Der elektronisch übermittelte Volkswille
WERDEN wir morgen per Tastendruck am Computer unsere Stimme abgeben? Wird diese neue Möglichkeit elektronischer Direktwahl die organisierten Interessengruppen zurückdrängen können, die allzu häufig die Demokratie für sich vereinnahmen? Oder ist das eine Illusion? Könnte sich dies nicht gegen das demokratische System auswirken? Wird die Politik mit den neuentstandenen Zwängen fertig werden, die mit einer allen zugänglichen Information einhergehen? Und wer kontrolliert jene Interessengruppen, die die neuen Kommunikationstechnologien zu ihren Zwecken einzusetzen bereit sind?
Von RICCARDO STAGLIANO *
Washington: Das Viertel, in dem die Ministerien liegen, trennt der Beltaway – eine Art Ringstraße, die sich um die Regierungsgebäude der Vereinigten Staaten legt – vom Rest der Stadt. Dieser Asphaltgürtel, der die Administration von den Bürgern scheidet, wurde zum Symbol der politischen Herrschaft in der amerikanischen Bundeshauptstadt.
Könnten die „Datenautobahnen“ diesen Graben, der das „Land der Gesetze“ und das „Land der Fakten“ voneinander trennt, überbrücken und beide wieder miteinander in Verbindung bringen? Könnten die Glasfaserkabel nach fünfundzwanzig Jahrhunderten das Erbe der athenischen Agora wiederbeleben, indem sie der Bevölkerung die Möglichkeit bieten, in einer neuartigen und wirkungsvollen Form – virtuell und interaktiv – an der Verwaltung des Gemeinwesens direkt teilzuhaben? Die elektronische Nabelschnur, die Regierende und Regierte verbindet, könnte indes auch die Debatten erschweren und entstellen und ihnen eine Emotionalität verleihen, die zu ungerechten Gesetzgebungen führt. Die Cyberdemokratie, Kinderkrankheit der Hyperdemokratie, mag in sich den Keim eines Widerspruchs tragen: Zuviel Demokratie tötet die Demokratie.
In den Vereinigten Staaten hat sich die politische Rechte auf diese elektronischen Netzwerke gestürzt: Wer die ersten Fundamente im Eldorado der neuen Kommunikationstechnologien legt, sichert sich für die kommenden Jahre eine Dauerrendite. Jene konservativen amerikanischen Technokraten, denen man die blinde Zerstörung des Wohlfahrtsstaates zum Vorwurf macht, schwingen sich eben zu Aposteln der direkten Demokratie im dritten Jahrtausend auf. Wer sagt da, das Los der Armen interessiere uns nicht? Wo wir doch bereit sind, den schwarzen Kids von Harlem einen Computer hinzustellen, damit sie schon jetzt üben können, später per Tastengeklimper ihre Stimme abzugeben!
Newt Gingrich, Sprecher der Republikaner im Repräsentantenhaus, ist eine der zentralen Figuren dieser Avantgarde der „Fortschrittskonservativen“: „Man wird die staatliche Macht zu den Bürgern jenseits des Beltaway verlagern.“ Finden die neuen Technologien erst einmal in der Politik Anwendung, so werden sie, behauptet Gingrich, den mächtigen Lobbys von Washington den Todesstoß versetzen. Auf dem Weg dorthin hat er schon heute den Bürgern Zugang zu den Gesetzgebungsmechanismen eröffnet – dank eines Servers namens Thomas (The House Open Multimedia Access System), benannt zu Ehren von Thomas Jefferson, jenem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der die ersten öffentlichen Bibliotheken ins Leben rief. Die gesamte Arbeit des Repräsentantenhauses wird ins Internet eingespeist und kann über Modem von denen, die Einsicht darin nehmen wollen, abgerufen werden. „Es wird schwieriger werden, Gesetze zu verabschieden, die nur partikularen Interessen Rechnung tragen“, verkündete Gingrich jüngst auf einer Konferenz, die von der erzkonservativen Progress & Freedom Foundation finanziert wurde. „Informationen, die in Echtzeit verbreitet werden, ermöglichen jedem – und nicht nur überbezahlten Lobbyisten – den Zugang zu denselben Informationsquellen.“
In einem Beitrag über die Zukunft der Demokratie, der kürzlich in The Economist erschien1, zeichnen sich zwei extreme Auffassungen zu dieser Frage und eine unvermeidliche Entwicklung ab.
Der Alptraum: Ein ausreichend vernetztes Land beschließt, daß die gesamte Bevölkerung jeden Samstagabend auf der elektronischen Autobahn die Gesetze verabschiedet, die dieser oder jener einzelne Bürger unterbreitet hat. „Nehmen wir einmal an, daß es in der Nacht von Freitag auf Samstag zu Rassenunruhen kommt, bei denen ein Dutzend Weißer ihr Leben lassen. Internet murrt, die elektronische Post knirscht mit den Zähnen. Am nächsten Tag liegt die Antwort auf dem Tisch: Alle Pakistanis, Hispanos, Algerier und Türken raus!“ Dies die bittere Prognose des Economist-Journalisten.
Der Traum: Zum x-ten Mal gelingt es den Abgeordneten nicht, den Haushalt auszugleichen, weshalb sie das Volk bitten, das Problem zu lösen. Unterschiedliche Möglichkeiten werden elektronisch vorgestellt: „Nach mehreren Monaten voller kontroverser Antworten und unzählige Male wiederholter Abstimmungen mittels Computertastatur schließlich: Bingo! Ein makellos ausgeglichener Haushalt ist herausgekommen, der die Mehrheit zufriedenstellt.“
All dies steht gewiß nicht unmittelbar bevor. Indes, die Mechanismen der demokratischen Beteiligung – „derzeit auf dem Niveau der Dampfmaschine“ – scheinen bereits auf Veränderung hinzudrängen. Die Wähler zeigen sich zunehmend unwillig, Nachsicht gegenüber politisch Verantwortlichen zu üben, deren Grenzen und Fehler sie kennen, und die Zugänglichkeit der Information für alle übt einen permanenten Druck auf die Politiker aus. Die neue elektronisch vermittelte Möglichkeit einer direkten Demokratie scheint auf einen der zentralen Schwachpunkte der Politik antworten zu können: die Macht der Lobbys. Das aktive Eingreifen einer großen Zahl von Bürgern könnte die Flut der Partikularinteressen eindämmen, die Pressure-groups wären nicht mehr imstande, die Mehrheit der Wählerschaft zu betrügen und zu bestechen.
Doch stimmt eine nähere Betrachtung der elektronischen Wahlkampagnen, die bis heute geführt wurden, eher skeptisch gegenüber Newt Gingrichs Zukunftsvisionen: In den Händen von organisierten Interessengruppen inner- oder außerhalb des Kapitols könnten die zweifelhaften Möglichkeiten der neuen Kommunikationstechnologien sich als tödliche Waffe gegen die Demokratie erweisen. Neue Arten käuflicher Spezialisten könnten sich herausbilden, die in der Lage wären, in kürzester Zeit unaufhaltbare technologische Strafexpeditionen gegen politische Gegner vorzunehmen.
Das Unternehmen von Jack Bonner, Bonner and Associates, kann zur Unterstützung eines Abgeordneten pro Nacht 10000 Faxe verschicken. Indem Bonner umfangreiche Datenbanken über die Einwohner der verschiedenen Bundesstaaten konsultiert, filtert er die möglichen Sympathisanten der von seinem Kunden vertretenen Sache heraus. Seine Mitarbeiter nehmen nun mit diesem Personenkreis telefonisch Kontakt auf und machen alle auf die Gefahr aufmerksam, die für sie damit verbunden ist, daß dieses oder jenes Gesetz verabschiedet wird (oder – je nachdem – nicht verabschiedet wird); schließlich legen sie den Betreffenden nahe, „mit ihren eigenen Worten“ den entsprechenden Abteilungen im Kongreß ihre Befürchtungen mitzuteilen. Jeder erfolgreiche Anruf bringt Bonner 350 bis 500 Dollar. Die Investitionskosten seines Unternehmens sind gering: Telefon und Zugangssoftware, um in die Datenbanken zu gelangen.
Den größten Respekt unter den Pionieren einer neuen Generation von „gedungenen Rufmördern“ per Glasfaser verdient wohl Richard Hartman. Dem Informatiker, der gemeinsam mit seiner Frau Reform Congress 94 gründete, gelang es bei den Wahlen im November 1994, den ehemaligen Sprecher der Republikaner Tom Foley kaltzustellen.2 Sein sehr erfolgreiches Familienunternehmen ist als erstes politisches Aktionskomitee des „Cypberspace“ in Amerika beschrieben worden. Die ganze Arbeit wird per Fax und über einen Mailserver im Internet abgewickelt, der Nachrichten empfängt und verbreitet. Die Zeit der Freiwilligenheere, deren Ohren von den Stunden am Telefon gerötet und deren Zungen vom Zukleben unzähliger Briefumschläge ausgedörrt waren, ist vorbei. Ihre Offensive gegen Foley starten die Hartmans Ende August 1994. Ihre Pressemitteilungen verstopfen die Faxgeräte der lokalen Radiosender: „Erinnern Sie sich, daß der derzeitige Sprecher der Republikaner seine Versprechen nicht einhält? Er stimmte für das Verbot von Angriffswaffen!“ Teilnehmern einer Waffenverkaufsausstellung in Florida bietet man einen Platz im Internet, um überall im Land gegen Foley zu agitieren. Überdies stellt Hartman Software zur Verfügung, die es erlaubt, Wahlplakate am eigenen Drucker in Plakatgröße herzustellen. Noch heute erinnert sich Hartman gern an die Tage dieses siegreichen „Blitzkrieges“: „Wir haben das richtige Instrumentarium benutzt, um die Operation mit wenig Geld durchzuführen.“ Dieser Fall ist aufschlußreich, will man die Möglichkeiten verstehen, die es künftig jedem erlauben, wirksamer denn je und mit geringen Kosten ins politische Geschehen einzugreifen.
Die Beispiele solcher Aktionen mehren sich: Bürgerrechtsorganisationen prangern die Ermordung des brasilianischen Umweltschützers Chico Mendes ebenso an wie die unrechtmäßige und brutale Inhaftierung von russischen Gewerkschaftsanhängern während des Putsches 1992 oder ökologische Katastrophen, die sich irgendwo auf dem Globus ereignen. Tausende Ungerechtigkeiten, die bislang keine Stimme hatten. Verhilft also das Internet zu mehr Demokratie, oder tut es ihr Abbruch?
Sicher ist, daß dieser direkte Draht zum Volk mit perversen Folgen einhergehen kann: Im Megaphon der Infobahnen kann das Geschrei dessen, der sich Gehör verschaffen will, betäubend sein. Und bang möchte einem werden angesichts von Gesetzen, die auf der Welle eines Volksempfindens surfen, das seinerseits unter dem Eindruck übermediatisierter Ereignisse steht.
Abstimmung per Knopfdruck
SO führte eine elektronische Kampagne beispielsweise die Zustimmung zu jener „three strikes you're out“ genannten Verfügung herbei (wonach in bestimmten US-amerikanischen Bundesstaaten jeder, der drei Straftaten begangen hat, zu lebenslänglichem Freiheitsentzug verurteilt werden soll): Als der achtzehnjährige Kimber Reynolds von einem Studienkollegen ermordet wurde, startete Ray Appleton, ein sehr beliebter und mit dem Vater des jungen Mannes befreundeter Talkmaster, eine eindringliche Medienkampagne, um für eine beispielgebende Reaktion auf diese Art von Verbrechen zu werben. Woraufhin die Telefone nicht mehr stillstanden und dem Volk das Herz überlief; eine Flut von Faxen überschwemmte die Verwaltungsangestellten.
Der Kongreß und der Präsident der Vereinigten Staaten faßten schließlich den Rachedurst des Landes in den Buchstaben des Gesetzes. „Keine Volksabstimmung per elektronischem Knopfdruck hätte besser funktionieren können“, bemerkt Robert Wright verärgert3 und warnt vor einer „allzu vernetzten Hyperdemokratie“, indem er an die Lektion der Gründerväter erinnert: „James Edison hat dem Volk die heikle Gewalt der Gesetzgebung entzogen zugunsten einer überlegteren und praktikableren repräsentativen Demokratie; er glaubte, ein für allemal das Gespenst der entfesselten Leidenschaften des Volkes gebannt zu haben.“ Die „Cyberdemokratie“ könnte diesem Phantom am Ende des Jahrtausends zu brutaler elektronischer Wiederkehr verhelfen.
„Eine Welt, die ausschließlich aus eifrigen Machern oder Bürgern besteht, die sich auf Technologie verstehen, ist unannehmbar“, sagt Giovanni Sartori, Politologe an der Columbia-Universität. „Eine virtuelle Demokratie ist eine nichtexistierende Demokratie. Direkte Demokratie dagegen wurde immer als eine Demokratie des Dialogs gedacht: Entscheidungen werden getroffen, indem man miteinander spricht, indem man die Ideen der anderen anhört und seine eigenen erläutert. Wenn diese Vorgehensweise zu einem Druck auf die Fernbedienung verkümmert, erreichen wir keine Demokratie, sondern nur eine Willensbekundung. Die unmittelbare Interaktivität verliert ihren Inhalt und wandelt sich zu einem gefährlichen Multiplikator von Dummheit.“4
Vor mehr als einem Jahrhundert und in einem anderen Zusammenhang mahnte der englische Philosoph John Stuart Mill eindringlich, daß jede Verfassung ein Element des Widerstands gegen die herrschende Ordnung enthalten müsse, die demokratische Verfassung also einen Kern des Widerstands gegen die demokratische Ordnung. Diese Warnung hat er in goldenen Lettern seinen Überlegungen zur repräsentativen Herrschaft vorangestellt. Sie darf auf keinen Fall vergessen werden.
dt. Eveline Passet
1 „The Future of Democracy“, The Economist, 17. Juni 1995.
2 Rick Henderson, „Cyberdemocracy: Grassroots politics in the computer age“, Reason, April 1995.
3 Time, 23. Januar 1996.
4 Panorama, 23. Juli 1994.
* Journalist bei der Zeitschrift Reset, Rom.