Unhistorischer Kompromiß
■ Der Ausgang der russischen Präsidentschaftswahlen, deren erster Durchgang am 16. Juni stattfindet, ist bis zuletzt ungewiß. Wird der bisherige Amtsinhaber Jelzin den Sieg über den Kommunis
Der Ausgang der russischen Präsidentschaftswahlen, deren erster Durchgang am 16. Juni stattfindet, ist bis zuletzt ungewiß. Wird der bisherige Amtsinhaber Jelzin den Sieg über den Kommunisten Gennadi Sjuganow davontragen? Letzterer spricht von einer Manipulation von Presse, Funk und Fernsehen, die ihn systematisch ausgrenzten. Boris Jelzin inszenierte Ende Mai, wohl um den Abstand zwischen sich und seinem Herausforderer zu vergrößern, einen Waffenstillstand in Tschetschenien, von dem niemand weiß, ob er länger als bis zum Urnengang halten wird. Doch mehr als solche Höhepunkte des Wahlkampfs frappiert zahlreiche Beobachter der Konsens, der sich zwischen den beiden wichtigsten Kandidaten abzeichnet: Rußland muß wieder Großmacht werden, die Republiken der ehemaligen UdSSR sollen sich in einer neuen Union zusammenfinden, die Wirtschaftspolitik ist sozialer zu gestalten... Für die neue russische Bourgeoisie stellen diese Übereinstimmungen eine Grundlage dar, mit der man sich arrangieren kann.
Von unserem Korrespondenten BERNARD FRÉDÉRICK *
JELZIN wird auch dann bleiben, wenn er verliert.“ Unter diesem Titel veröffentlichte die Moskauer Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta am 26. April eine ganzseitige Analyse der bekannten Politologin Lilija Schewzowa, in der sie die Möglichkeit eines Putsches durch Präsident Jelzin erörtert. „Aber dies ist schon nicht mehr Rußlands wichtigstes politisches Problem“, führte der Untertitel aus.
Am folgenden Tag befaßte sich die gesamte Moskauer Presse mit einem Aufruf von dreizehn der wichtigsten Vertreter aus Industrie und Bankwesen, worin diese den amtierenden Präsidenten drängen, ein Einvernehmen mit dem kommunistischen Kandidaten Gennadi Sjuganow zu suchen, der zu diesem Zeitpunkt die besseren Umfrageergebnisse erzielte. Die Unterzeichner warnen vor der Gefahr des „Bürgerkriegs“; nicht alles, was die Sowjetzeit hervorgebracht habe, sei abzulehnen, betonen sie, ebensowenig wie all das, was sich in den letzten fünf Jahren herausgebildet habe; schließlich sprechen sie sich für einen Kompromiß auf höchster Ebene aus, nämlich für eine Teilung der Macht.
Dem Artikel von Lilija Schewzowa gebührt das Verdienst, schwarz auf weiß zu schreiben, was überall, ob in Kreisen der Regierung oder der Opposition, geflüstert wird. Der Aufruf vom 27. April wiederum artikuliert den geheimen Wunsch zahlreicher Russen – laut Umfragen mehr als ein Drittel der Wählerschaft –, die weder eine Rückkehr zur Vergangenheit noch die augenblickliche Karikatur einer politischen und wirtschaftlichen Demokratie wollen. Aber diese beiden nahezu parallel erschienenen Texte enthüllen vor allem etwas weitaus Grundlegenderes: Die Nach- Jelzin-Ära hat begonnen.
Gewiß, der Präsident kann vielleicht noch dank seines antikommunistisch geführten Wahlkampfs den Sieg erringen. Aber auch wenn Angst in der russischen Gesellschaft als Herrschaftsinstrument traditionell gut funktioniert, so haben der Tschetschenienkrieg und das gegenwärtig herrschende Chaos diesen Reflex deutlich abgestumpft. Boris Jelzin indessen kann, meint Lilija Schewzowa, selbst dann im Kreml bleiben, wenn das Wahlergebnis
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RUSSLAND NACH DEN WAHLEN: NATIONALE RETTUNG DURCH DIE REALE ÖKONOMISCHE POLITIK (REP)
Unhistorischer Kompromiß auf dem Weg zur Großmacht?
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ihm eine Absage erteilt. Nicht anders sieht es Otto Lazis, stellvertretender Chefredakteur der Iswestija und Freund des ehemaligen ultraliberalen Ministerpräsidenten Jegor Gaidar; auch Mitarbeiter von Michail Gorbatschow wie Witali Gussenkow teilen diese Einschätzung, ebenso die europäischen Finanzkreise in Moskau. Und selbstverständlich teilt diese Befürchtungen auch die Führungsspitze der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), wo man indes aus naheliegenden taktischen Gründen versucht, die Gefahr zu bagatellisieren.
Boris Jelzin könnte aber auch gezwungen sein, seine Niederlage zu akzeptieren und dem Sieger das Ruder zu überlassen.1 Denn die Moskauer und Petersburger Bourgeoisie – jene „neuen Russen“, deren Geschäfte florieren – ist ihm zwar zwangsläufig ergeben, doch dies reicht nicht aus, um den Wahlausgang zu entscheiden. Er muß, „um zu gewinnen, Millionen von Menschen auf seine Seite bringen, die weit entfernt von den Moskauer und Petersburger Salons leben“, schreibt Lilija Schewzowa zu Recht.2 Die letzten Parlamentswahlen haben allerdings gezeigt, daß der Kreml in der Provinz wenig Rückhalt findet.
Wie dem auch sei, der Wahlkampf hat bereits deutlich gemacht, daß eine Neuorientierung der russischen Innen- und Außenpolitik unvermeidlich ist. Und jeder weiß, daß Boris Jelzins politische Karriere sich dem Ende zuneigt. Ohnehin kann der Präsident keine dritte Amtsperiode anstreben – dies verbietet die Verfassung, und überdies bleibt sein Gesundheitszustand labil. Sollte er an der Macht bleiben, so wird er nicht verhindern können, daß seine Umgebung nach einem Nachfolger sucht. Rußland befindet sich also an einem neuen Wendepunkt seiner Geschichte. Das ist eher eine Notwendigkeit, als daß das Land die Wahl hätte. Denn darin stimmen nahezu alle überein: Die letzten fünf Jahre waren ein Mißerfolg.
Einzig die prowestlichen Liberalen verteidigen das von ihnen Erreichte, doch sie haben eine Randposition inne. Jegor Gaidar, Boris Fjodorow (ehemaliger Finanzminister), Grigori Tschubais (ehemaliger Vorsitzender des Privatisierungskomitees) und Andrej Kosyrew (ehemaliger Außenminister) – alle drei Gegner des Tschetschenienkrieges – wurden politisch kaltgestellt. Einzig ein heftiger Antikommunismus hat sie dazu bewogen, sich für Boris Jelzin auszusprechen, ihr Herz ist nicht mehr dabei.
Auf seiten der Macht vermeidet man es, von der Bilanz der vergangenen Jahre zu sprechen. Der Antikommunismus und das Schreckgespenst des Bürgerkriegs ersetzen die Argumente. Dennoch wurde das Scheitern eingestanden: Die Entlassung der liberalen Minister nach der Wahlniederlage im Dezember 1995, die Ernennung von Jewgeni Primakow, einem ehemaligen Gefolgsmann von Gorbatschow und erfahrenen Diplomaten, zum Außenminister, das Aussetzen der Privatisierungen, Jelzins Besuch in China – all dies war nicht nur dazu bestimmt, Wähler zu gewinnen.
Es handelt sich vielmehr um eine politische Neuorientierung, folglich um einen mitten in Jelzins Umgebung errungenen Sieg des staatsorientierten und slawophilen Blocks gegenüber dem liberalen und prowestlichen. Dieser Sieg spiegelt den starken Widerstand der russischen Gesellschaft gegen die Veränderungen gleich welcher Art, die ihr seit der Niederschlagung des Putsches vom August 1991 und der Auflösung der Sowjetunion zugemutet wurden. „Die Tatsache, daß nach fünf Jahren liberaler Reformen der Hauptgegner des Präsidenten erneut ein Kommunist ist“, schreibt Lilija Schewzowa, „zeigt, daß die Reformen gescheitert sind.“
Der Widerstand verkörpert sich auch im Fortbestehen sowjetischer Bräuche und Gepflogenheiten, praktiziert von einfachen Bürgern wie von wichtigen Entscheidungsträgern. So beobachten Experten der OECD3, daß in der Provinz die Lokalpolitiker versuchen, die Vorgaben aus Moskau zu umgehen und den sozialen Frieden zu bewahren, indem sie an einer Preisbindung für bestimmte Produkte festhalten, die örtliche Produktion schützen und mit Hilfe der Unternehmensleitungen Industriekomplexe – und zwar selbst ruhende – aufrechterhalten, die nach Beschluß des Kremls aufgelöst werden sollten. Ihr Trumpf besteht darin, daß die Gesellschaft sich trotz der Umwälzungen seit 1991 sehr wenig weiterentwickelt hat und der „Übergang“ entgegen anderslautender Behauptungen keineswegs in das westliche Modell von Marktwirtschaft eingemündet ist.
Denn der neue russische Kapitalismus ist nicht einer der Produktion, sondern einer des Handels und der Spekulation. Er ist von kurzer Perspektive. Die sogenannten businessmeny, bemerken Alexis Berelowitch und Michel Wieviorka, „interessieren sich immer weniger für die Demokratisierung in ihrer Gesellschaft, sie scheinen der Zukunft ihrer Nation zunehmend gleichgültig gegenüberzustehen; was sie beschäftigt, ist die Vermehrung ihres persönlichen Reichtums, nicht die Entwicklung der russischen Ökonomie in ihrer Gesamtheit“4. Sogar die Aktionärsbanken privatisierter Unternehmen haben, so erklärt ein Finanzfachmann, „keine Industriestrategie, kein Programm und keine Mittel, die Unternehmen zu modernisieren und umzustrukturieren“. Die Opposition prangert mit aller Macht den Raubbau an den Ressourcen, die Spekulation und den Kapitalexport an, der auf 50 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt wird, eine Zahl, die man mit den 10 Milliarden Dollar ins Verhältnis setzen muß, welche der Internationale Währungsfonds (IWF) Jelzin kürzlich zugesichert hat.
Sjuganows Widersprüchlichkeit
VON den Kommunisten über die politische Mitte (verkörpert in Alexander Lebed, Swjatoslaw Fjodorow und Grigori Jawlinski) bis hin zu Gorbatschow werden in allen Wahlplattformen dieselben Akzente gesetzt: Kampf gegen Spekulation, Korruption und Cliquenwirtschaft sowie Rückführung der „strategischen Sektoren“ des Landes unter staatliche Obhut. Damit sind die ökonomischen und sozialen Übereinstimmungen der verschiedenen Wahlprogramme aber noch nicht erschöpft; alle versprechen sie mehr staatliche Einflußnahme in der Wirtschaft, gesellschaftliche Neuorientierung, eine Währungsüberwachung und möglichst die Rückführung des ins Ausland verbrachten Kapitals.
Die Wirtschaftsexperten der politischen Formationen der Linken und der Mitte entstammen oft denselben Arbeitsgruppen, wenn es nicht sogar dieselben Personen sind: Leonid Abalkin, Akademiemitglied, war nicht nur während der Perestroika Stellvertreter des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Ryschkow sowie Kollege und Freund Grigori Jawlinskis – er hat zudem an den wirtschaftlichen Konzepten der Kommunistischen Partei ebenso mitgearbeitet wie an denen Gorbatschows!
Weder bei den Kommunisten noch im mittleren Spektrum leugnet man die wechselseitige Nähe der sozialökonomischen Konzepte. Aber die Wahlkampfsituation als solche, die unentschiedenen Fragen bezüglich des zukünftigen politischen Systems und tiefsitzende Feindschaften aus der Vergangenheit geben dem Streit eine Chance. Schließlich stehen die vier Kandidaten der hypothetischen dritten Kraft unter dem Druck, sich sowohl vom amtierenden Präsidenten als auch von seinem kommunistischen Herausforderer abzugrenzen. Eines der Mittel, mit denen man versucht, Sjuganow aus dem Rennen zu werfen, ist die Behauptung des Kremls wie der gemäßigten Opposition, die Wahl eines Kommunisten zum Präsidenten bedeute eine Rückkehr zur Vergangenheit.
Seit den Parlamentswahlen im Dezember 19955 und noch bis Anfang Mai dieses Jahres hatte die russische KP mit dieser Kritik keine Probleme.6 Um vielmehr ihre traditionelle Wählerschaft zu mobilisieren, bediente sie sich im linken Spektrum einer nostalgischen Beschwörung der Sowjetzeit, am rechten Rand dagegen patriotischer Gefühle, die stark von großrussischem Nationalismus und Chauvinismus gefärbt sind.
Doch die Meinungsumfragen haben bereits zu einem frühen Zeitpunkt gezeigt, daß Boris Jelzin langsam, aber stetig zulegen konnte, während sein Gegner auf dem Niveau der Parlamentswahlen stagnierte. So bewahrheitete sich, was Sergej Potapow, Abgeordneter und Mitglied der KP- Führungsspitze, bemerkte: „Die Wählerschaft, die wir im Dezember gewinnen konnten, reicht nicht für einen Wahlsieg aus.“ Gennadi Sjuganow mußte also versuchen, neue Stimmen in der Mitte zu gewinnen, indem er in einer Hinsicht die Gemüter beruhigte: Im Falle seines Wahlsiegs werde das Rad der Geschichte nicht zurückgedreht.
Der Spielraum der KP ist indes gering. Sie kann keine Selbstkritik an den vergangenen fünfundsiebzig Herrschaftsjahren üben, das würde der sowjetischen Nostalgiewelle das Wasser abgraben. Ebensowenig kann sie eine klar linksgerichtete Politik nach klassisch kommunistischem Muster betreiben: Dies hat Gorbatschow bereits ohne Erfolg versucht. Die Chance des kommunistischen Kandidaten liegt darin, daß er letztlich nicht allzu kommunistisch ist, aber doch genug, um jene Aktivisten um sich zu scharen, die ihre alten Ideale bewahrt haben: Rentner, deren geistige und materielle Existenz auf dem Spiel steht, sowie ehemalige Funktionäre, insbesondere aus jener Generation, die Anfang der achtziger Jahre von Juri Andropow (Generalsekretär der KPdSU von November 1982 bis Februar 1984) ihre Posten erhielt.
Der Kandidat der KPRF, Gennadi Sjuganow, bleibt in der Tat ein widersprüchlicher Mann. Für Alexander Busgalin, einen jungen Wirtschaftsspezialisten, der zur nichtkommunistischen Linken zählt, ist Sjuganow „eine Mischung: Sozialdemokrat in der Ökonomie, Etatist in der Politik, kommunistisch-christlicher Orthodoxer in ideologischen Fragen, Chauvinist auf geopolitischem Gebiet“. Ähnliches vernimmt man am anderen Ende der politischen Skala aus dem Munde des Schriftstellers Alexander Prochanow, des Vordenkers der „russischen neuen Rechten“, die ihre Ideen bei Alain de Benoist entlehnt hat; die von ihm gegründete Zeitschrift Den hat sich durch ihren Antisemitismus, insbesondere durch den auszugsweisen Abdruck von „Mein Kampf“ einen Namen gemacht. Prochanow, der uneingeschränkt hinter dem Kandidaten der Nationalen Russischen Volksunion steht, sieht in Sjuganow den einstigen Gründer der Nationalen Wohlfahrtsfront, die „das Ende des Bürgerkriegs, die Vereinigung des dreifarbigen zaristischen Banners und der sowjetischen Fahne sowie die Zusammenführung der Bilder Stalins und Jesu Christi proklamierte“7.
Er selbst kaschiert seine Affinitäten zu den Nationalisten nicht. Seine offizielle, im Rahmen des Wahlkampfs verbreitete Biographie hebt hervor, daß er Seite an Seite mit mehreren künftigen August-Putschisten im Juli 1991 den „Aufruf ans Volk“ verfaßte, der sich gegen Michail Gorbatschow richtete. Sie erinnert auch daran, daß er im Dezember 1991 neben Alexander Prochanow, dem „schwarzen Oberst“ Viktor Alksnis, Sergej Baburin sowie Überläufern des Pamjat (der ersten „Schule“ der russischen Braunhemden) und anderen radikalen Rechten am Gründungskongreß der Nationalen Russischen Volksunion teilgenommen hat.
Gennadi Sjuganows Schriften zeugen im übrigen von größerer Sympathie für die ideologischen und terminologischen Traditionen des russischen Nationalismus als für jene des Marxismus. In seiner Wahlplattform „Rußland, das Vaterland, das Volk“8 taucht das Wort Sozialismus nicht auf. Und in seinem 1995 erschienenen „Ich glaube an Rußland“ beteuert der kommunistische Amtsanwärter, daß „die vom Russischen Reich verkörperte slawische Zivilisation“ im 19. Jahrhundert zur „letzten Bastion“ gegen die „jüdische Diaspora“ geworden sei, deren „Überzeugung, einem auserwählten Volk anzugehören und zur Weltherrschaft bestimmt zu sein“, damals „einen beträchtlichen Einfluß auf das westliche Bewußtsein auszuüben begann“.
Solche Äußerungen können einige Befürchtungen wecken, gewiß aber nicht die, daß es ein Zurück zum Sowjetsystem geben könnte – außer in Symbolen wie etwa der Nationalhymne und der Fahne. Der kommunistische Kandidat hat während des Wahlkampfs einen sehr großen Pragmatismus bewiesen. Er konnte die extreme stalinistische Linke des Wiktor Ampilow ebenso für sich gewinnen wie die neue Rechte des Alexander Prochanow, und in letzter Minute gelang es ihm, einen ökonomischen Maßnahmenkatalog zu präsentieren, der zwar überaus vage und liebedienerisch daherkommt, aber dazu angetan ist, sogar die Liberalen vor Neid erblassen zu lassen: Garantien für private Gewinne, sofern sie „den Interessen Rußlands dienen“, Schutz der Interessen von Geschäftsleuten und Bankiers, Appelle ans ausländische Kapital.
Genug, um die kommunistische Wählerschaft zu erschüttern. Aber der Kandidat hat sich bewußt über die Partei gestellt, indem er sich als Kopf der „nationalen Volkskräfte“ bezeichnet. „Gennadi Sjuganow“, bemerkt der russische Geschäftsführer einer großen europäischen Bank, „ist ein wenig wie Ihr François Mitterrand. Er braucht eine Partei, aber er versteht es auch, sich von ihr zu lösen und die Allianzen einzugehen, die er für nötig hält, ohne sich dabei um kommunistische Ideologie und Empfindlichkeiten zu kümmern.“ In der Führungsriege der KPRF spricht man davon, daß es darum gehe, „Rußland zu retten“: „Wenn ein Teil des Volkes noch nicht bereit ist, das sozialistische Modell zu akzeptieren, dann darf man kein entsprechendes Programm vorlegen.“9
Der kommunistische Geschäftsmann Wladimir Semago, der zusammen mit dem einstigen „Chef“ von Gosplan, Juri Massljukow, das Wirtschaftsprogramm vorbereitet hat, geht indes weiter: „Die Position, die die künftige kommunistische Regierung dem IWF gegenüber einnehmen wird, gründet sich auf die Hypothese, daß der Währungsfonds nicht bloß ein politisches Werkzeug, sondern auch ein Finanzinstrument ist. Deshalb ist es für uns überaus wichtig zu erfahren, ob der IWF bereit ist, Rußland bei seinem Wiedererstarken zu helfen, oder ob man lediglich auf uns Einfluß nehmen will.“ Und dann fährt er fort: „Wir sind bereit, drei Pläne vorzulegen: einen für die ersten hundert Tage, einen anderen für das erste Jahr und einen dritten, der die wesentlichen Orientierungen der kommenden vier Jahre festlegt. Wenn der IWF sich bereit erklärt, über diese Papiere zu diskutieren, sind wir mit einem Treffen einverstanden.“10
Diese Reale Ökonomische Politik (deren russische Abkürzung REP an die NEP, Lenins Neue Ökonomische Politik von 1921, erinnert) hat die Politologin Lilija Schewzowa überzeugt: „Was immer man von den Kommunisten sagt, sie sind längst integraler Bestandteil des jetzigen Systems geworden; sie wollen es nicht zerstören, sondern versuchen nur, die Macht zu ihren Gunsten neu zu verteilen.“ Eine Analyse, die auch in den Worten des Parteisekretärs Sergej Potapow anklingt: „Wir sind für eine Regierung der nationalen Rettung. Parteizugehörigkeit wird kein entscheidendes Kriterium sein, um sich an der Regierung zu beteiligen.“
So erklärt sich der Aufruf, den am 27. April Bank- und Unternehmensleiter veröffentlicht haben, die für ihre Sorge um das Gemeinwohl und die Entwicklung der russischen Wirtschaft bekannt sind.11 Diese Männer wissen, daß ein Wiedererstarken des Staates und die Umsetzung einer echten Wirtschaftspolitik nicht ohne politische Stabilität vonstatten gehen können. Indes droht der Machtkampf, der im Jelzin-Lager zwischen Liberalen und Etatisten sowie verschiedenen Seilschaften losbrechen wird, zu einer starken Bedrohung für die verbliebenen Reste der postsowjetischen Ökonomie zu werden.12
Die Ära, die nun beginnt, ist also erfüllt von Ungewißheiten. Wenn Jelzin noch ein letztes Mal Präsident werden sollte, wird er dann die Motivation und den nötigen Einfluß auf seine Umgebung haben, um das Gemetzel in Tschetschenien zu beenden? Oder um die Höflinge und jene Mafia-Gruppierungen, die mit ihnen unter einer Decke stecken, daran zu hindern, weiterhin öffentliche Gelder und internationale Hilfen zu veruntreuen?
Wenn jedoch Gennadi Sjuganow gewinnt, müssen die Unternehmensleiter und großen Bankiers vielleicht befürchten, daß die Basis des neuen kommunistischen Präsidenten ihn zu Handlungen zwingt, die zumindest dem Geist des Übergangs zur Marktwirtschaft entgegenstehen, und daß der Westen in diesem Fall auf Distanz gehen könnte. Anders als die Mafia, die kleinen Geschäftsleute und Spekulanten sind die großen Wirtschaftskreise also daran interessiert, daß es unter ihrer Schirmherrschaft zu einer wirklichen Teilung der Macht kommt.
Gilt dies auch für Jelzin und Sjuganow? Der bisherige Amtsinhaber weiß: Wenn nicht er seine Leute verrät, werden sie ihn verraten. Er könnte also versuchen, seine politischen Überlebenschancen durch ein Einvernehmen mit seinem kommunistischen Herausforderer zu erhöhen, selbst wenn dabei ein paar der korrumpiertesten Gestalten aus seinem Umkreis über die Klinge springen. Jedenfalls wird er seine Innen- wie seine Außenpolitik auf einen stärker nationalen Kurs bringen müssen. Daher rührt seine Suche nach einer neuen sozialen Basis, die ihm nur eine Allianz mit Sjuganow sichern kann.
Der aber, so munkeln einige KP-Mitglieder, fürchte das Erbe, das ihm der „Gorbatschow-Bezwinger“ hinterlassen würde. Einmal am Ruder, wird ihm seine bauernfängerische Wahlpropaganda nicht mehr helfen; im Gegenteil werden unhaltbare Versprechungen auf ihn zurückkommen, zum Beispiel die Entschädigung der kleinen Sparer, die durch die Freigabe der Preise 1992 um ihr Geld gebracht wurden. Und weil es den Kräften, die ihn unterstützen, an ideologischer und sozialer Homogenität fehlt, dürften sie sich rasch spalten. Der KP selbst könnten ihre verschiedenen, stalinistischen bis sozialdemokratischen Strömungen zum Verhängnis werden. Kurz, auch Sjuganow würde durch einen Kompromiß gewinnen. Teilt er die Macht, so teilt er auch die Verantwortung, und diese russische Version der „Kohabitation“ mag eine gute Investition in die Zukunft sein.
Die Ergebnisse sowohl des ersten Wahlgangs am 16. Juni als auch einer eventuellen Stichwahl könnten durchaus ohne entscheidenden Einfluß bleiben. Den aber wird der Konsens haben, der sich sowohl auf wirtschaftlichem als auch auf außenpolitischem Gebiet abzeichnet und der sich in dem Begriff derschawnost zusammenfassen läßt: Großmacht. Dieser Begriff eint alle, selbst Wladimir Schirinowski, und ist zugleich der kleinste und der größte gemeinsame Nenner der russischen Gesellschaft.
Es ist denkbar, daß ein solcher Kompromiß an der Spitze Rußlands – und darüber hinaus in der GUS – eine relative Stabilität ermöglichen würde. Allerdings auf Kosten der Demokratie. Es sei denn, dieser Kompromiß würde die Herausbildung der berühmten dritten Kraft beschleunigen, von der dauernd die Rede ist. Im Umkreis Gorbatschows, der von der Sache sehr überzeugt ist, bereitet man sich darauf vor, eine Opposition der gemäßigten Linken – so der Begriff, den Witali Gussenkow verwendet – zu bilden. Der ehemalige sowjetische Staatspräsident (in den Umfragen erhält er 2 Prozent, doch seine Wahlreisen in die Provinz haben einen gewissen Erfolg) hat das sogenannte Bürgerforum gegründet; es kamen mehrere tausend Delegierte aus einundsiebzig Regionen, der Anteil an jungen Menschen und Frauen beeindruckte ebenso wie deren Ausbildungsniveau (überwiegend Wissenschaftler, Universitätsmitarbeiter, Studenten, Führungskräfte, Techniker und Ingenieure). Die Schützenhilfe, die der Schriftsteller und Dissident aus Sowjetzeiten, der eigens aus Paris angereiste Andrej Sinjawski, ihm bot, ist nicht zu unterschätzen, auch wenn die russischen Medien dies übergingen – mit Ausnahme von Lilija Schewzowa, der die Kandidatur des Initiators der Perestroika alles andere als lächerlich erscheint. Sie könnte sich den ehemaligen sowjetischen Präsidenten sehr wohl als „Kopf der neuen Koordinationsstrukturen“ einer erneuerten postsowjetischen Union vorstellen.
Rußland krankt mehr als sonst ein Staat auf der Welt daran, daß ein Gesellschaftsentwurf fehlt. Die Demokratie der Demokraten und die Marktwirtschaft sind rasch bankrott gegangen, ohne die Leere zu füllen, die durch den Zusammenbruch des Kommunismus entstanden ist. Bis heute ist dies auch den nichtkommunistischen Linken und der politischen Mitte nicht gelungen: Sie verfügen über keine wirkliche soziale Basis und bleiben kleine Gruppierungen, auch wenn sie den Prognosen zufolge besser abschneiden als Gennadi Sjuganow oder Boris Jelzin. In diesen Kreisen kursiert die heimliche Hoffnung, daß die Wahl des kommunistischen Kandidaten oder ein Gespann Jelzin-Sjuganow über kurz oder lang das Auseinanderbrechen der Kommunistischen Partei nach sich zieht und dann eine Neugliederung der Linkskräfte stattfindet.
Nichts weist darauf hin, daß es so kommen muß, genausowenig läßt es sich aber ausschließen. Man wird jedenfalls auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen haben, daß ein neuer populistischer Führer die politische Bühne betritt und Rußland, „der Geschichte überdrüssig“13, in ihm den Erlöser sehen könnte ...
dt. Eveline Passet
1 Die anderen Kandidaten sind der Ultranationalist Wladimir Schirinowksi, der ehemalige Präsident Michail Gorbatschow, der Kandidat der Mitte Grigori Jawlinski, der General Alexander Lebed, der Verfechter einer Arbeiterselbstverwaltung Swjatoslaw Fjodorow, der Kommunist Aman Tulejew, der ehemalige Meister im Gewichtheben Juri Wlassow, der Multimillionär Wladimir Brynzalow und der Geschäftsmann Martin Schakkun.
2 Nesawissimaja Gaseta, 26. April 1996.
3 „La Fédération de Russie 1995“, Etudes économiques de l'OCDE, Paris 1996.
4 Alexis Berelowitch, Michel Wieviorka, „Les Russes d'en bas“, Paris (Le Seuil) 1996. Siehe auch „Moscou du bien-vivre, Moscou du mal-mourir“, Le Monde diplomatique, April 1995.
5 Jean-Marie Chauvier, „Die Wirtschaftsreform wird in Frage gestellt“, Le Monde diplomatique, November 1995.
6 Siehe Andrej Gratschow, „Moscou vers l'avenir ... via le passé“, Le Monde diplomatique, Februar 1996.
7 Alexander Prochanow, „Sjuganow, Porträt eines Führers“ (russisch), Moskau (Paleja) 1996.
8 „Rossija, Rodina, Narod“, Moskau (Paleja) 1996.
9 Wiktor Sorkalzew, Mitglied des Präsidiums der KPRF, Prawda, 30. April 1996.
10 The Moscow Tribune, 23. April 1996.
11 Berelowitch/Wieviorka, a.a.O.
12 Zu den Clans siehe den Artikel des Ersten Sekretärs der US-Botschaft in Moskau, Thomas Graham, in Nesawissimaja Gaseta, nachgedruckt in Courrier international, Nr. 267, Paris, Dezember 1995.
13 „Russie post-soviétique. La fatigue de l'histoire“, hrsg. von Véronique Garros, Brüssel (Complexe) 1995.
* Journalist. Koordinator des „Dictionnaire des questions internationales“, Paris (Éditions de l'Atelier) 1995.