10.05.1996

Abstimmung mit dem Einkaufswagen

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Abstimmung mit dem Einkaufswagen

Von

BERTRAND

HERVIEU *

RATIONELL: Kein anderes Wort scheint die französische und europäische Landwirtschaft in ihrer Modernisierungsphase besser zu beschreiben. Durch den Schulterschluß mit Wissenschaft und Technik ist sie in das Lager effizienter Vernunft übergewechselt. Um Produktivität besorgt, war sie auf den Fortschrittszug aufgesprungen; und da sie sich von der politischen Maxime einer Überflußernährung zu Billigpreisen leiten ließ, stand sie auch moralisch auf der richtigen Seite. So hat sich die Weizenproduktion in vierzig Jahren verdreifacht, ebenso die Schweinezucht. Die Erträge der Rinderhaltung haben sich verdoppelt, während die Maisernte um das Dreizehnfache gesteigert wurde. Die landwirtschaftliche Produktivität war 1980 7,2mal so groß wie im Jahr 1950. Aber auch der Agrarernährungssektor hat sich entwickelt: 1996 hat Frankreich nicht nur den zweiten Platz im Weltexport von Agrargütern inne, sondern hält nun auch den ersten Platz beim Export von agrarischen Veredelungsprodukten.

Wenn man sich lediglich an Zahlen hält, hat das technisch-wirtschaftliche Vernunftdenken wohl einen quantitativen Fortschritt mit sich gebracht, und es wäre absurd, seine Rolle in der Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums zu verkennen. Gewiß, es gab auch Schäden. Die aber hat man lange als notwendiges Übel und als jenen Tribut betrachtet, der eben für den Fortschritt zu bezahlen ist. Auch Bedauern über die Entwicklung und ein Hang zur Nostalgie machten sich bemerkbar, was man aber um so leichter wegwischen konnte, da doch das Ergebnis im ganzen gesehen positiv war. Erst seit sehr kurzer Zeit beginnt man wohl oder übel eine Reihe von Bruchstellen wahrzunehmen, die diese Explosion an Modernität hinterlassen hat. Der grundlegendste Bruch mit der Vergangenheit besteht zweifellos darin, daß die Ernährung – das Ziel schlechthin jeder landwirtschaftlichen Aktivität – sich zu einer immer abstrakteren Wirklichkeit gewandelt hat.

Die von den großen Modernisierungen geprägte Nachkriegsgeneration erlebte den Übergang von der Kartoffel zum Pfanni-Püree und den Wechsel von der Milchkanne zum H-Milch-Pack. Der junge Konsument des ausgehenden Jahrhunderts wächst seit seiner Geburt zwischen Tetra Paks und Büchsen, Pulvern, Tuben und Fläschchen auf. Lehrer, Leiter von Ferienlagern und Verleger verausgaben sich an pädagogischem Erfindungsreichtum, damit die Jüngsten die Kuh hinter dem Trinkjoghurt entdecken. Die hochgerüstete Lebensmittelverarbeitung hat sich als eine Art Blackbox zwischen die Produkte der Landwirtschaft und das geschoben, was wir essen. Forciert wird diese Entwicklung durch die mit immer komplexeren Produktionsverfahren einhergehenden technischen Erfordernisse, die für normale Sterbliche undurchschaubar sind, und durch kaum mehr nachvollziehbare Gesundheitsvorschriften.

Die Tiere, die unsere Nahrung bilden, werden immer öfter in abgeschlossenen Räumen geboren, die sie zeitlebens nicht verlassen. Niemand hat überhaupt je die Möglichkeit, sich einen Schweinestall, eine Kälberzucht oder einen Hühnerstall, in denen industriell produziert wird, näher anzusehen, weil es streng verboten ist. Und wer glaubt schon, daß eine Beschreibung, die beispielsweise die Bestandteile eines Erzeugnisses als „hergestellt auf Brokkoli-Kalbsleber- Basis“ angibt und den Proteingehalt, den Kalorienwert und so weiter beziffert, wirklich unsere Unwissenheit beseitigen kann, wenn wir erfahren wollen, was am Ende des Fließbands auf unserem Teller landet?

So steht die Landwirtschaft, einst die Kunst der Naturaneignung schlechthin, nun im Verhältnis zur Natur eher außen vor. Die Erde wird nicht mehr als ein Erbe, sondern zunehmend als ein bloßes Produktionsmittel betrachtet. Sie hat sich vor allem in ein Anlagekapital verwandelt, von dem man eine Rendite erwartet. Das wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Vernunftdenken hat die Vermittlung zwischen dem Menschen und dem Pflanzen- und Tierreich fast unmöglich gemacht. Das instrumentalisierte Tier ist zu einer Maschine geworden, die pflanzliche Proteine in tierische Proteine umwandelt.

Diese Entwicklung hat vermutlich genau in dem Augenblick ihren Endpunkt erreicht, da die Industriegesellschaften – gerade wegen einer brutalen Entwöhnung von der Bindung an Tier und Pflanze, der sie doch unterworfen sind – den Wunsch entwickeln, diese Bindungen neu zu knüpfen. Seit ungefähr zehn Jahren wächst die Unzufriedenheit und hat dabei in der öffentlichen Meinung ein solches Gewicht erlangt, daß das Agrarmilieu verunsichert ist. Die „Große Ernte auf den Champs-Elysées“, die am 24. Juni 1990 vom Centre national des jeunes agriculteurs (CNJA) organisiert wurde1, war in dieser Hinsicht beispielhaft: eine Ernte am falschen Ort zur falschen Zeit, eine Ernte in der Stadt und also deplaziert, eine Ernte als technische Leistungsschau, kollektiver Exorzismus einer unmöglichen Trauer über eine Welt, von der man weiß, daß sie endgültig verloren ist.

Sich für eine Lebensweise entscheiden

ZWEI Ereignisse der letzten Monate haben dafür gesorgt, die in der Landwirtschaft herrschende Vernunft ernsthaft in Frage zu stellen. Da war zuerst im Februar 1996 die Demonstration der Bewohner von Saint-Brieuc, das mitten in der sogenannten „Schweinebucht“ liegt, mit der sie gegen die immer schlechtere Wasserqualität protestierten. Sie richtete sich zwar nicht ausschließlich gegen eine Schweinezucht, die den Tieren noch das letzte Stück Boden verwehrt, letztendlich aber stand die artfremde Tierhaltung doch im Vordergrund der Proteste. Ganz als ob sich die Gesellschaft auf einmal fragte, ob es noch vernünftig zu nennen ist, zwischen preisgünstigem Schinken und der Verfügbarkeit von sauberem Wasser wählen zu müssen ... Denn eine Veröffentlichung des Umweltministeriums über die fortschreitende Verschlechterung des Grundwassers durch Nitrate belegt, daß es sich hier um ein besonders schwerwiegendes, landesweites Phänomen handelt. Das Agrarmilieu, das seine Adelung mit der Erfüllung seiner Aufgabe erlangt hatte, die Lebensmittelversorgung des Landes zu gewährleisten, kann die Frage der Trinkwasserversorgung nicht einfach ignorieren; für die Menschen von morgen wird sie noch wichtiger sein als die der Ernährung.

Der „Rinderwahn“ seinerseits legt die Konsequenzen der Deregulierung in der Thatcher-Ära bloß. Als die tierärztlichen Kontrollen in Großbritannien nicht mehr durch den Staat gewährleistet wurden, haben die Gesetze des Marktes und die Forderung nach immer niedrigeren Produktionskosten über die grundlegenden Sicherheitsvorschriften im Bereich tierischer Nahrung den Sieg davongetragen. In einem Klima, das noch von dem Skandal mit den verseuchten Blutkonserven geprägt war, konnte die Politik – ganz besonders in Frankreich – nicht tatenlos bleiben. Das aber löste die Krise aus: Die Verkündung des Einfuhrstopps setzt die Schwere der Bedrohung vor der Öffentlichkeit so wirksam in Szene, daß sie darauf prompt mit ihrem Einkaufswagen reagiert. Seitdem geht es weder vor noch zurück.

So wächst in den Gesellschaften die ambivalente Haltung, einerseits nach immer weniger Kontrollen und andererseits nach immer mehr Sicherheit zu rufen. Wird man die Gelegenheit zur Neubewertung des landwirtschaftlichen „Fortschritts“ wahrnehmen, der heute von einer eindimensionalen, technisch-wirtschaftlichen und an der Produktivität orientierten Rationalität beherrscht wird? Wird ein anderes Vernunftdenken Platz greifen, das die Gesundheit in den Vordergrund stellt, langfristig plant und im Hinblick auf natürliche Rohstoffe auf eine Strategie des verantwortlichen Wirtschaftens setzt, und nicht nur auf finanzielle Rentabilität?

Es ist nicht mehr möglich, die Aufgabe der Bauern ungestraft darauf zu reduzieren, das Kilo tierischer Proteine so billig wie möglich zu produzieren. Das schockiert in erster Linie die Tierzüchter selbst; um so mehr, als diese Art von Betrieb leicht und schnell zu verlagern ist. Was die Bürger erwarten, ist nicht eine Landwirtschaft ohne Boden, sondern eine Landwirtschaft, die wieder „an Boden gewinnt“, die sich um die Bewahrung des landwirtschaftlichen Erbes und der Wasservorräte kümmert, die neben materiellen Gütern auch Landschaft und Lebensraum entstehen läßt, also Güter, die nicht materiell und nicht austauschbar sind. Sie erwarten, anders gesagt, eine umfassende Zielsetzung, die etwa einherginge mit der Entscheidung für eine bestimmte Lebensweise und Lebensphilosophie, die Versorgung mit Lebensmitteln vom Standpunkt der Qualität und nicht mehr nur von dem der Quantität aus zu betrachten.

dt. Christophe Zerpka

Die man

Bauern nannte

Hat nach Bhopal, Tschernobyl und all den anderen Katastrophen, als man die Opfer der „Hochrisikoindustrie“ nach Tausenden zählen konnte, der Skandal um den „Rinderwahn“ eine neue Art der Gefahrenklasse geschaffen, nämlich die der „Hochrisiko-Landwirtschaft“? In diesem Falle wäre hier eine äußerst bedeutende Schwelle überschritten worden, da Lebensmittel nun mal symbolisch wie materiell mit den menschlichen Lebensfunktionen eng verbunden sind.

In Westeuropa hat die Agrarrevolution der sechziger und siebziger Jahre zu einer nie dagewesene Steigerung der Tier- und Pflanzen-„Produktion“ geführt und gewährleistete so weit mehr als die landwirtschaftliche Selbstversorgung der Gemeinschaft. Dies aber um den Preis einer radikalen Veränderung des Berufsbildes jener, die man einst Bauern nannte und von denen sich viele in Fabrikanten verwandelt haben, die mit der Natur nicht mehr direkt in Beziehung stehen, da Ackerbau und Viehzucht nunmehr auf Boden verzichten können. Diese Auflösung einer uralten Bindung im Namen einer Produktionsideologie, die der großen Mehrheit der Landwirte auferlegt wird, hat den Weg freigemacht für alle möglichen Enttabuisierungen, vor allem für die „Verdinglichung“ des Tieres und die Umwandlung von Pflanzenfressern in Fleischfresser, in unfreiwillige Konsumenten der Gerippe ihrer infizierten oder gesunden Artgenossen. Diese Pervertierung der natürlichen Nahrungskette, die durch die Oberflächlichkeit der Kontrollen der Behörden in England und Brüssel im Namen von Verwaltungsvereinfachung und liberaler Dogmen noch verschlimmert wurde, löst eine große Angst aus, neben der die vor dem HIV-verseuchten Blut geradezu harmlos scheint.B.C.

1 Die Pariser Prachtstraße wurde für einen Tag mit großem Aufwand in ein Kornfeld verwandelt.

* Forschungsdirektor am CNRS, am Centre d'études de la vie politique française (Cevipol) und Autor von „Les Agriculteurs“, Paris (PUF) 1996.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Bertrand Hervieu