14.06.1996

Surfen durch den schönen Schein

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Surfen durch den schönen Schein

Von

MAX

DORRA *

RAUM und Zeit sind nicht die apriorischen Formen der Wahrnehmung. Unsere Anschauung, ohnehin von den eigenen Phantasmen durchsetzt, wird zusätzlich in großem Umfang durch Ideologeme einer Gruppe konditioniert. Diese vermeintlichen Gewißheiten schieben sich auf unmerkliche Weise zwischen unseren Blick und die Welt.

Schon immer standen wir, ohne es zu wissen, „unter Einfluß“, aber seit einigen Jahrzehnten ist diese Situation durch ein bemerkenswertes Ereignis an einen kritischen Punkt gelangt: durch den Siegeszug des Fernsehens und die drei bis vier Stunden, die wir ihm im Schnitt täglich widmen (sonderbarerweise oft, ohne es zuzugeben: „Ich habe einen Fernseher, aber ich mach' ihn nie an“). Wer will heute seine Hand dafür ins Feuer legen, daß wir nicht – wie dies bei anderen dramatischen Ereignissen (verseuchte Blutkonserven, „Rinderwahnsinn“) bereits der Fall ist – den politisch Verantwortlichen und all jenen, die als Intellektuelle, Journalisten, Experten die Möglichkeit haben, sich öffentlich zu äußern, in fünf bis zehn Jahren bittere Vorwürfe machen? Warum habt ihr nicht, werden wir sie dann fragen, mit Nachdruck all die Negativwirkungen angeprangert, die der Fernsehkonsum möglicherweise bei mehreren Generationen hinterlassen wird? Neunzig Prozent der Programme bestehen aus lauter Blödsinn. Wer aber kann uns heute garantieren, daß die Aufnahme einer hohen Dosis Blödsinns nicht mittel- oder langfristig irreversible Folgeschäden für das Bewußtsein haben wird?1

Ein Biologe warf 1993 in einer englischen Fachzeitschrift sogar die Frage auf, ob die Gewohnheit, tagtäglich längere Zeit passiv vor dem Fernseher zu verbringen, nicht gewisse, den empfindlichen Mechanismus des Gedächtnisses betreffende Gehirnstrukturen schädigen und der Ausbildung einer Demenz vom Typ Alzheimer Vorschub leisten könnte.2

Es reicht nicht aus, von der „Negativwirkung der Einschaltquoten“, der „Diktatur des Marktes“ oder der „Verantwortlichkeit der Programmdirektoren“ zu reden: Zu erklären bleibt die Faszination, die vom Bildschirm ausgeht. Welcher Sehnsucht, welchem Leiden kommt diese visuelle Droge entgegen?

Gemeinsam ist den Fernsehserien und Unterhaltungssendungen, daß sie dem Zuschauer den Eindruck vermitteln, einer imaginären Gruppe, häufig einer Familie, anzugehören, aus der ihn niemand ausschließen kann und die ihm stets Identifikationspunkte liefern wird. Im Gefängnis oder im Krankenhaus leidet, phantasiert, stirbt man mittlerweile vor dem Fernsehen, dieser vergifteten Prothese für jede Art von Einsamkeit.

Unmöglich läßt sich die tückische Wirksamkeit von Gemeinplätzen verstehen – ob sie nun in einem Wörterbuch zusammengetragen, von einem Moderator nachgebetet oder in einer Seifenoper in Szene gesetzt werden –, wenn man nicht begreift, daß Gemeinplätze einem einen enormen Genuß verschaffen können: den Genuß nämlich, in der Masse aufzugehen. Den mimetischen Genuß einer „Gruppenillusion“.

Wer hat nicht schon einmal überrascht – und im nachhinein etwas verärgert – feststellen müssen, daß er, ohne es zu wollen, jemanden anders, eine reale oder fiktive Person, nachgeahmt hat? Ein Kleidungsstück, eine Geste, eine Redewendung oder eine besondere Betonung – irgendeine mimetische Geste, ein „Mimetikum“, ermöglicht es einem, sich mit dem bewunderten Menschen zu identifizieren; in dem Glauben, seinen Stil zu treffen, eignet man sich auch seinen ganzen Habitus an und erhofft sich über diesen Bürgen einen Zugang zu dessen realexistierender oder imaginärer Gruppe. Das Mimetikum ist das Werkzeug einer illusionären Veranstaltung, die den Unterschied zum Verschwinden bringt, die Vereinzelung kaschiert. Obwohl es gar nicht den Anschein hat, sagt der Betreffende „wir“. Darin besteht die Falle.

Das Mimetikum ist ein hochgradig ansteckendes Teilchen (eine Art „ideologisches Prion“3) und unter seiner unscheinbaren Oberfläche ein Katalysator von geradezu magischer Effizienz. Wer sich darauf einläßt, gelangt zum Glauben. Und dann: Hütet euch vor Andersgläubigen! Unsichtbar und doch ganz nah lauert die Gewalt, was Verblendung und die Illusion der Verschmelzung nicht erkennen lassen. Ganz zu schweigen von der niedrigen Leidenschaft des Gehorchens.4 Anfangs präsentierte man den Hitlergruß als eine unschuldige Art, sich in einer Gemeinschaft von jungen Gleichgesinnten zu erkennen und zu begrüßen. Und sicher hat man damals all jenen Kassandra- Rufern, die spielverderberisch eine Allergie gegen dieses Mimetikum zur Schau trugen, geantwortet: „Ihr seid doch verrückt, habt euch doch nicht so!“ Mumifizierte, zu Erkennungszeichen gewordene Äußerungen, Parolen von furchteinflößendem Charakter – liegt darin nicht auch das Geheimnis der „Propagandasprache“, der Schlüssel zu der sich einschleichenden Gewalt: minimale Bedeutung bei maximaler Kodefunktion?

Unter diesem Blickwinkel ist das Fernsehen ein gefährlicher Resonanzkörper für jede Art von „Mimetikum“. „Wir sind gut drauf. Alle, gemeinsam. Und ganz verbunden. Ohne Vergangenheit, ohne Zukunft: der Zauber des Augenblicks. Die Unsterblichkeit. Wir. Eine tolle Truppe. Die beste. Was für ein Glück, daß wir uns gefunden haben. Wir bleiben zusammen. Immer herzlich und wohlgemut. Ein Taumel des Glücks. Die anderen? Ach was ..., armselige Geschöpfe ...“

Wo „Ich“ war, soll „Wir“ werden

DIE „Gruppenillusion“ ist ein Begriff des Psychoanalytikers Didier Anzieu.5 Das damit bezeichnete Phänomen ist schwer zu fassen, zum einen wegen der strikten universitären Fächerabgrenzung (Soziologie, Psychologie ...), zum anderen, weil es kaum Spuren hinterläßt. Nicht einmal im Gedächtnis. Wie alles, was sich in Gruppen – und Träumen – abspielt, verfällt die „Gruppenillusion“ häufig einer Amnesie.

Dieser entscheidende Zusammenhang – zwischen den Ideologien auf der einen und den individuellen Phantasmen auf der anderen Seite – ist jedoch ein unverzichtbarer Schlüssel, will man auf die Ursachen von Gewalt reflektieren. Individuen, die in ihrer Identität verunsichert sind, neigen – insbesondere wenn sie mit einem plötzlich auftauchenden, völlig neuen Ereignis konfrontiert werden – kaum dazu, zu improvisieren; lieber flüchten sie sich in die Vergangenheit, klammern sich an ihre Gruppe. In der provisorischen Sicherheit ihrer dortigen Rolle stoßen sie auf ein „Ich“-Fragment innerhalb eines mythischen „Wir“. Eine Prothese: die Palliativ-Therapie ihrer Ängste.

Das erklärt die Abhängigkeit, die diese harte Droge – die „Gruppenillusion“ – bei denen hervorruft, die auf dem „Trip“ sind. Und warum sie mit aller Macht an den Meinungen und Überzeugungen der Gruppe festhalten; vor allem auch an dem ungleich heimtückischeren Gift der Botschaften, die von den big brothers der großen Sender-Familie verbreitet werden.

Mythische Bruderschaften

GEFÄHRLICH ist insbesondere die bewußtseinstrübende Wirkung, die von dieser „Gruppenillusion“ ausgeht. Die konservativen Machthaber und die großen Medien bedienen sich ihrer mit manipulatorischem Geschick, um eine Verkennung unliebsamer Wahrheiten aufrechtzuerhalten. Um insbesondere die Realität der Ausbeutung zu leugnen, die sich ständig reproduziert, desgleichen die beträchtliche Ungleichheit der Ausgangschancen in unseren Gesellschaften.6 Gruppen von tatsächlich ganz unterschiedlicher Zusammensetzung – wie die Franzosen („sie würden nicht verstehen, daß ...“) oder die jungen Leute („man muß ihnen zuhören ...“) – werden der Reihe nach eingemeindet. „Junge“ oder „Alte“ als homogene Gruppen anzusprechen, maskiert jedoch gerade die tatsächlichen Diskrepanzen – wirft etwa Arme und Reiche in einen Topf. Auf diese Weise stillt das Fernsehen bei jedem, in den eigenen vier Wänden, ein gleichermaßen großes wie uneingestandenes Bedürfnis – das Bedürfnis, vom Wissen verschont zu bleiben. Fühlt man sich nicht an den französischen Premierminister Alain Juppé erinnert, der die schweren sozialen Konflikte vom Dezember 1995 als bloßen „Familienstreit“ hinstellte?7

Im „Wir“ kann sogar ein tödliches Potential liegen, weil es seinem Wesen nach einer Logik entspricht, in der der Widerspruch ausgeschlossen und jede Differenz unbarmherzig eliminiert wird. Gruppenphänomene, die quer durch alle sozialen Klassen gehen und die Kämpfe zwischen ihnen verschleiern, besitzen in gewissem Maße eine erschreckende Eigendynamik. Dies deutet auf ein fehlendes Moment in den Analysen von Hannah Arendt: Der staubfeine Totalitarismus der Gruppen bildet den unsichtbaren Zement totalitärer Staaten. Man denke nur an das Umschlagen der Revolutionen in Osteuropa, China und Kambodscha in blutige Gewalt. An die Stelle des kruden „Haben oder nicht haben“ (Geld) trat jedes Mal das terrorisierende „Dazugehören oder nicht dazugehören“ (zur Partei, zur herrschenden Gruppe). Es scheint, daß in der „Gruppenillusion“ jedes Mal etwas Wesentliches – etwas wie Sinn oder Wirklichkeit? – außer acht gelassen wurde, selbst von denen, die einmal angetreten waren, „das Leben zu ändern, um die Menschen zu befreien“.

Man denke übrigens nur an den Ausdruck „ethnische Säuberung“: Schon ein solches Wort reicht aus, um im gerade beendeten Balkankrieg die (von den lokalen Medien noch verstärkte) Virulenz eines „Gruppenwahns“ anzunehmen, der Menschen betrifft, die noch vor kurzem Nachbarn waren.8

Seit Globalisierung9, Internet10 und die technologischen Neuerungen auf dem Gebiet der Kommunikation die Welt in ein „globales Dorf“ verwandeln, in dem die Freiheit (des Marktes) herrscht, sind die Machenschaften der „Gruppenillusion“ mehr denn je an der Tagesordnung. Unter diesem Gesichtspunkt werden sich die fortschrittlichen Parteien in Zukunft an zwei Fronten herumzuschlagen haben. Sie müssen dem Kreuzfeuer ihrer Gegner die Stirn bieten und gleichzeitig die Falle umgehen, ein Gefühl herzlicher Solidarität zu proklamieren – eine prekäre Brüderlichkeit, in der stets der Verrat lauert, der unweigerlich innerhalb bedrohter Gruppen entsteht. Man sollte immer das klassische Experiment von Professor Salomon Asch vor Augen haben. Innerhalb einer Gruppe testete er ohne deren Wissen einzelne Personen, von denen 36,8 Prozent nicht den Mut hatten, mit der Gruppenmeinung zu disharmonieren; sie gingen soweit, das Urteil ihrer eigenen Wahrnehmung zu leugnen, um sich nicht als „Abweichler“ zu fühlen: Wider alle Gewißheit bestätigten sie die Gleichheit zweier offensichtlich ungleicher Kreisabschnitte, indem sie sich einbildeten, sie wären Opfer einer „optischen Täuschung“.11

Eine politische Gruppe, die nicht bereit ist, ihre eigenen Funktionsweisen zu reflektieren, riskiert, den Kontakt zur Realität zu verlieren, in eine Phase der Verdächtigungen einzutreten und schließlich – manipuliert von sogenannten Meinungsführern, besessen von deren „Medienwirksamkeit“, von „Imageberatern“ um den Verstand gebracht – völlig unangemessene Entscheidungen zu treffen.

Jenseits von Bildern und Mythen ist das tatsächliche Vorhaben einer politischen Gruppe vollständig und bis in alle Einzelheiten an dem Funktionieren dieser Gruppe selbst abzulesen – und an ihrer Fähigkeit, es mit dem herrschenden Diskurs der Medien aufzunehmen. Indem sie ihn demaskiert.

dt. Christian Hansen

1 Vgl. „Médias et contrôle des esprits“, Manières de voir, Nr. 27, September 1995.

2 Aronson, „Does excessive television viewing contribute to the development of dementia?“, Medical Hypotheses, Nr. 41 (5), November 1993.

3 Von engl. protein infections particle. Diese Partikel wurden erstmals aus mit der Traberkrankheit, einer Viruserkrankung von Schafen, infiziertem Gewebe isoliert und sind möglicherweise für Viruserkrankungen des Gehirns wie Creutzfeldt-Jacob verantwortlich. (Anm. d. Übers.)

4 Vgl. Max Dorra, „Transerelles et mimétons“, in: „Le Masque et le rêve“, Paris (Flammarion) 1994.

5 Didier Anzieu, „L'illusion groupale: un Moi idéal commun“, in „Le Groupe et l'Inconscient. L'Imaginaire groupale“, Paris (Bordas) 1984, S. 67.

6 Eine Weigerung, wie sie die Abschaffung des Centre d'étude des revenus et des coûts (CERC) unter der Regierung Balladur bestens illustriert. Vgl. Laurent Mauduit, „Le thermomètre cassé des inégalités“, Le Monde, 9. Januar 1996.

7 Die Äußerung fiel im Verlauf der Sendung „7 sur 7“ auf TF 1 am 17. Dezember 1995.

8 Bozidar Jaksic, „Balkan: Die nationalen Eliten sind gescheitert“, Le Monde diplomatique, Juli 1995.

9 Vgl. Armand Mattelart, „Prêt-à-porter idéologique“, Manière de voir, op. cit.

10 Vgl. das Dossier zum Internet in der Mai-Nummer von Le Monde diplomatique.

11 Der „Abweichler“ weiß freilich nicht, daß die anderen Gruppenmitglieder in Wirklichkeit eingeweiht sind und die Aufgabe haben, in bestimmten Momenten einstimmig falsche Antworten zu geben. Zit. nach Paul Watzlawick, „Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täuschung – Verstehen“, 19. Aufl., München (Piper) 1994.

* Professor für Medizin an der Universität Paris V. Zuletzt erschienene Werke: „Le Masque et le rêve. Histoire de l'inimaginable“, Paris (Flammarion) 1994; „Nuits blanches avec reflets fauves“ (Roman), Paris (Flammarion) 1996.

Le Monde diplomatique vom 14.06.1996, von Max Dorra