14.06.1996

Den Jangtse-Drachen zähmen

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Den Jangtse-Drachen zähmen

GEGEN den Rat zahlreicher Experten, Umweltschützer und selbst der Weltbank hält die chinesische Führung unbeirrt an dem pharaonischen Plan des Drei-Schluchten-Staudamms am Jangtse fest. Aber dieser Größenwahn kann weder die politischen Mängel noch die Weigerung verdecken, jene Probleme ernsthaft anzugehen, die durch die Staatsbetriebe in den alten Industriehochburgen wie Schengjang entstanden sind. Die Staatsmacht versucht, den sozialen Frieden zu erkaufen, was sie kurzfristig weniger kostet als der Dialog mit der Bevölkerung.

Von JEAN-PHILIPPE BÉJA *

Eine Dynastie wurde in China immer dann für gut befunden, wenn sie es verstand, die Flüsse, traditionell als Drachen dargestellt, zu zähmen. Der Erfinder des modischen Begriffs der „asiatischen Produktionsweise“, Karl Wittfogel, hat die Wichtigkeit von Flußregulierungen in den östlichen Kulturen aufgezeigt. Diese These wird von der aktuellen Geschichte bestätigt und macht die Beharrlichkeit nachvollziehbar, mit der die heutige Führung an den gigantischen Plänen für den größten Fluß des Landes, den Jangtse, festhält, den die Chinesen ganz einfach den „langen Fluß“ nennen.

Gleich nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung im Jahre 1989, als sich die Regierung in einer tiefen Legitimitätskrise befand, ließen der Setschuaner Li Peng und der Schanghaier Jiang Zemin, der eine Premierminister, der andere Generalsekretär der Kommunistischen Partei, gegen alle Widerstände den Plan des Drei-Schluchten-Staudamms verabschieden; er wird eine Landschaft zerstören, die wie keine andere von chinesischen Dichtern besungen worden ist. Ihre Hartnäckigkeit ist nur durch den großen symbolischen Wert zu erklären, den die Kontrolle über das Wasser darstellt.

Schon Anfang des Jahrhunderts träumte Sun Yat-sen, der auf beiden Seiten der Straße von Taiwan verehrte Vater der chinesischen Revolution, davon, den Langen Fluß in eine auch für Lastschiffe mit großer Tonnage passierbare Wasserstraße zu verwandeln; zugleich sollte eine für die Entwicklung des Landesinneren dringend benötigte Energiequelle nutzbar gemacht werden. Seit dieser Zeit ist das Projekt immer wieder aus der Schublade gezogen worden, zuerst in den dreißiger Jahren von chinesischen und sowjetischen Ingenieuren, dann wieder in der ersten Zeit der Volksrepublik. Doch obwohl Mao selbst ein – freilich nicht allzu fanatischer – Befürworter dieser Idee war, schreckte er letztlich vor der Größe eines solchen Projekts zurück.1 Es bedurfte der Rückkehr des Setschuaners Deng Xiaoping, um diesen Pharaonenplan wieder ins Gespräch zu bringen.

Die Zahlen sind beeindruckend: Die Investitionen werden auf 250 Milliarden Yuan geschätzt (42 Milliarden Mark), 1993 lagen die Schätzungen noch bei 146,8 Milliarden (24,7 Milliarden Mark); sechzehn Jahre, von 1993 bis 2009, sollen die Arbeiten dauern. Die Stromleistung soll 17680 Megawatt erreichen, also ein Achtel der gesamten Elektrizitätsproduktion des Landes (84 Milliarden Kilowattstunden pro Jahr). Eine Staumauer von 1,98 Kilometer Länge und 185 Meter Höhe soll errichtet werden und ein Stausee von 54000 Quadratkilometern entstehen, was die Umsiedlung von 1,130 Millionen Menschen bedeuten würde.2

Diese wenigen Zahlen vermitteln einen Eindruck vom Umfang des Vorhabens; es ist das größte Wasserbauprojekt der Welt. Seit dem Bau des Assuan-Staudamms, der in puncto Stromerzeugung eine herbe Enttäuschung war, genießen solch größenwahnsinnige Vorhaben jedoch nicht mehr das Wohlwollen der Experten. Das Drei- Schluchten-Projekt ist nicht nur weltweit bei Umweltschützern, sondern auch in China selbst, vor allem bei Fachleuten der Hochschulen, auf große Kritik gestoßen. Während der achtziger Jahre konnten sich die Gegner des Projekts in der Presse und den offiziellen Organen äußern; ihr Kampf hatte in Dai Qing, einer Journalistin der Zeitung Xin Guancha, seine Symbolfigur. Und trotz der hohen Stellung der Funktionäre, die den Bau des Staudamms forderten: Als das Projekt im April 1992 dem Nationalen Volkskongreß zur Abstimmung vorgelegt wurde, stimmten ein Drittel der Abgeordneten, die sich normalerweise als brave Jasager verdient machen, dagegen oder enthielten sich.

Umgesiedelt in Armut und Elend

IN der Tat werden nicht alle Provinzen gleichmäßig von den Vorteilen des Projekts profitieren. So ist Setschuan wenig davon angetan, daß es 85 Prozent der Umsiedler aufnehmen, aber nur 10 Prozent des erzeugten Stroms erhalten soll.3 Aber seit dem Massaker vom 4. Juni 1989 genießt die bevölkerungsreichste Provinz Chinas – deren Gouverneur Xiao Yang dafür bekannt ist, daß er kein Blatt vor den Mund nimmt – in Peking nicht gerade einen guten Ruf. In Setschuan war der nach dem 4. Juni 1989 wegen Unterstützung der Studentenbewegung abgesetzte Generalsekretär Zhao Ziyang die Nummer eins gewesen; dort hatte man am meisten von den Reformen der achtziger Jahre profitiert. Inzwischen jedoch verfügt man im Politbüro über keine einflußreichen Vertreter mehr. Heute liegt Schanghai im Aufwind, und Einwände aus Setschuan haben kaum noch Gewicht.

Das ganze Projekt wurde aus politischen Gründen überstürzt in die Wege geleitet, wobei die Behörden bewußt die Einwände der Experten ignorierten, die sowohl die Machbarkeit als auch die Wirtschaftlichkeit dieses größenwahnsinnigen Plans thematisierten. Dabei ist ihre Kritik nicht leicht vom Tisch zu wischen.

Die offizielle Behauptung etwa, der Damm könne wirksam Überschwemmungen verhindern, wird heftig kritisiert. In Wirklichkeit werden die regelmäßigen Hochwasser am Unterlauf durch die zahlreichen Nebenflüsse verursacht, die unterhalb des Staudamms verlaufen und sich daher nicht kontrollieren lassen. Im gleichen Gutachten wird davon ausgegangen, daß ein Erdbeben oder ein durch Konstruktionsfehler verursachter Dammbruch katastrophale Folgen hätte. In einem 1987 veröffentlichten Buch, das seither verboten ist, bestätigen acht Experten, daß bei einem Unfall dieser Art „die Wassermassen springflutartig direkt auf die Städte Wuhan und Tschangscha zustürzen würden. Das Ausmaß der Katastrophe und die Zahl der Toten überstiege jedes Vorstellungsvermögen.“4

Kürzlich erst haben die Behörden zugegeben, daß der Bruch der Staudämme von Banqiao und Schuimanqiao am Huai- Fluß (ein linker Nebenfluß des Jangtse) im Jahre 1975 in Henan eine Katastrophe verursacht hat. Nach einem Bericht der Human Rights Watch Asia sollen dabei 240000 Menschen den Tod gefunden haben. Doch die Verantwortlichen der Drei- Schluchten-Gesellschaft beteuern, bei besserer Wartung und angesichts der anderen geographischen Gegebenheiten könne sich ein solches Unglück hier nicht wiederholen.5 Gewiß hat es seit 1975 zahlreiche Fortschritte gegeben, doch es geschehen immer wieder Unfälle. So sind im Bezirk Pengze in der Provinz Jiangxi zwei Deiche des Jangtse, die vor einigen Monaten repariert worden waren, gebrochen, was zum Tod von 26 Menschen führte.6 Diese Deiche haben nichts mit dem Bauprojekt der Drei Schluchten gemein, aber dieses Unglück hat den Expertenstreit wieder aufleben lassen.

Nicht alle Kritiker des Projekts sind Gegner der Wasserkraft – immerhin eine saubere Energie. Der Staudamm würde den Strom von umgerechnet 50 Millionen Tonnen Kohle liefern, die als bislang wichtigste Energiequelle zur steigenden Umweltverschmutzung enorm beiträgt. Dennoch geben die Gegner des Programms zu bedenken, daß die aus dem Staudamm gewonnene Elektrizität sehr teuer wäre, da man sie über große Entfernungen transportieren müßte und sowieso erst nach zwölf Jahren mit der Stromgewinnung begonnen werden könnte, das Projekt also kurzfristig keinen Energiemangel beheben kann. Sie stimmen zwar zu, daß die Wasserkraft für bestimmte Probleme in China eine Lösung wäre, sinnvoller sei jedoch der Bau mehrerer kleiner Kraftwerke an den Nebenflüssen, um schneller Strom zu gewinnen, die einzigartige, geschichtsträchtige Landschaft der Drei Schluchten zu bewahren und die massive Umsiedlung der Bevölkerung zu vermeiden.

Gerade diese Frage beunruhigt am meisten. Mit seinen 600 Kilometern Länge würde der Stausee 19 Bezirke und Städte, 140 Kleinstädte und 4500 Dörfer überfluten. Selbst He Gong, der stellvertretende Direktor des Unternehmens, das mit der Durchführung des Projektes beauftragt ist, erkennt in der Umsiedlung und den damit verbundenen Kosten ein „schwerwiegendes Problem“7. 1994 hatten die Behörden beabsichtigt, den umgesiedelten Familien der Region Yichang eine Entschädigung von 6000 Yuan (1000 Mark) und eine Beihilfe von bis zu 56 Yuan (9,40 Mark) monatlich für eine Zeit von drei Jahren zu zahlen – in einer Gegend, in der das monatliche Pro-Kopf-Einkommen bei 921 Yuan (155 Mark) liegt. In der Region Yichang waren große Festivitäten veranstaltet worden, um die Umsiedler zu begrüßen, wobei diese Feiern an jene Versammlungen erinnerten, die einst nach der Kulturrevolution zur Begrüßung der „Bildungsjugend“ abgehalten wurden. Die enteigneten Bauern sind allerdings mit ihren neuen Lebensbedingungen alles andere als zufrieden.8

Die Bewohner des Staudammgebiets, die in Städten der Provinz Kwangsi angesiedelt wurden, leben heute in Armut.9 Die vorgesehen Schaffung von Arbeitsplätzen wird nur schwer zu bewerkstelligen sein, denn nach den offiziellen Statistiken ist die Quote der städtischen Arbeitslosigkeit in Kwangsi die höchste des gesamten Landes. Umsiedlungsprogramme sind in China noch nie sehr erfolgreich gewesen. Eine Untersuchung hat ergeben, daß von 10 Millionen Menschen, die seit 1949 wegen der Errichtung von Staudämmen umgesiedelt wurden, 3 Millionen in extremer Armut leben.10 Folglich stehen all jene, die ihre Häuser verlassen sollen, dem Ganzen zurückhaltend gegenüber. Im März 1995 haben die Behörden angekündigt, das für die Wiederansiedlung dieses Personenkreises vorgesehene Budget zu verdoppeln, welches dann bei zwei Milliarden Yuan (336 Millionen Mark) läge. Seit 1992 sind bereits 120000 Menschen neu angesiedelt worden, doch die eigentliche „Völkerwanderung“ wird nicht vor dem Jahr 2002 beginnen.11

Die ungeheueren Ausgaben und die hohen Risiken für die Menschen in den am Mittellauf gelegenen Städten haben die großen internationalen Organisationen (die Weltbank gehörte anfangs zu den Befürwortern) veranlaßt, eine Finanzierung abzulehnen. Schließlich steht das Programm nicht zuletzt wegen der politischen Motive, die der Entscheidung für den Bau des Staudammes zugrunde liegen, auf tönernen Füßen. Gegenwärtig kann man über die Perspektiven der das Projekt betreibenden politischen Führer nur schwer spekulieren. Ein riesengroßes Fragezeichen, so groß wie das Drei-Schluchten- Projekt selbst ...

dt. Christophe Zerpka

1 Vgl. Li Zhisui, „Ich war Maos Leibarzt“, Bergisch-Gladbach (Lübbe) 1994.

2 Vgl. South China Morning Post (Hongkong) vom 18. Juli und 15. Oktober 1995, und Richard Edmonds, „Le barrage des Trois Gorges, panacée ou catastrophe?“, Perspectives chinoises (Hongkong), Nr. 17-18, Juli-August 1993.

3 Perspectives chinoises, a.a.O.

4 Ebd.

5 Erklärung von Zheng Rugang, stellvertretender Direktor der internationalen Arbeitsgruppe am Ministerium für Wasserkraft, zit. in South China Morning Post, 23. Februar 1995.

6 South China Morning Post, 11. Januar 1996.

7 South China Morning Post, 28. Oktober 1995.

8 Vgl. Xianggang Lianhe bao, 13. April 1995.

9 Agentur Neues China, zitiert von Eastern Express (Hongkong), 26. Juni 1995.

10 Nach Informationen von Umweltschutzgruppen, zit. von South China Morning Post, 18. Juli 1995.

11 Vgl. South China Morning Post, 18. März 1995.

* Forschungsdirektor am CNRS, Leiter der Redaktion von Perspectives chinoises, Hongkong.

Le Monde diplomatique vom 14.06.1996, von Jean-Philippe Beja