeführt worden, so etwa 1994 am Festival von Avignon.

* US-amerikanischer Journalist.

Einige Werke zu der Affäre

Michael und Robert Meeropol, „Nous sommes vos fils“, Paris (Les Editeurs francąis réunis) 1975.

Julius et Ethel Rosenberg, „Lettres de la maison de la mort“, Paris (Gallimard) 1953.

Malcolm Sharp, „Was Justice Done?“, New York (Monthly Review) 1956.

Marie-France Toinet, „La chasse aux sorcières“, Brüssel (Complexe) 1984.

Catherine Varlin et René Guyonnet, „Le Chant interrompu“, Paris (Gallimard) 1995.

John Wesley, „The Judgement of Julius and Ethel Rosenberg“, New York (Ballantine Books) 1977.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Schofield Coryell