10.05.1996

Wer besitzt und wer verkauft die neuen Territorien des Cyberspace

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Wer besitzt und wer verkauft die neuen Territorien des Cyberspace

Von

DAN

SCHILLER *

DIE Propheten des High-Tech- Zeitalters künden von einer noch nie dagewesenen Informationsexplosion. Heute zirkuliert die Information, von digitalen Strömen befördert, mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Netze, quasi körperlos und von den Fesseln der gewöhnlichen Kommunikationsmittel befreit: Sie bewegt sich scheinbar schwerelos im Cyberspace. Zukunftsforscher, Politiker und Führungskräfte in den Unternehmen halten mit überschwenglichen Schlußfolgerungen nicht hinterm Berg. Die Bürger werden vorgewarnt: Sie sollen sich darauf einstellen, in „eine Welt, die in Informationen schwimmt“, einzutauchen, wie es Newt Gingrich, der Sprecher des US-amerikanischen Repräsentantenhauses, formulierte.1 Nach Ansicht von Bill Gates, dem Präsidenten von Microsoft, werden diese Fluten in naher Zukunft zu Vorboten eines „Kapitalismus ohne jegliche Reibungsverluste“, der die beste aller möglichen Welten noch verbessern dürfte.2

Werden Wissen und Kenntnisse in eine ideale Welt eintreten, wird ein einfacher Tastendruck die herrschenden Strukturen unserer Kulturproduktion über Bord werfen? Vorbei die Zeit der Zwänge und Einschränkungen, die so lange den Verlagen, dem Radio, Film und Fernsehen Fesseln angelegt haben? Werden die traditionellen Medien zur Jahrtausendwende durch das neue Wunderwerk der Informationstechnik verdrängt? Oder wird der Cyberspace, anstatt die Pforte zu einem neuen Garten Eden zu öffnen, uns neuen, durchaus materiellen und diesseitigen Zwängen unterwerfen, die die Marktwirtschaft diktiert? Die Cyberwelt entwickelt nämlich ihre eigene politische Ökonomie.

Wie sehen deren Merkmale aus? Das sprunghafte Wachstum des Internet scheint Marshall McLuhans Theorie zu bestätigen: Das globale elektronische Dorf liegt direkt vor uns. Zu Beginn des Jahres 1994 besaß China nur zwei hosts, mit denen es Zugang zum Internet hatte; im Mai 1996 sind es etwa 2500. Im gleichen Zeitraum hat sich diese Zahl in Argentinien von 1 auf 5312 und in Japan von 38267 auf 269327 erhöht. Werden damit bald alle Menschen gleiche und gleichberechtigte Bürger des Cyberspace?

Letztlich sind die elektronischen Netze überwiegend die private Domäne der Eliten und ihres Anhangs, der hauptsächlich aus der Mittelklasse der Länder des Südens besteht, so in Korea, Indien oder Brasilien. Für die Privilegierten ist das Surfen in den Netzen ein Zeichen des Fortschritts. Doch werfen wir einen Blick auf die Zahlen: 1995 waren auf der ganzen Welt etwa 180 Millionen PCs in Gebrauch, bei einer Gesamtbevölkerung von fast sechs Milliarden Menschen. Damit hatten nur 3 Prozent von ihnen überhaupt eine Zugangsmöglichkeit zum Netz. 1995 besaß eine kleine Zahl reicher Länder, vielleicht 15 Prozent der Weltbevölkerung, etwa drei Viertel der wichtigsten Telefonleitungen, die, mittels eines Modems (Modulator- Demodulator), für den Zugriff auf das Internet unerläßlich sind. Dabei hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung unseres Planeten noch nie telefoniert: In 47 Ländern kommt nicht einmal eine Leitung auf einhundert Einwohner. Gemäß der Internationalen Union für Telekommunikation läßt sich jedoch „von der Grundversorgung eines Landes sprechen, wenn für jeden einzelnen das nächste Telefon nicht weiter als fünf Kilometer entfernt ist“3.

Internet – der planetare Markt

IM Januar 1996 gehörten schätzungsweise 60 Prozent der 9,5 Millionen Computer, die an das Internet angeschlossen waren, US-Amerikanern. Die dominierende Sprache des Cyberspace ist damit unbestritten das Englische (vgl. den Artikel von Bernard Cassen, Seite 9). Weltweit benutzen 20 bis 40 Millionen Menschen das Netz, wobei in den Vereinigten Staaten, in Australien und in den skandinavischen Ländern auf tausend Personen zehn bis achtzehn Internet- Anschlüsse kommen. In Kanada und einigen westeuropäischen Ländern sind es zwischen fünf und zehn, während man in Lateinamerika und in Afrika (mit Ausnahme Südafrikas), im Nahen Osten und in Asien (einschließlich der Länder der ehemaligen Sowjetunion) weniger als einen Anschluß auf tausend Personen zählt.

Das Internet ist in vielen Ländern präsent, doch nur 12 der 54 afrikanischen Nationen sind ans Netz angeschlossen. Zwar stehen derzeit 800 Online-Dienste zur Verfügung oder werden unter dem weltweiten Andrang gerade entwickelt, doch findet man südlich der Sahara gerade vier – und davon drei in Südafrika.4 Die sozialen Unterschiede, die das elektronische Zeitalter hervorbringt, könnten leicht ebenso nachhaltige Folgen haben wie die Ungleichheit, die durch die immensen transnationalen Investitionen geschaffen werden.

Selbst in den Vereinigten Staaten, dem auserwählten Land der Netze, variiert der Zugang immer noch außerordentich stark je nach Schichtzugehörigkeit. 1995 besaßen ungefähr 40 Millionen US-amerikanische Haushalte PCs. Eine jüngere Untersuchung auf der Grundlage von 54000 Haushalten ergab, daß nur 4 bis 8 Prozent der Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als 10000 Dollar einen Computer besitzen. In der Gehaltsklasse der US-Amerikaner, die durchschnittlich 34000 Dollar verdienen, sind es nur 20 bis 30 Prozent, die mit dem PC zu tun haben. Erst in den bessergestellten Familien mit einem Jahreseinkommen von mindestens 75000 Dollar ist der alltägliche Umgang mit einem eigenen Gerät verbreitet. Auf diese Gruppe entfallen 60 bis 65 Prozent der Benutzer.5 An diesen Prozentsätzen ändert auch der Einsatz von Computern in der Schule nichts. Natürlich sind nur wenige Haushalte, die einen PC besitzen, an das Internet angeschlossen. Zum Jahresbeginn 1996 hatten nicht mehr als 8 Prozent der amerikanischen Bevölkerung Zugang zum Web.6 Und die wirtschaftlichen Kräfte, die sich der Netze bemächtigt haben, schicken sich an, die schwierigen Bedingungen, die den gewöhnlichen Sterblichen den Zugang verwehren, zur Regel zu machen und noch zu verschärfen.

Wirft man einen Blick zurück auf die Anfänge, so nahm das Internet, das derzeit leistungsfähigste Netz der Welt, eine völlig regelwidrige Entwicklung. Es war zunächst ein quasi öffentliches System, das von staatlichen Mitteln und den Einrichtungen der Universitäten abhing. Paradoxerweise setzte seine Verbreitung zu dem Zeitpunkt ein, da man in den Vereinigten Staaten wie in den anderen reichen Ländern eine Fülle privater Telekommunikations-Dienstleistungen schuf.

Die Vereinigten Staaten haben schon immer ein privates Kommunikationssystem propagiert und sich voll und ganz dafür eingesetzt. Die privatwirtschaftliche Orientierung der Telekommunikation hat sich ohne einen Abstrich auf die weltweite Informationstechnologie übertragen – und inzwischen geht auch die Meinungsbildung in der Staatsspitze in diese Richtung. So hat beispielsweise Vizepräsident Al Gore unaufhörlich darauf hingewiesen, daß „private Investitionen“ an erster Stelle der fünf Werte stehen, die die Entwicklung der „globalen Infrastruktur der Information“7 leiten sollen.

Martin Bangemann, der EU-Kommissar für Telekommunikation, erklärte ebenfalls, daß nur dann eine Informationsgesellschaft entstehen könne, wenn „wir die Kräfte des Marktes walten lassen“, und daß eine „Vorbedingung“ dafür die „Aufhebung“ der derzeitigen nationalen Monopole im Telekommunikationswesen und in der Infrastruktur der Netze sei. Solche Vorstellungen bilden die Grundlage einer Kampagne, die darauf abzielt, Privatisierungen zu beschleunigen. Bereits von 1998 an muß die Europäische Union ihren Telekommunikationssektor dem weltweiten Wettbewerb öffnen. In den armen Ländern, die man nicht mehr „Entwicklungsländer“, sondern bezeichnenderweise „aufstrebende Märkte“ nennt, werden in den nächsten drei Jahren nicht weniger als 26 Telefongesellschaften zum Verkauf angeboten werden. Künftig wird es also globale Norm, daß alle Strukturen, die die Plattform des Cyberspace bilden, in privater Hand liegen.

Noch nie hat man sich so nachdrücklich und so einhellig auf die allumfassenden Mechanismen des Marktes berufen. Damit wird der öffentliche Versorgungsauftrag, der einst für die nationalen Telekommunikationssysteme galt, völlig auf den Kopf gestellt. Mit der um sich greifenden Privatisierung werden die Netze und vor allem das Internet nach und nach von jeglicher Verpflichtung auf eine allgemeine Dienstleistung zugunsten von Privatinteressen befreit.

Was geht derzeit in den Vereinigten Staaten vor sich? Die Unternehmensriesen in der Telekommunikation wie AT&T und MCI bauen fest darauf, den Cyberspace zu kolonisieren, indem sie ihren bekannten Namen und den Erfolg ihrer Marketingteams zusammenwirken lassen. Damit verfügen sie über gewaltige Möglichkeiten sowohl bei den Angebotsleistungen für ihre Kunden als auch bei den Abrechnungsmodalitäten. Doch wäre die Annahme verfehlt, daß gerade die Telekommunikationsindustrie die digitale Welt beherrschen wird. Seit einiger Zeit gelingt es den Privatunternehmen zunehmend, sich bei der Benutzung des Internet über alle Reglementierungen hinwegzusetzen. Die häufigste Anwendung findet das Internet überhaupt schon im kommerziellen Bereich. Im Januar 1996 entfielen auf diesen Bereich mehr als ein Viertel aller angeschlossenen Rechner, weit mehr als auf den Bereich der „Bildung“, der hauptsächlich von den Universitäten genutzt wird.

Doch gut unterrichteten Quellen zufolge gibt es viermal so viele „heimliche Netze“ im Internet wie Netze, die offen angeschlossen sind. Diese Wucherungen führen zu einer Vervielfältigung der „Intranets“ (geschlossene Netze, die alle Computer eines gleichen Interessengebiets wie Unternehmen, Regionen oder Länder miteinander verbinden und zu denen die normalen Internet-Benutzer keinen Zugang haben). Der Löwenanteil davon entfällt auf Privatunternehmen. Die Intranets haben sich der Internet-Technologie bemächtigt, um eine Palette privater Dienste innerhalb der Unternehmen zu entwickeln und sich damit in das Netz der Netze einzuklinken. Sie haben in ihre Software sogar „Feuerschutzwände“ (firewalls) eingebaut, um dem gewöhnlichen „Internauten“ den Zugang zu ihrem Privatgelände zu verwehren.

Man macht sich keine Vorstellung, welche außerordentlich bestimmende Rolle die großen Konzerne im Cyberspace spielen. Die Intranets beanspruchen den größten Teil der astronomisch hohen Investitionen, die die amerikanischen Großunternehmen im Laufe der achtziger Jahre in die Informationstechnologie fließen ließen.8 Diese rapide Entwicklung läßt eine fundamentale Umwälzung im Gravitationszentrum des Cyberspace erahnen. Es wird in der Zukunft wesentlich darauf ankommen, die Grenze zwischen jenen Netzen, die das geschützte Reservat der Unternehmen darstellen, und dem Internet neu zu definieren, das noch bis vor kurzem als ein für den allgemeinen öffentlichen Nutzen bestimmtes Medium galt.

Was wird angesichts dieses überwältigenden Einflusses der großen Unternehmen auf das Universum der elektronischen Kommunikation für jene Online- Dienste übrig bleiben, die beim Aufbau des Internet die Antriebskräfte gebildet haben? Es mag übertrieben klingen, aber: Es bleibt kaum noch etwas. Während man 1995 auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten etwa zwei Dutzend Online-Dienste zählte und einige hundert Internet-Provider, haben sich schließlich zwei von ihnen den größten Marktanteil untereinander aufgeteilt: America Online und CompuServe. Sie haben sich mit Tausenden von Anbietern von Telediensten zusammengeschlossen (bei CompuServe sind es etwa 3000, von United Airlines bis zu den größten Herstellern von Betriebssystemen und Hardware-Produzenten). Denn die Online-Dienst-Gesellschaften sind eigentlich nur Zwischenhändler. Die Hauptgewinne erzielen sie durch ihre hohen Zugangsgebühren; und die Anbieter konkreter Leistungen in ihrem Netz sehen nur einen geringen Anteil der Einkünfte aus den Mitgliederbeiträgen.

1995 zählte man jedoch weitaus mehr Internauten, die sich frei ins Internet einklickten, als Benutzer, die ausschließlich auf die kommerziellen Online-Dienste zurückgriffen. Zudem surften sie mit Hilfe von eigens erstellten Programmen im Net. Das beliebteste von ihnen war Netscape's Navigator. Es soll eigenen Angaben zufolge zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwischen 15 und 20 Millionen Benutzer haben, mit dem Ergebnis, daß Netscape die Online-Dienste von ihrem bisher privilegierten Platz vertrieben hat.

Ein solch beträchtlicher Vorteil hatte negative Folgen für die Strategie des Zwischenhandels, die die kommerziellen Online-Anbieter verfolgten. Viele von ihnen sind daher schlicht verschwunden. Andere haben versucht, sich ein neues Image aufzubauen, indem sie im Universum der Kommunikation zugleich als Anbieter von Zugängen und als Anbieter von Diensten auftraten. Dies bedeutete, daß sie gleichzeitig mit der Verbindung zum Internet Zugang zu ihren eigenen spezialisierten Datenbanken ermöglichten. Da die Internet-Provider den Kunden uneingeschränkten Zugriff auf die Basisdienste für etwa 20 Dollar im Monat anboten, konnten die kommerziellen Anbieter nur auf ein Überleben hoffen, wenn sie dem Kunden zusätzlich Unterstützung bei der Navigation sowie Spezialdienste zur Verfügung stellten. Zu Beginn des Jahres 1996 lagen ihre monatlichen Gebühren zwischen 30 und 85 Dollar für eine Stunde Zugriff pro Tag. Für jene, die viele Stunden vor ihrem Bildschirm verbringen, sind die Kosten weitaus höher.9

Doch es gibt noch zwei weitere Methoden, um größtmöglichen Gewinn aus dem Cyberspace zu ziehen. Denn erstens ist er das bevorzugte Terrain für den Direktverkauf von Informationen. Die Anbieter von Online-Diensten treten regelmäßig in Konkurrenz zueinander, schaffen immer neue Anlässe und Anreize, um die wichtigsten Anbieter von Informationen an sich zu binden – seien es angesehene Medien wie die Wochenzeitung Time oder der Sender NBC oder auch unkonventionell erscheinende Nachrichtenlieferanten wie Banken und Luftfahrtgesellschaften, wenn deren Bekanntheitsgrad in der breiten Öffentlichkeit nur groß genug ist. Zweitens können einige Gesellschaften, die Software herstellen und zugleich Online-Dienste anbieten, größeren strategischen Einfluß gewinnen, wenn sie selbst die Informationsquellen besitzen und kontrollieren. So hat etwa Microsoft-Chef Bill Gates die Vertriebsrechte für ungeheure Mengen an Material erworben. Dazu zählt sein jüngster Kauf, das aus 16 Millionen Abbildungen und Fotos bestehende Bettmann-Archiv.10

Wie kann nun der Direktverkauf von Informationen via Internet rentabel gestaltet werden? Zunächst gilt es, ein mißliches Problem zu lösen: Wie die Zeitschrift Fortune schätzt, waren 1995 weltweit durchschnittlich 49 Prozent der Software und Daten unrechtmäßig erworben worden.11 Die Möglichkeiten kostenlosen Zugangs in Bibliotheken, Schulen und Universitäten haben die in der Öffentlichkeit herrschende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schutz geistigen Eigentums noch verstärkt (vgl. den Artikel von Richard Falk, Seiten 6 und 7).

Der schlimmste Alptraum der Branche ist denn auch, daß einige Internauten die elektronischen Netze geschickt nutzen, um möglichst viele Daten kostenlos zu erhalten. Die Devise der Internet-Piraten „Die Information muß frei sein“ ist nach wie vor sehr populär. Der US-amerikanische Kommissar für Patente und Urheberrechte, Bruce Lehman, übt ebenso wie die Association of American Publishers und andere offene Kritik an denjenigen, die meinen, daß „der Cyberspace eine eigene, unregierbare Welt ist, die den andernorts geltenden kommerziellen Gesetzen nicht unterliegen kann“12. Und die betroffenen Unternehmen, die im Besitz der Urheberrechte sind, verlangen eine strikte Anwendung der unzweideutig formulierten Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums. Ob der Kampf für einen freieren Zugang der Bürger zur elektronischen Welt gewonnen oder verloren wird, hängt sicherlich vom Erfolg ab, der den Vorstößen der Industrie beim Kampf um das Copyright beschieden sein wird. Dabei geht es ihr darum, die Personengruppe, die das geistige Eigentum in der Informationsgesellschaft nutzen darf, auf eine präzise bestimmte Auswahl zu begrenzen.

Ein Paradox der Branche: Die großen Unternehmen fürchten, Nachrichten durch die Netze einfach zu „verschleudern“, doch steht ihre Profitsucht diesen Bedenken in nichts nach. Die „animalische Vitalität“ der kapitalistischen Unternehmer, die in diesem Bereich so deutlich wird, ließ sie ohne Maß und Ziel nach „sensationellen Angeboten“ in der Wirtschaftspresse Ausschau halten. Man sollte sich durch diese großen Worte nicht zu sehr beeindrucken lassen. Denn dahinter kommt schnell ein allzu banales Ziel zum Vorschein: Es geht darum, neue Informationsquellen zu erkennen oder die alten in neuer Verpackung zu präsentieren, um sie elektronisch ausschlachten zu können.

Der wichtigste Zielpunkt dieser kommerziellen Nutzung ist zweifelsohne der Bereich der Bildung. Ein Beispiel mag genügen: Das jüngste Angebot von AT&T, den Zugang zum Internet an den Primar- und Sekundarstufen der Schulen in den Vereinigten Staaten zu fördern, bot diesem Unternehmen die ideale Gelegenheit, „Geschäfte mit den Schulen zu machen und den Eltern die neuen Produkte vorzuführen“13. „Pädagogische Produkte“ sind bereits Gegenstand massiver Marketingkampagnen der Disney-Gruppe und vieler anderer kommerzieller Unternehmen. Die elektronische Anwendung dieses Materials dürfte den großen Markt der Zukunft bilden. Indem sie das Datenangebot an den Gebühren für die jeweilige Nutzung ausrichten, sind diese Unternehmen dabei, die Information in ein Produkt zu verwandeln, das den Gesetzen des Marktes unterliegt.

Es gibt noch eine zweite Seite der kommerziellen Nutzung des Cyberspace: Sie besteht in der alten Verbindung von Marketing und Werbung, jener Speerspitze der Konsumgesellschaft. Ihr Ziel besteht darin, die elektronischen Netze von der Unterstützung durch die Werbung abhängig zu machen. Vor zwei Jahren hat Edwin Artzt, Präsident von Procter & Gamble, dem weltweit wichtigsten Inserenten, die amerikanische Werbebranche mit einer Rede vor der American Association of Advertising Agencies schockiert. Er erklärte, daß seine Firma im Jahresdurchschnitt „400 Millionen Kartons des Waschmittels Tide verkaufen muß (...). Aus diesem Grunde sind wir gezwungen, den Verbraucher im Laufe des Jahres mit verschiedenen Botschaften zu erreichen. In der Werbung sind Frequenz und die Leistungsfähigkeit der Verkaufstechniken von wesentlicher Bedeutung, um die Treue des Käufers zu erhalten, wenn es um Marken wie unsere geht, die häufig gekauft werden. In einem ganz normalen Monat sprechen unsere Marken, seien es Tide, Crest oder Pantène, mehr als 90 Prozent der Zielgruppe sechs oder sieben Mal an. Das einzige Mittel, um diese Wirkung zu erzielen, bieten Fernsehsender mit hohen Einschaltquoten. Aus diesem Grunde geben wir für dieses Medium nahezu 90 Prozent unseres Werbebudgets von insgesamt 3 Milliarden Dollar aus ...“

„Doch besteht in naher Zukunft die äußerst reale Möglichkeit, daß ein großer Teil der Fernsehprogramme nicht mehr von der Werbung gesponsert wird“, fügte Artzt hinzu. Die Verschiebung der Sendezeiten, das Zappen, Videospiele, CD- ROMs, Pay-TV und der Zugang zum Internet „stellen in immer stärkerem Maße ein völlig neues Hindernis dar, wenn wir die Kunden mit unseren Werbebotschaften erreichen und sie vor allem mit jener Häufigkeit und Regelmäßigkeit ansprechen wollen, die notwendig sind, um Markentreue zu schaffen“.

Bei seinem Versuch, eine strategische Antwort zu finden, kam Artzt zu einer Langzeitbeobachtung der Situation: „Der erste Werbeträger war das gedruckte Wort. Mit der Erfindung des Radios mußten wir zusätzlich zum Raum auch die Zeit kaufen, man mußte mittels Worten und Musik verkaufen, ohne Bilder, und wir, das heißt, die Werbebranche, haben uns der Kontrolle über unser Umfeld bemächtigt. Anschließend haben wir die Programmgestaltung erfunden. Wir haben ein Umfeld geschaffen, das unseren Bedürfnissen entsprach. Man konnte sich nicht mehr nur an Zeitungen und Zeitschriften wenden, die die Leute kaufen, um sie täglich zu lesen. Das neue Ziel bestand darin, die Treue des Hörers zu den Programmen zu schaffen, die wir finanzierten. So haben wir Feuilletons, Komödien, Unterhaltungssendungen und Krimiserien entworfen. Es ist uns gelungen, den Sonntagabend vor dem Radio zu einer Familieneinrichtung zu machen.“

Dies war in der Tat die große Zeit der Werbeleute: Sie haben die neuen Technologien mit dem Lasso eingefangen, um aus ihnen ihr großartigstes Verkaufsinstrument zu machen. Dasselbe haben sie nun mit dem Internet vor.

„Unsere Aufgabe ist es, uns erneut der elektronischen Netze zu bemächtigen und das Internet dazu zu zwingen, in unserem Sinne zu arbeiten“, erklärte Edwin Artzt. „Das wird nicht so leicht sein wie mit dem Radio und dem Fernsehen, wo die Inserenten ideale Bedingungen hatten. Heute müssen wir uns mit der Konkurrenz auseinandersetzen. Diese besteht nicht nur aus den traditionellen Medien, die von der Werbung finanziert werden, sondern auch aus unabhängigen Programmen – Veranstaltungen, Hobbys, Informationen –, die für die Anbieter von Telediensten eine völlig andere Gewinnquelle darstellen werden. Dies ist eine reale Gefahr. Denn diese neuen Anbieter wollen den Verbrauchern zur Verfügung stellen, was diese wünschen, zu einem Preis, den sie zu zahlen bereit sind. Wenn damit die Gebühren für die Dienste an die Stelle von Werbeeinnahmen treten, dann haben wir da ein großes Problem. Aber ich glaube nicht, daß es so weit kommen wird. Wenn sich die Branche so weiterentwickelt wie in der Vergangenheit, dann werden sich hervorragende Gelegenheiten ergeben, Gewinne zu erzielen. Denken Sie nur an all die neu entstandenen günstigen Bedingungen. Wir können die Interaktivität nutzen, um den Kunden an unserer Werbung zu beteiligen. Wir können umgehend Reaktionen hervorrufen. Wenn eine Kundin wissen möchte, welcher Nagellack der Marke Cover Girl zu dem Lippenstift paßt, den sie in unserer Anzeige gesehen hat, werden wir ihr sofort antworten. Wir können nicht nur demographische Gruppen, sondern auch einzelne Haushalte direkt ansprechen. Wenn in einer Familie ein Baby geboren wurde, zeigen wir ihr eine Werbung, die die Vorzüge von Pampers anpreist. Wir können Spiele, Info-Werbung und Video-Einkaufszentren nutzen. Wir werden eine Menge Werkzeuge besitzen, um die Aufmerksamkeit des Kunden zu wecken und ihn zu informieren. Wenn wir gute Arbeit leisten, werden die Leute bei der Werbung vor ihrem Computer wie festgenagelt auf den Stühlen sitzen.“

Edwin Artzt hat auf einen Umstand besonders nachdrücklich hingewiesen: Die Anwendung der Kommunikationstechnologie allein zu den Zwecken, die eine kapitalistische Wirtschaft zuläßt, verlangt, daß man „in die inhaltliche Gestaltung investiert, um den Zugang der Inserenten zum Massenpublikum und zu den vielversprechendsten Märkten sicherzustellen.“14

In dieser Perspektive macht das explosionsartige Wachstum der Werbung im Internet bei Online-Anbietern wie CompuServe Sinn. Den Unternehmensriesen wie IBM, Ford und AT&T haben einige Monate genügt, um die Nutzung der elektronischen Netze zu testen. Die unvermeidliche Konsequenz daraus ist, daß das Internet nicht länger hauptsächlich ein Instrument der wissenschaftlichen Forschung ist, sondern sich in eine planetarische Werbefläche für das kapitalistische Unternehmertum verwandelt.

Diese Nutzung des Cyberspace zu Werbezwecken hat umgehend „die begabtesten Techniker, die ehrgeizigsten Unternehmer, das ausgefeilteste Marketing und die bestinformierten Direktoren“ auf den Plan gerufen. Es folgten die notwendigen Infrastrukturen. Visa und MasterCard haben rasch sichere Online-Abrechnungsmodalitäten entwickelt, damit finanzielle Operationen über Kreditkarten möglich wurden. Das Internet öffnet sich den großen Werbeagenturen, die gerne bereit sind, den Unternehmen, die bei ihnen Kunde sind, bei der Konzeption ihrer Kampagnen und Strategien zu helfen. Die Einführung der Werbetechniken eines Massenmarktes ließ mindestens ein Dutzend Gesellschaften entstehen, unter ihnen Nielsen Media Research – der Erfinder der Einschaltquote –, deren Aufgabe darin besteht, die Benutzergruppe des Internet zu erfassen und den fünfhundert größten Firmen der Welt, wie sie die Zeitschrift Fortune aufführt, alle Arten von Daten zu verkaufen. Gesellschaften wie Netscape und Microsoft haben begonnen, ihre Software praktisch kostenlos zu verteilen. Die Absicht: wettbewerbsfähig zu sein, indem sie häufig frequentierte Werbeflächen schaffen.

Die Vision, daß die Inserenten das Internet völlig beherrschen könnten, wird von manchen, selbst von Leuten aus der Branche, nicht ernst genommen. Es ist richtig, daß nur eine gewisse Anzahl von Diensten Gewinn aus der Werbung erzielt. Doch ist nicht zu übersehen, daß das Internet bereits bis ins Mark vom Sponsorsystem durchdrungen ist. Der Preis für diese Invasion der Mittelmäßigkeit wird sehr hoch sein.

Was bewirkt die Werbung? Sie ergreift den gesellschaftlichen Inhalt der Medien, die von ihr abhängen, und lenkt sie in eine neue Richtung. In dieser Hinsicht sollte die traurige Geschichte der US-amerikanischen Presse, die gänzlich auf die Tabakindustrie angewiesen ist, als Warnung dienen. 1992 hat die Universität Michigan eine Untersuchung unter 99 Zeitschriften durchgeführt, die zeigte, daß vierzig Prozent der Titel, und zwar diejenigen, die keine Werbung für Zigarettenmarken enthielten, durchaus bereit waren, Artikel über den Tabakmißbrauch zu veröffentlichen. Besonders die Frauenzeitschriften, die nicht von Anzeigen der Tabakindustrie abhingen, fühlten sich völlig frei, Artikel zu diesem Thema zu publizieren.

Die Macht der Werberiesen ist so groß und die Unterwürfigkeit der Fernsehsender so stark ausgeprägt, daß die New York Times auf „einen Akt außerordentlicher Bußfertigkeit“ hinweisen konnte: Der Nachrichtensender ABC sah sich gezwungen, sich öffentlich bei Philip Morris und R. J. Reynolds zu entschuldigen. Er hatte sich erlaubt, darauf hinzuweisen, daß die „Großunternehmen der Tabakindustrie ihren Zigaretten Nikotin zusetzten“. Das grundlegende Problem besteht darin, daß die Sender ohne Zögern jede Sendung absetzen, die die Inserenten beleidigen könnte oder die nicht den Erfordernissen der Einschaltquoten entspricht.

Gewiß, der Traum, den das Internet verkörpert, nämlich der universelle uneingeschränkte Austausch von Informationen, ist nicht tot. Doch solange sich die Übertragung von Wissen den Normen der politischen und wirtschaftlichen Macht unterwirft, wird das Ideal einer „Demokratie der Information“ im Stadium der Utopie steckenbleiben. Alle, die an die Informationsfreiheit glauben, müssen dafür kämpfen, daß die demokratische Eroberung des Cyberspace Wirklichkeit werden kann.

dt. Erika Mursa

Dossier Internet

Wie die Kräfte des Marktes versuchen, den Cyberspace und das Internet unter ihre Kontrolle zu bringen. – Von den Gefahren der Technologie als Utopie. – Wird das Internet die Funktion der Staaten übernehmen? Von der realen Macht des Immateriellen. – Wie sich das Nord-Süd-Gefälle in der Anwendung der neuen Kommunikationstechnologien widerspiegelt. – Plebiszitäre Cyberdemokratie dank Volksbefragung über Internet: globalisiertes Mobbing oder Fortschritt der Demokratie? – Der (nicht unausweichliche) Kulturimperialismus des „Englisch sprechenden“ Internet.

1 Newt Gingrich, „To Renew America“, New York (Harper Collins) 1995.

2 Bill Gates, „The Road Ahead“, New York (Viking) 1995.

3 Catherine Arnst, „The Last Frontier“, Business Week, 18. September 1995.

4 Steve Outing, „Planetary News“, überarbeitet am 19. Januar 1996.

5 Handelsministerium der Vereinigten Staaten, National Telecommunications and Information Administration, „Falling through the Net: A Survey of the ,Have nots‘ in Rural and Urban America“, Juli 1995.

6 Büro des Vizepräsidenten, „Remarks as Delivered by Vice President Gore to the Networked Economy Conference“, 12. September 1995.

7 Howard Gleckman, „The Technology Pay-Off“, Business Week, 14. Juni 1993.

8 Gus Venditto, „Online Services“, Internet World, Band VII, Nr. 3, März 1996.

9 Steve Lohr, „Huge Photo Archive Bought by Software Billionaire Gates“, New York Times, 11. Oktober 1995.

10 Hon. Bruce Lehman, „Copyright, Fair Use and the National Information Infrastructure“, George Mason University, 23. Februar 1996.

11 „AT&T School Offer: Free Internet Access“, New York Times, 1. November 1995.

12 Edwin L. Artzt, „The Future of Advertising“, Vital Speeches of the Day, LX (22), 1. September 1994.

13 John W. Verity, „Planet Internet“, Business Week, 3. April 1995.

14 Michael Schudson, „A Lot More Apologies Are in Order“, Los Angeles Times, 30. August 1995; Mark Landler, „ABC News Settles Suits on Tobacco“, New York Times, 22. August 1995.

* Professor am Fachbereich Kommunikation der Universität von Kalifornien in San Diego (USA).

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Dan Schiller