Israels Araber suchen eine Identität
Von
JOSEPH
ALGAZY *
BIS zu den verheerenden Luftangriffen auf den Libanon und dem Blutbad von Kana hielt man es für ausgemacht, daß 80 Prozent der arabischen Staatsbürger Israels bei den Wahlen für Schimon Peres als Ministerpräsidenten stimmen würden, wenn auch ohne Begeisterung. Bei den Parlamentswahlen schien dagegen eine Aufteilung ihrer Stimmen unter den arabischen Listen, der regierenden Arbeiterpartei, ihrem linken Partner Meretz und Chadasch, dem kommunistischen Bündnis, wahrscheinlich.
Die Araber würden sich allerdings selbst schaden, wenn sie nun Peres bestrafen wollten, indem sie gegen ihn stimmen oder ungültig wählen. Wenn ihnen daran gelegen ist, die Rückkehr der Rechten unter einem Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu aufzuhalten, wenn sie eine Fortsetzung der Friedensverhandlungen ermöglichen und eine, wenn auch langsame, Verbesserung ihrer eigenen Lebensbedingungen erreichen wollen, müssen sie als kleineres Übel Peres wählen. Und das, obwohl sie wütend auf den Ministerpräsidenten und seine Regierungskoalition aus Arbeiterpartei und Meretz sind, da die Regierung seit den blutigen Anschlägen der Hamas und des Islamischen Dschihad in Jerusalem und Tel Aviv seit Ende Februar die Palästinensergebiete abriegeln läßt. Die Sperre ruiniert die Wirtschaft in den Gebieten unter palästinensischer Autonomie. Die Mehrheit der Bevölkerung ist zu Arbeitslosigkeit verurteilt, und inzwischen werden bestimmte Lebensmittel und Medikamente knapp – es hat deswegen bereits einige Tote gegeben, darunter auch Neugeborene.
Inzwischen sind die Araber auf Peres auch wegen des israelischen Schlags gegen Kana wütend, auch wenn die israelischen Operationen im Libanon Arafat nicht daran gehindert haben, gemeinsam mit Peres die Umsetzung der Oslo-II-Verträge in Angriff zu nehmen.
Seit der Intifada und erst recht nach den Abkommen von Oslo sind bei den arabischen Bürgern des Staates Israel zwei scheinbar widersprüchliche Tendenzen deutlich geworden, die genaugenommen zusammengehören: einerseits eine „Palästinisierung“, die auf der Solidarität mit den Bewohnern der besetzten Gebiete beruht und zum anderen eine „Israelisierung“, in der sich, bei aller Auseinandersetzung, ein klarer Wille zur Integration in den Staat Israel zeigt.1
Es ist kein Zufall, daß die Intifada letztlich die green line nicht passieren konnte: In Israel fand sie zwar Verständnis, aber keine Nachahmer. Die Araber in Israel nehmen Anteil am Schicksal der Palästinenser in der Westbank und in Gaza, aber sie haben ihre eigenen alltäglichen Probleme. Ihnen geht es vor allem darum, bessere Lebensbedingungen zu erreichen und endlich den jüdischen Bürgern gleichgestellt zu werden.
Und es ist auch kein Zufall, daß sie in ihrer großen Mehrheit nicht empfänglich waren für die nationalistischen Parolen, etwa die Forderungen nach kultureller oder territorialer Autonomie, die von einigen ihrer Landsleute vorgetragen wurden. Die Mehrheit der arabischen Bevölkerung in Israel sieht in solchen Autonomieplänen keinen Weg zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und der Beziehungen zum israelischen Staat und der jüdischen Bevölkerungsmehrheit – im Gegenteil, es bestünde die Gefahr, ein arabisches Ghetto zu schaffen.
Vor diesem Hintergrund wird derzeit eine heftige Debatte über den Charakter des Staates Israel geführt. Einige vertreten die Position, aus dem „jüdischen Staat“ müsse künftig ein „Staat aller Bürger“ werden; andere schlagen, mit Rücksicht auf die Geisteshaltung der jüdischen Mehrheit, eine dritte Variante vor: Man könne vom „Staat der Juden und seiner anderen Bürger“ sprechen. Ein solcher Kompromiß sei schon deshalb vertretbar, weil man schließlich nicht vom Staat Israel eine universale Selbstdefinition fordern könne, solange alle arabischen Staaten sich als Nationalstaaten betrachten.
Trotz heftiger Kritik an der Politik unter Rabin und Peres treten die israelischen Araber ganz entschieden für den Friedensprozeß ein – deutlicher als alle anderen arabischen Bevölkerungsgruppen im Nahen Osten. Mit einer dauerhaften Regelung des israelisch- palästinensischen Konflikts würden sie aus dem Dilemma befreit, sich einerseits dem palästinensischen Volk zugehörig zu fühlen, andererseits aber Bürger des Staates Israel zu sein: Ihre Nation würde endlich Frieden mit ihrem Staat schließen.
Außerdem sind die ersten Früchte des Friedens zum Greifen nah. Seit 1992, als die Arbeiterpartei wieder an die Regierung kam, haben die staatlichen Investitionen in arabischen Wohngebieten erheblich zugenommen, die sozialen Einrichtungen, vor allem im Ausbildungsbereich, sind deutlich verbessert worden.2 Dieser Geldsegen war allerdings nicht genug, um die Unterschiede in Lebensstandard und sozialer Versorgung auszugleichen, die zwischen jüdischen und arabischen Bürgern nach wie vor bestehen. Diese Diskrepanzen, das gestehen auch die Behörden ein, lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen beseitigen. Sie sind die Folge einer Politik der Diskriminierung, die vierzig Jahre lang von allen Regierungen, ob Likud oder Arbeiterpartei, ganz bewußt verfolgt wurde.
Obwohl sie der Koalition nicht angehören, haben die arabischen Abgeordneten in den vergangenen vier Jahren stets mit dem parlamentarischen Block gestimmt, der den Regierungen Rabin und Peres die Mehrheit sicherte. Die politische Klasse in Israel hat diese Schlüsselrolle der arabischen Delegierten zur Kenntnis genommen, ihnen aber dennoch eine formelle Anerkennung versagt.
Im gegenwärtigen Wahlkampf zeigt sich einmal mehr die mangelnde Einigungskraft der arabischen Politiker in Israel. Persönliche Feindschaften und Streitigkeiten zwischen den Clans haben das Zustandekommen einer gemeinsamen Liste verhindert, so daß die meisten politischen Gruppierungen sich nun einzeln zur Wahl stellen und damit Gefahr laufen, an der 1,5-Prozent-Hürde zu scheitern. Erstmals tritt auch ein Teil der islamistischen Bewegung mit eigenen Kandidaten an, in einem Bündnis mit der Arabischen Demokratischen Partei von Abdel Wahab Darusch – darüber war es zu einer Spaltung der Islamisten gekommen. Die Kommunisten, die fünfzehn Jahre lang die Mehrheit der arabischen Wähler hinter sich hatten, müssen nun befürchten, ihre drei Sitze im Parlament nicht halten zu können. Sie sind daher ein Wahlbündnis mit einer nationalistischen arabischen Gruppierung eingegangen, die sich „Nationaldemokratischer Verband“ nennt.
Die interessanteste Entwicklung ist jedoch, daß die Arbeiterpartei offenbar zunehmend Anhänger unter der arabischen Bevölkerung findet – zumindest besagten das Umfragen, die vor der Bombardierung des Libanon geführt wurden. Ein Tabu scheint gebrochen: Israelische Araber stimmen für eine jüdische zionistische Partei oder treten ihr sogar bei. Ein weiterer Beleg für die „Israelisierung“ ...
dt. Edgar Peinelt
1 Siehe dazu David Grosman, „Les Exilés de la terre“, Paris (Le Seuil) 1995.
2 Die Summe der staatlichen Ausgaben für die arabische Bevölkerung hat sich von 387 Millionen Schekel (182 Mio. Mark) im Jahr 1992 auf 892 Millionen (420 Mio. Mark) 1995 erhöht. In den Bereichen Bildung und Entwicklung sowie bei der Finanzhilfe für die Gemeinden war eine Verdoppelung zu verzeichnen.
* Journalist bei der israelischen Tageszeitung Haaretz.