10.05.1996

Keine wirkliche Union ohne demokratische Legitimität

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Keine wirkliche Union ohne demokratische Legitimität

■ DIE EU-Regierungskonferenz, die Ende März in Turin begann, ist der augenfällige Beweis für einen krassen Wid

DIE EU-Regierungskonferenz, die Ende März in Turin begann, ist der augenfällige Beweis für einen krassen Widerspruch zwischen erklärtem Ziel und angewandten Mitteln: Man will eine immer engere Union der Völker, betreibt aber eine feilschende Diplomatie hinter verschlossenen Türen. Damit sich die Nationen und ihre Bürger in den europäischen Institutionen wiedererkennen können – was diesen erst die volle demokratische Legitimität verleihen würde, die ihnen derzeit fehlt –, ist es unerläßlich, daß die Parlamente der Mitgliedstaaten bei sämtlichen Beratungs- und Entscheidungsprozessen einbezogen werden.

PAUL

THIBAUD *

ES gibt eine Art, über Europa zu reden, die nur schwer zu ertragen ist. So vor allem die jener Politologen, Soziologen, Ökonomen und so weiter, für die die Vereinigung des Kontinents nicht mehr ist als ein bloßer Nebenaspekt der allgemeinen Deterritorialisierung der Unternehmen, Kapitalien und politischen Institutionen. Nachdem die alten Grenzen durchlässig geworden sind und sich das Territorialdenken überlebt hat, müssen wir uns eben, so werden wir belehrt, mit partiellen und stets ungewissen Identifikationen begnügen. Nur Unfähige und Verlierer, die einen Rettungsanker brauchen, berufen sich heute noch auf die unverbrüchliche Verbundenheit von einst.1 In diesem Sinne konnte ein junger Soziologe behaupten, daß das Nationalgefühl mittlerweile ebenso beliebig sei wie religiöse Überzeugungen.2

Diese Einschätzungen darf man sicher nicht einfach übergehen. Aber andererseits: Steht es denn nun wirklich fest, daß das Nationalgefühl nur eine Verinnerlichung von Lebensweisen ist, daß das Sein stets das Bewußtsein bestimmt und daß wir demnächst nicht mehr sein werden als Figuren in einem planetarischen Spiel, die man nach Lust und Laune umgruppieren kann?

Die Staatsbürgerschaft ist kein Kondensat unserer sozialen Erfahrungen, unserer Interessen und Beziehungen: Sie führt uns in eine völlig andere Dimension. Als verallgemeinertes Selbstbewußtsein im Sinne Hegels ist sie keine gegebene Tatsache, sondern sie bedeutet Partizipation an einem Gemeinschaftsunternehmen, das darauf zielt, der Welt Sinn und Form, das heißt eine Dauer im Wechsel zu geben. Sie ist in der Einbildungskraft und im Willen verankert; sie ist Weltanschauung und Weltentwurf. Sie als bloße Folgeerscheinung zu beschreiben heißt, sie zu leugnen.

Eine „soziologistische“ Reduktion hat zu dem Glauben geführt, man könnte eine europäische Staatsbürgerschaft indirekt dadurch zuwege bringen, daß man die Lebensräume erweitert und die Entscheidungsorte verlagert. Aber hat man nicht, statt diese neue Staatsbürgerschaft zu begründen, eher die bestehenden gefährdet, indem man in den Nationen das Gefühl weckte, sie hätten keinerlei Einfluß mehr auf ihr Schicksal und den Gang der Weltgeschichte? Die Art, wie man den Ausdruck „europäische Staatsbürgerschaft“ verwendet, ist in dieser Hinsicht aufschlußreich: Man bezeichnet damit Rechte, Erleichterungen, Garantien und so weiter, die von äußeren Instanzen gewährt werden. Für diejenigen, die behaupten, daß die Bilanz der Gemeinschaft „eindeutig positiv“ ausfällt, vor allem auch was „die Stärkung der Demokratie“ betrifft3, scheint sich die demokratische Staatsbürgerschaft auf den Schutz der Individuen zu reduzieren, auf die vernünftige Beilegung von Interessenskonflikten und den allgemeinen Wohlstand. Das aber heißt vergessen, daß es nicht nur darum geht, anständig behandelt zu werden, sondern darum, politisch zu existieren. Wer die Bilanz Europas aufstellt, sollte daher auch die Krise berücksichtigen, in die die Instrumente geraten sind, welche die Mitwirkung an kollektiven Projekten sichern sollen, also die Nationen, Staaten und Parteien.

Weil man das zentrale politische Problem – das des Staates und der auf ihn bezogenen Staatsbürgerschaft – auf europäischer Ebene nie offen angegangen ist, vollzog sich der Aufbau der Gemeinschaft in der Zeit nach Jean Monnet auf indirektem und negativem Weg: Man verschrieb sich der ökonomischen Globalisierung und führte die Völker am Gängelband. Und tatsächlich besitzt die Staatsbürgerschaft eine gewisse Ausschließlichkeit, wenn man sie denn strikt auffaßt und nicht so vage und metaphorisch, wie es heute oft geschieht, wo sie sich geradezu auf eine Art „Betriebsangehörigkeit“ zu reduzieren scheint. In Wahrheit aber geht es nicht um eine mehr oder minder starke Bindung oder Identifikation; vielmehr will ich doch wissen, was in letzter Instanz meine Teilhabe an der Geschichte und zugleich meine Rechte und Freiheiten garantiert. Diese letzte Instanz war bislang immer nur eine: der Staat. Um seine Aufgabe zu erfüllen, muß der Staat freilich so weit präsent sein, daß er nach Maßgabe der genannten Verpflichtungen handeln und für dieses Handeln auch einstehen kann, statt die Verantwortung an andere Ebenen zu delegieren. Das derzeitige Problem mit dem Staat in Europa ist jedoch, daß er sich allmählich zurückzieht. Man weiß nicht mehr, wo er sich befindet, er scheint sich in Luft aufzulösen.

Viele meinen, das Verblassen dieser politischen Dimension sei bedeutungslos, denn wir hätten jetzt ja ein mächtiges Europa mit mächtigen Institutionen, eine europäische Macht, die unabhängig von den Nationen sei. Eine problematische Haltung, nicht nur, weil sich über das Ausmaß dieser Macht hervorragend streiten läßt, sondern auch, weil ihre innere Beschaffenheit ungewiß ist. Im Fall einer „gemeinsamen Ausübung der Souveränität“ wird die anfangs vorhandene Legitimität mit der Zeit immer mehr abnehmen, da die Art der Entscheidungsfindung (permanente Verhandlungen) immer verwickelter und undurchsichtiger wird. Entschließt man sich hingegen, wichtige Hoheitsrechte abzutreten, um so auf einen Schlag eine europäische Macht zu schaffen, stellt sich gleich zu Beginn ein schwerwiegendes Legitimitätsproblem. Sicher, diese Übertragung von Rechten auf Europa „wird schon irgendwie klappen“, „die Leute gewöhnen sich daran“. Aber das ist dann eben keine Zustimmung, sondern die Resignation derer, die politisch nicht mehr mitzureden haben. Denjenigen, die eine Art Staatsstreich zugunsten der Europäischen Union befürworten – die Errichtung einer neuen Macht durch den Konsens von Staaten, die hierzu gar nicht befugt sind, da sie gegen ihre eigene Verfassung verstoßen müßten4 –, schwebt als Modell oft die Entstehung der deutschen oder italienischen Nationalstaatlichkeit vor: Eine Macht legitimiert sich für eine Rolle, die es vorher nicht gab, indem sie zugunsten eines herrenlosen Ganzen handelt. Doch abgesehen davon, daß Deutschland im Bewußtsein der meisten Deutschen schon seit langem eine feste Größe war (vgl. unten den Artikel von Pierre Béhar über das soeben erschienene Buch von Jean-Pierre Chevènement), war Preußen, das ja nur erweitert und nicht erfunden werden sollte, a priori zum Handeln legitimiert.

Die institutionellen und staatsbürgerlichen Schwierigkeiten Europas beruhen darauf, daß einerseits nicht die Bedingungen gegeben sind, um eine neue Macht zu begründen, und daß andererseits die gemeinsame Ausübung der Souveränität, mag sie in vielen Punkten auch zu rechtfertigen oder gar notwendig sein – doch in welchen, muß man erst noch sehen –, zu einer heillosen Verwirrung führt, die den Nationen wie der Union gleichermaßen schadet und kühnen Visionen oder Plänen wenig förderlich ist.

Um sich darüber hinwegzutäuschen, verfällt man auf ungereimte Formeln. So liegt in der Rede vom „Verzicht auf Hoheitsrechte“ der absurde Gedanke einer Souveränität, die schrittweise von den alten Staaten an den neuen Staat abgetreten wird. Die Formel „Föderation von Nationalstaaten“, welche die französische Sozialistische Partei kürzlich in Umlauf brachte, hat den burlesken Charme eines hölzernen Eisens. Und die von Jacques Chirac empfohlene vertiefte Union, die „die Souveränität der Staaten respektiert“, ist vom selben Schlag. Diese Wortverbindungen drücken genau das aus, was sie leugnen: daß wir einem Destabilisierungsprozeß beiwohnen. Die Föderation ohne föderative Macht, in der wir uns befinden, ist ein kompliziertes und wenig legitimes Gebilde, dem es an bürgerlichem Geist und politischem Willen gebricht und dessen einzige Stütze im Grunde der Markt und die Richter sind ...

Daß der föderalistische Weg verschlossen ist, erklärt sich keineswegs aus übertriebenen Animositäten, sondern daraus, daß der Staatsangehörigkeit etwas von Ausschließlichkeit anhaftet. Wie Stanley Hoffmann gesagt hat, führt eine gelungene Föderation zur Geburt einer Nation. Wer also von Föderation spricht, beschwört den Tod der europäischen Nationen herauf. Dieser Angst muß man ins Auge sehen. In einem Bundesstaat wie Deutschland oder den Vereinigten Staaten besitzt die föderale Macht eine weiterreichende Legitimität als die föderierten Mächte. Ist dies nicht der Fall, degeneriert der Bund zu einem Mittel, mit dem man notdürftig das Auseinanderbrechen verhindert, wie in Belgien oder Kanada. Die wahre Föderation ist eine flexible Einheit, die ihre Bestandteile zweitrangig werden läßt. Unter diesen Umständen, da sich die grundlegende Schwierigkeit nun einmal nicht überwinden läßt, wird man ein bißchen an den Verfahrensweisen herumbasteln und vor allem neue Felder für die Zusammenarbeit zwischen den Nationen schaffen: das Europa der Verteidigung, das soziale Europa und so weiter. Doch es läßt sich jetzt schon voraussehen, daß die wesentlichen Streitpunkte erneut ungeklärt bleiben; man denke etwa an die Unstimmigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland in der Frage, wo die Prioritäten der europäischen Verteidigung liegen (im Osten oder im Süden) und wie die Beziehungen zur Nato aussehen sollen.

Künftig wird das Ziel, die Funktionsschwierigkeiten der Europäischen Union zu beheben – das so lange zweitrangig war, als die Union nur eine Art Liberalisierungsmaschine darstellte –, mit demjenigen zusammenfallen, das Legitimitätsdefizit zu senken. Ständige Komplikationen und Blockaden sind ein Hinweis darauf, daß es Europa an einem politischen Leben fehlt, in dem sich die – wesentlich nationalen – Standpunkte klären und annähern müßten; in dem Projekte und Ideen auftauchen könnten, die imstande wären, dem gemeinsamen Handeln eine Grundlage zu geben, was es den Institutionen der Gemeinschaft wiederum erlauben würde, ihre Kompetenzen zu erweitern, ohne die Demokratie zu gefährden. Heute aber zwingt uns ein perverses Spiel dazu, zwischen höherer Entscheidungskapazität und einem Mehr an Demokratie zu wählen, was die Bürger in folgendes Dilemma stürzt: entweder ihr bekommt ein föderalistisches Europa, das eure Nationen notwendig ins zweite Glied verweist, oder ihr bekommt ein technokratisches Europa der Staaten, in dem Diplomaten und Richter den Ton angeben. Ein fatales Dilemma zwischen seelenloser Betriebsamkeit, die das politische Leben der Nationen ausklammert und aushöhlt und dem Traum, auf künstlichem Wege zu einem europäischen „Volk“ zu gelangen.

Die Lösung bestünde darin, dort für Demokratie zu sorgen, wo derzeit in den Beziehungen zwischen den Völkern nur diplomatisch gefeilscht wird, also dort, wo nationale und europäische Ebene aufeinandertreffen. Nur so bekäme man das, was Charles de Gaulle in einer schönen Formulierung vorschwebte: „Ein Europa, das die Völker an- und einbezieht.“ Für den General blieb es dem Talent der Staatsmänner überlassen, den Sinn und die Tragweite der europäischen Projekte öffentlich zu diskutieren und zu erläutern. Diese Fähigkeit, die er selbst besaß, gab dem Unternehmen eine Allgemeinverständlichkeit, die es inzwischen verloren hat: teils wegen der Komplexität des Gegenstandes, teils aber auch, weil scheinbar alles getan wird, damit sich die Völker die „große Sache“ Europas gar nicht erst zu eigen machen, über die unsere Spitzenpolitiker lieber bei Arbeitsessen und im engsten Kreis verhandeln. Das Europa im Werden bleibt uns folglich verschlossen, man setzt uns immer nur das fertige Produkt vor. Vielleicht haben wir deshalb so oft etwas daran auszusetzen?

Einen europäischen öffentlichen Raum gab es in den letzten Jahren nur in „wilder“ Form und wenn sich Widerstände regten: so in den Debatten über den Vertrag von Maastricht, über das Agrarabkommen von Blair House, über Gatt oder über die Quoten für europäische Filmproduktionen. Jedesmal erklärte die proeuropäische Partei diese Obstruktionen für absurd, obwohl Europa doch gerade bei diesen Gelegenheiten in der öffentlichen Meinung eine greifbare Gestalt annahm. Die Art und Weise, wie man über und in Europa diskutiert, sollte so reformiert werden, daß endlich Schluß ist mit dieser Situation, die aus jeder europäischen Debatte eine nachträgliche Ratifizierungsdebatte macht, also eine Debatte darüber, ob man mitmacht oder nicht. Ein politisches Leben auf Europaebene wird es nur geben, wenn man über alle wohlausgewogenen Kompromisse hinausgeht und die Gefühle, Träume, Absichten und Visionen miteinander vergleicht und in Einklang bringt. Diese Einbeziehung nationaler Gefühlslagen setzt freilich voraus, daß der Aufbau Europas nicht mehr ausschließlich im bürokratisch kodierten Universum Brüssels und Straßburgs erfolgt, oder anders gesagt: daß man die Parlamente maßgeblich daran mitwirken läßt, also jene Zentren der nationalen politischen Kulturen, die, indem sie selbst europäisch werden, durch Austausch und Konfrontation eine gemeinsame politische Gedankenwelt Europas hervorbringen könnten.

Gegen ein Europa der Gängelung und Kleinkrämerei

EINE Möglichkeit, Europa zur Sache der Nationen und ihrer Bürger zu machen, besteht in der konsequenten Beobachtung der Verhandlungen durch parlamentarische Kommissionen, und dies gegen alle Vorbehalte der Brüsseler Beamten. Überdies hätten die Parlamente mehr Gelegenheit, entscheidend am Aufbau Europas mitzuwirken, wenn dieser nicht so mechanisch vonstatten ginge; so bei den jeweiligen Beitritts- und Ausstiegsentscheidungen im Rahmen „wechselnder Geometrien“, Ausnahmeregelungen und so weiter, die in der Union immer zahlreicher werden. Desgleichen bei der Diskussion und Bestätigung (oder nicht) des Vetorechts, dessen anerkannte Möglichkeit einen Ausgleich böte für den häufigeren Gebrauch der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit. Ein flexibleres Europa wäre „diskutabler“, verständlicher, „greifbarer“ als das der eingleisigen Praxis, die heute dominiert. Wenn es aber unmöglich ist, daß über die Institutionen der Union auf einer Parlamentskonferenz entschieden wird, so müssen sich die nationalen Parlamente dafür eine wesentliche, bislang aber geradezu verfemte Funktion sichern: diejenige, über die gemeinsamen Zukunftsperspektiven und politischen Visionen zu beraten.

Oft sind es Konflikte über unterschiedliche Gewichtungen, die Europa ins Stolpern bringen, also verschiedene Ansichten darüber, was sich von selbst versteht, unantastbar oder unerläßlich ist. Wegen dieser Differenzen, mit denen man nur schlecht umzugehen versteht, begnügt man sich mit uninspirierten, mittelmäßigen Lösungen, die sich einfach die herrschende Globalisierung zum Vorbild nehmen. Aufgabe der Parlamente könnte es daher sein, der Union eine geistig-moralische Substanz zu geben. Hierzu müßten sie den jeweils eigenen nationalen Standpunkt definieren und die Standpunkte der anderen Länder in den wesentlichen Fragen der gemeinsamen Zukunft erörtern. Dies wäre von entscheidender Bedeutung für die Entstehung politischer Legitimität. Eine Nation ist vor allem eine gemeinsame Vorstellungswelt, die sich in kollektiven Reflexen und Einstellungen äußert. Die Frage ist, ob die Vielfalt nationaler Vorstellungswelten durch eine gemeinsame europäische Vorstellungswelt überwunden oder „überdacht“ werden kann. Dies könnte eine direkte Fusion erreichen, etwa wenn ein großer Staatsmann, der sich mit dem Kontinent identifiziert, eine Krise zu meistern versucht. Da dies aber höchst unwahrscheinlich ist, bleibt nur die Annäherung durch Wandel, das heißt, die im Leben der verschiedenen Nationen verankerten Weltanschauungen müssen zu konstruktiven Auseinandersetzungen führen, um einen Konsens zu finden.

Man könnte sich also vorstellen, daß in den Parlamenten – und zwischen ihnen – demnächst über Themen debattiert würde wie die geopolitische Situation Europas und ihre Folgen, die Gestaltung des europäischen Raums, die demographische Zukunft, die Modalitäten gesellschaftlicher Solidarität, die ökologischen Perspektiven. Ein solches „Seminar“ in politischer Philosophie5, das ein mittelmäßiges und ängstliches Europa so bitter nötig hat, müßte mit einer öffentlichen Evaluierung von fast vierzig Jahren Integration beginnen, die sicher Anlaß zu Kontroversen bietet. Die Evaluierung müßte von den Parlamenten durchgeführt werden, die – weil sie nicht die Urheber, sondern nur die Zeugen und Bürgen dieser Anhäufung von Verträgen waren – sowohl über die nötige Legitimität wie über den nötigen Abstand verfügen, um die Resultate zu beurteilen. Eine darauf basierende Integration könnte einen wohltuenden Einfluß auf das ganze System haben. Das gegenseitige Vertrauen, das so zustande käme, könnte in gewissen Punkten eine praktische Fusion nach sich ziehen; es könnte auch dazu führen, daß man dauerhafte Unterschiede als solche anerkennt; und schließlich könnte es einen auf den Gedanken bringen, daß es ein ganzes Bündel kompatibler Handlungs- und Existenzweisen gibt, ganz im Geist der Römer Verträge, die verschieden „umsetzbare“ Richtlinien vorsahen – eine Möglichkeit, die der Dogmatismus der Luxemburger Richter arg beschnitten hat. Auf jeden Fall ließen sich so die willkürlichen Vereinheitlichungen vermeiden, die in der Union überhandgenommen haben, weil sich die Mitgliederstaaten letztlich mißtrauen.

Seit sich die Nationen auf das europäische Abenteuer eingelassen haben, verfolgt sie die Angst, daß dies ihr Ende bedeuten könnte. Umgekehrt fürchten sich die Anhänger und Befürworter der Union vor einer Revolte dieser in ihren Augen irrationalen und primitiven Nationen. Überwinden läßt sich diese doppelte Angst nur, wenn man die Wahrheit nicht länger verschweigt. Die Möglichkeit, daß die Nationen als politische Gebilde verschwinden, ist Bestandteil des europäischen Projekts. Und niemand kann sagen, daß es so weit nie kommen wird. Die Völker spüren dies, auch wenn die Verantwortlichen es leugnen. Verunsichert und traumatisiert, entwickeln die Nationen bedenkliche Symptome: Verbitterung, Niedergeschlagenheit, Schwarzseherei, Haß auf sich selbst und die anderen, Gewaltausbrüche, gesellschaftliche Ausgrenzungen ... Alles perverse Folgen des europäischen Ideals!

Bedenkt man, daß die natürliche Sicherheit von einst ohne vorherige Apokalypse nicht wiederhergestellt werden kann, bleibt nur ein einziges Mittel gegen diese Krankheiten: Man muß dafür Sorge tragen – und durch entsprechende Maßnahmen deutlich machen –, daß diese Nationen, sollten sie eines Tages überrollt oder absorbiert werden, dafür eine ambitioniertere, klarsichtigere Staatsbürgerschaft mit reicheren Entfaltungsmöglichkeiten bekommen und nicht jene Gängelung und Kleinkrämerei, die heute Europa charakterisiert. Vielleicht besteht die neue Größe der Nationen des alten Kontinents darin, sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewußt zu sein. Aber wenn sie schon zum Verzicht bereit sind, dann doch bitte nur für ein Ziel, das sie über sich selbst hinausträgt! Wie Ernest Renan vorausschauend bemerkte, kann niemand den Nationen garantieren, daß Europa sie nicht irgendwann ersetzt, aber auf jeden Fall muß man vermeiden, sie dadurch zu erniedrigen, daß man ihre Überwindung mit einer Entwertung verwechselt. Die Union muß von den Nationen selbst und ihren Staatsbürgern hervorgebracht werden, durch die Arbeit, die sie an sich selbst leisten.

dt. Andreas Knop

In der nächsten Ausgabe:

Ein Europa der Bürger (IV): Der öffentliche Dienst als Garant des Allgemeinwohls, von Sylvain Hercberg

1 Vgl. Bertrand Badie, „La Fin des territoires“, Paris (Fayard) 1995.

2 Jean Viard, „La gauche a perdu la gagne“, Libération, 14. Mai 1994.

3 Laurent Cohen-Tanugi, „Le Choix de l'Europe“, Paris (Fayard) 1995.

4 In der französischen Verfassung etwa steht, daß die Souveränität beim „französischen Volk“ liegt. Wer gegen diesen zentralen Artikel verstößt, beraubt die Verfassung ihrer eigentlichen Substanz.

5 Diese Formel gebraucht Gordon S. Wood in seinem klassischen Werk, „The Creation of the American Republic 1776-1787“, New York (Norton Press) 1993, um die in den USA politisch so brisante Zeit um 1780 zu kennzeichnen.

* Schriftsteller.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Paul Thibaud