14.06.1996

Hinterhof des Wirtschaftswunders

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Hinterhof des Wirtschaftswunders

Von

ANTOINE

KERVEN *

Im Zentrum der großen nordchinesischen Ebenen, dort, wo an die 100 Millionen Menschen leben, liegt Shenjang, die Hauptstadt der Provinz Liaoning. Diese Stadt mit mehr als 6 Millionen Einwohnern, 600 Kilometer nordöstlich von Peking, erlebt eine schwierige Zeit, so wie der gesamte Nordosten des Landes. Als altes Zentrum der Schwerindustrie war sie lange Zeit eine der reichsten Städte in China. 1949, als die Kommunisten an die Macht kamen, besaßen Shenjang und der ganze Norden eine Infrastruktur und eine Industriedichte, wie es sie sonst wohl nirgends gab. Die Region profitierte vom Erbe der russischen, vor allem aber der japanischen Kolonisation (1931-1945). So konnte sie durch Steuern und durch die Gewinne der Staatsbetriebe lange Zeit die wirtschaftliche Entwicklung anderer Gegenden finanzieren, und die Zentralmacht nutzte die Vorteile dieser frühen Industrialisierung, ohne sich groß um die notwendige Modernisierung der Anlagen zu kümmern.

Nun hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Die Nordostprovinzen bräuchten dringend die Hilfe des Staates, um die Industriekolosse einer früheren Epoche zu modernisieren und anzupassen; doch es fehlen die Mittel. Die prosperierenden Südprovinzen fühlen sich durch ihre neue Autonomie gestärkt und lassen sich nur ungern zur Kasse bitten. Da der chinesische Staat in einer Finanzkrise steckt, muß die alte Schwerindustriemetropole ihren Übergang zur Marktwirtschaft weitgehend aus eigener Kraft bewerkstelligen. In der Region konnte zwar die Hafenstadt Dalian und deren Umland dank ihrer günstigen geographischen Lage und größerer japanischer Investitionen ihre Schäfchen ins trockene bringen, aber für den Rest von Liaoning oder für die Provinz Heilongjiang gilt dergleichen nicht.

Wer nach Shenjang kommt, staunt über die üppigen Märkte. Aber man braucht einige Zeit, bis man versteht, wie diese organisiert sind. Tagsüber stellen sich entlang der großen Verkehrsadern der Stadt die Gebrauchtwarenhändler ein, um Alteisen und gebrauchte Gegenstände zu verkaufen. Am Abend überlassen sie ihren Platz anderen Kleinhändlern, die Dinge des täglichen Bedarfs zu Spottpreisen anbieten. Es gibt aber auch große, besser organisierte und kontrollierte Märkte, ganz wie im übrigen China.

Die Anbieter auf diesen improvisierten Märkten sind nicht etwa Leute vom Land (waidiren), die Arbeit in der Stadt suchen, sondern es handelt sich um „freigestellte Arbeiter“1, die sich als Händler versuchen müssen, um zu überleben. Offiziell sind sie noch bei den Staatsfirmen beschäftigt, und die meisten haben sich keineswegs freiwillig ins Meer der Marktwirtschaft (xia hai, wie man in China sagt) gestürzt, sondern wurden hineingestoßen. Diese Schiffbrüchigen haben keine andere Wahl, als alles, was sie zu fassen kriegen, zu Geld zu machen; und daraus entsteht dann diese schier unglaubliche Krempelwirtschaft. Einige bieten Bücher, Kleidung oder Geschirr an, alles, was sich im Laufe eines Lebens bei ihnen angesammelt hat. Andere lassen aus ihrer Fabrik alles mitgehen, was einen Marktwert haben könnte, und verkaufen es auf der Straße. Werkzeuge, Schrauben, Muttern, Behälter, Schläuche, Heizkörper und Lampen aus pleiteverdächtigen Firmen liegen nun auf der Straße, um die Gehälter der Mitarbeiter zu finanzieren. Abends sind dann andere „Freigestellte“ an der Reihe, die alles an Ware verkaufen, was sie auftreiben konnten.

Schiffbrüchige der Marktwirtschaft

WEIL zahlreiche Unternehmen einen Teil oder auch die gesamte Belegschaft freistellen, haben viele die Möglichkeit, ihre Zeit auf diese Art zu verbringen. Auf Grund von Liquiditätsproblemen haben etliche Firmen sogar die Montagebänder angehalten, um die Produktionskosten zu senken. Man schätzt, das 80 Prozent der Staatsunternehmen von Shenjang Verluste machen und auf eine politische Entscheidung über ihre Zukunft warten. Offiziell werden die Löhne zu 70 oder 80 Prozent mit Hilfe von Bankkrediten weitergezahlt. Da aber die Auszahlung nicht selten monatelang auf sich warten läßt, können jene, die einst zur „Avantgarde des Sozialismus“ gehörten, nur überleben, wenn sie zur Selbsthilfe greifen. „Wenn ich fürs Essen auf meinen Lohn angewiesen wäre, hätte ich nicht oft was zu beißen!“ sagt ein freigestellter Arbeiter aus einem Rüstungsbetrieb. Und er fügt hinzu: „Um meine Familie zu ernähren, muß ich auf den Märkten handeln und meine Wohnung vermieten. Jetzt wohnen wir zu fünft in der kleinen Zweizimmerwohnung meiner Eltern.“2

Wenn man mit diesen Leuten diskutiert, staunt man über ihre freimütige Art. In den Augen eines Arbeiters aus einem pharmazeutischen Betrieb sind die Schuldigen klar auszumachen: „Für die ist das nicht schlimm, die haben genug Geld auf die Seite gebracht. Uns sagen die Chefs, sie hätten kein Geld mehr, um unsere Löhne auszuzahlen, aber für den Kauf all ihrer Autos war genug da. Es wurden so viele, daß selbst der Bus, der die Arbeiter zur Fabrik brachte, keinen Parkplatz mehr fand. Sie haben die Firma ausgeplündert, und für uns bleibt nichts übrig.“ Ein ehemaliger Stahlarbeiter versichert: „Der Sohn von meinem Chef hat in Schenzhen3 eine Firma gegründet. Da braucht man nicht zu fragen, woher das Geld kommt. Die Arbeiter sind es, die für die Nachteile von Sozialismus wie Kapitalismus büßen müssen.“

Unter solchen Bedingungen müssen sich die sozialen Spannungen verschärfen. Vor dem Sitz der Stadtverwaltung finden häufig Kundgebungen von Arbeitern statt, um die Löhne einzufordern. Bei dem Versuch, diesen Volkszorn einzudämmen, setzen die Machthaber auf das Nächstliegende: Seit Juni 1995 sind Luxusautos und teure Galadiners verboten. Aber man versucht es auch mit Einschüchterung: Die Verantwortlichen haben beschlossen, Demonstrationen außerhalb der Fabriken zu verbieten, und die Polizei hat Anweisung, auf jeden zu schießen, der gegen das Verbot verstößt. Trotz Strafandrohungen wird das Verbot allerdings bis heute mißachtet ...

In der Direktion einer ebenfalls in Schwierigkeiten geratenen Werkzeugmaschinenfabrik fällt die Analyse der Krise sehr differenziert aus. Zwar werden bestimmte Mißbräuche nicht geleugnet, aber man betont vor allem die Belastungen, welche auf den Staatsbetrieben liegen, sowie die Tatsache, daß es keine Kredite gibt, die eine Umgestaltung erlauben würden. „Unsere Produkte will niemand mehr haben, und die Banken verweigern uns die notwendigen Kredite für eine Umstrukturierung. Wir leiden unter einer Finanzkrise, von der ganz China betroffen ist und die uns in eine Sackgasse führt. Der Norden ist davon besonders betroffen, weil sich hier die Staatsfirmen konzentrieren“, bestätigt ein leitender Angestellter. In einer Filiale der Bank von China klingt das wieder anders. Ein Verantwortlicher weist auf die Höhe der bereits zugestandenen Kredite hin: „Die Unternehmen leben schon viel zu lange auf Kredit und kümmern sich nicht um Rentabilität. Wir haben kein Geld mehr für noch höhere Ausgaben. Die Unternehmen haben sich nie Gedanken darüber gemacht, wie sie die Kredite zurückzahlen können. Es geht darum, die Inflation zu bekämpfen, und die Bank von China kann schließlich nicht einfach die Notenpresse laufen lassen.“

An der Akademie für Sozialwissenschaften, wo etwa hundert Wissenschaftler arbeiten, denkt man intensiv über die Reform der Staatsfirmen nach. Leidenschaftslos stellt der Wirtschaftswissenschaftler Jiao Yongde fest: „Man hat zu lange versucht, sich die Stabilität der Unternehmen zu erkaufen. Man nahm Kredite auf für die Auszahlung der Löhne, aber auch zur Finanzierung der Geburtenkontrolle, der Kinderkrippen, Wohnungen, Krankenversicherungen oder zur Deckung der Kosten von Geburten, Pensionen oder Krankheiten. Wenn die Firmen wettbewerbsfähig werden sollen, müßte ein Teil dieser sozialen Kosten von der gesamten Gesellschaft getragen werden; sie müßten aber auch lernen, ihre Verwaltung zu reformieren.“

In der Tat hat sich in vierzig Jahren niemand darum gekümmert, die Unternehmen durch Modernisierung leistungsfähiger zu machen. Das Industriepotential wurde geschwächt, während die sozialen Ausgaben anstiegen. So machen die Rentenzahlungen bis zu 60 Prozent des Lohnaufkommens aus. Zwar ermöglichen Reformen seit einigen Jahren eine eigenständigere Führung der Staatsbetriebe. Aber diese Unternehmen, die die Lasten des „Sozialstaates“ mit sich schleppen, können – wen wundert es – nicht wettbewerbsfähig werden, solange sie mit Firmen konkurrieren müssen, die solche Behinderungen nicht kennen. Dazu kommt, daß die Leitung solcher Unternehmen nicht gerade vorbildlich ist und die Entlassung in die Selbständigkeit es der Direktion allzu oft erlaubt hat, Betrügereien zu begehen.4 Ein kürzlich veröffentlichter offizieller Bericht schätzt, daß über 70 Prozent der Verluste von Staatsunternehmen zwischen 1982 und 1992 auf schlechte Unternehmensführung zurückzuführen waren.5

Eine erkaufte politische Stabilität

DIE einzigen Unternehmen in öffentlicher Hand, die sich gut aus der Affäre gezogen haben, sind solche, die eine Art Monopol bewahrt oder geschaffen haben. Etwa eine Fabrik, die Motoren für Kampfflugzeuge hergestellt hatte und jetzt auf die Produktion von Heizkörpern und Zweirädern umgestiegen ist. Beispiele für gelungene Konversion gibt es vor allem im Bereich der Rüstung: Bestimmte Firmen erhielten Beihilfen internationaler Organisationen; aber die investierten Beträge waren zu gering, um nachhaltige Wirkung zu erzielen.

Was also soll aus den unrentablen Bruchbuden werden, als die man die meisten Staatsunternehmen in Shenjang bezeichnen muß? Die profitabelsten unter ihnen sind von westlichen oder japanischen Firmen gekauft worden. Was die anderen betrifft, so steht für die meisten Verantwortlichen vor Ort fest, daß die Pleite unabwendbar ist. Angesichts der äußerst gespannten Lage in der Stadt gliche eine solche Entscheidung allerdings dem berühmten Funken am Pulverfaß. Da die Staatsmacht mehr als alles andere den Aufstand jener fürchtet, die sie zu vertreten vorgibt, diskutiert sie lieber weiter und schiebt die Entscheidungen vor sich her. Diese Staatskrise hat nun schon drei Provinzchefs verschlissen.

Die Zukunft der Region ist um so beunruhigender, als im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Shenjang ein dynamischer Privatsektor fehlt, der einen Teil der Arbeitslosen absorbieren könnte. Wo die Staatsunternehmen Herr im Haus waren, stemmten sich die lokalen Verantwortlichen lange gegen eine privatwirtschaftliche Entwicklung. Auch heute noch ziehen es Unternehmer vor, sich anderswo in China zu engagieren, wo nach ihrer Meinung die Behörden entgegenkommender sind. So kommt es, daß es in dieser großen Stadt nur zwanzig Privatfirmen gibt, die mehr als hundert Leute beschäftigen.

Der einzig florierende Bereich der lokalen Wirtschaft wird von Bewohnern der Provinz Zhejiang beherrscht. Da die Stadt ein Nachschubzentrum für kleine Händler aus Nordchina ist, gibt es hier riesige Großmärkte für Bekleidung. Aber das Gros der Verkäufer wie auch alle Waren kommen aus Zhejiang, einer aufstrebenden Region, deren Händler den ganzen Norden des Landes beherrschen.

Das Beispiel Shenjang zeigt, daß China den sanften Übergang zur Marktwirtschaft nicht schaffen wird. Daß die Härten der Umstellung hier noch nicht so offensichtlich sind wie in Rußland oder Osteuropa, heißt lediglich, daß das Schlimmste noch bevorsteht. Die Reformen haben eine Entwicklung der Leichtindustrie begünstigt, aber den Staatssektor und auch die Landwirtschaft weitgehend vernachlässigt. Die geschwächte Zentralmacht dreht und windet sich, fürchtet sich aber, die großen Reden über Reformen in Taten umzusetzen. Auf diese Weise erkauft sie sich politische Stabilität.

dt. Christophe Zerpka

1 Der Begriff bezeichnet Arbeiter, die arbeitslos geworden sind, aber von ihrem Betrieb weiter einen Teil ihres Gehalts beziehen. Von den Unternehmen wird also eine Art Arbeitslosenhilfe gewährt.

2 Interview während einer Dienstreise im Oktober 1995.

3 Sonderwirtschaftszone bei Hongkong.

4 Vgl. Gabriel Kolko, „Moskau, Peking, Hanoi: Wer Markt sagt, meint Korruption“, Le Monde diplomatique, Dezember 1995.

5 Vgl. China Focus, Nr. 4 (2), Februar 1996.

* Doktorand am Institut politique de Paris, Assistent an der Universität von Lausanne.

Le Monde diplomatique vom 14.06.1996, von Antoine Kerven