14.06.1996

Atatürks Erben wollen sauber bleiben

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Atatürks Erben wollen sauber bleiben

Von unserer

Korrespondentin

NUR DOLAY *

GENERAL Muhsin Batur, einer der fünf Anführer des Staatsstreichs vom 12. März 1971, lebt heute als Pensionär in einem der vornehmen Wohnviertel Istanbuls. Aber sein Domizil mit Blick auf die Bucht von Fenerbahce kommt ihm wie ein goldener Käfig vor: „Ich kann das Haus nicht ohne Leibwächter und eine Sicherheitseskorte von mehreren Fahrzeugen verlassen“, klagt er und schaut hinaus auf den in sanftes Licht getauchten Bosporus. „Es ist eine Schande, daß wir uns so in der Öffentlichkeit bewegen müssen.“

Der ehemalige Oberbefehlshaber der Luftwaffe fühlt sich wie ein gefangener Löwe, wenn auch sein großzügiges Apartment in einer bewachten Luxuswohnanlage des Militärs keinerlei Ähnlichkeit mit jenen „Zellen des 12. März“ hat, in denen damals Tausende von jungen Leuten, Intellektuellen, Schriftstellern und Journalisten festgehalten wurden: in Ketten, mit Hand- und Fußfesseln, den schrecklichsten Foltermethoden unterworfen.

General Kemal Kayacan, ein weiterer Protagonist des „militärischen Intermezzos“ von 1971 – wenn auch keiner der Hauptverantwortlichen für die anschließende Repression – wurde zusammen mit einer Reihe hoher Militärs das Opfer eines Anschlags, den ein linksradikales Kommando verübte; auf dieselbe Weise starb 1980 der damalige Ministerpräsident. Reicht das, um die Sicherheitsvorkehrungen zu erklären, die inzwischen bei zahlreichen Offizieren üblich sind? Oder liegt nicht doch der Gedanke näher, daß hohe Militärs das Ziel von Anschlägen kurdischer Nationalisten werden, nachdem fast die halbe Armee zur Guerillabekämpfung in Südostanatolien eingesetzt ist?

Bei Sufi Karaman, der eine zentrale Rolle in der „Revolution von 1960“ gespielt hat, gibt es jedenfalls keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen. Er wohnt in einem großen Mietshaus am Stadtrand von Ankara. Kurden und Türken leben hier nebeneinander, jedermann kann ein- und ausgehen. „Als wir 1960 eingegriffen haben, waren unser Problem die begeisterten Menschen, die uns erkannten und danken wollten – Begeisterungsstürme, wo immer wir uns auf den Straßen zeigten. Wir mußten übers Radio an die Bürger appellieren, diese Freudenausbrüche zu unterlassen.“

Bis in die siebziger Jahre hinein genoß die Armee ein hohes Ansehen. Nachdem sie bereits zur Rettung des Landes nach dem Ersten Weltkrieg beigetragen hatten, spielten die Streitkräfte 1960 erneut die Rolle des Befreiers: Ein Dutzend Offiziere der mittleren Ränge (die meisten Oberstleutnants) setzten die rechtsgerichtete Regierung der Demokratischen Partei ab – die Gefängnisse wurden geöffnet, die Einschränkungen der Gewerkschaftsarbeit aufgehoben, und die Ausweitung der Meinungsfreiheit erlaubte auch der Linken, ihre Publikationen zu verbreiten. Eine Verfassungsänderung bestätigte schließlich die Legitimität dieser neuen Rechte. Das alles war noch in guter Erinnerung – um so erschreckender wirkte die Wende von 1971.

Aber innerhalb der Armee hatte sich bereits seit Ende der vierziger Jahre ein allmählicher Wandel vollzogen. Zum einen gab es immer weniger Offiziere, die den Befreiungskrieg noch mitgemacht hatten, zum anderen trat die Türkei der Nato bei und lehnte sich politisch eng an die USA an. Vielen Offizieren mißfiel diese Westbindung, weil sie einen Verlust an Unabhängigkeit bedeutete. In diesen Kreisen beruft man sich immer noch auf den Sieg gegen die Übermacht westlicher Besatzungstruppen nach dem Ersten Weltkrieg und auf eine Tradition des Widerstands gegen jedes Regime, das die nationale Souveränität aufs Spiel setzt. So erfolgte die Intervention von 1960 nicht nur aus einem Gefühl nationaler Verantwortung angesichts eines repressiven und korrupten Regimes, das sich überdies in Fragen des Laizismus kompromißbereit zeigte, sondern sie richtete sich auch gegen eine Regierung, die aus der Türkei erklärtermaßen ein „kleines Amerika“ machen wollte. Die Putschisten stellten das Engagement des Landes im atlantischen Bündnis zwar nicht in Frage, aber sie bemühten sich um bessere Beziehungen zur Sowjetunion – immerhin hatte Atatürk dort Unterstützung gefunden, und die Sowjetunion war der erste Staat gewesen, der die junge Republik anerkannte.

Noch besaßen die kemalistischen Militärs entscheidenden Einfluß in den Streitkräften, und die Kubakrise von 1962, in der es am Ende auch um die US-amerikanischen Raketenstützpunkte in der Türkei ging1, schien ihnen recht zu geben. Mußte das Land unter dem Schutzschirm der Nato nicht zu einem der ersten Ziele im Falle eines Atomkriegs werden?

Die Armee als sozialer Paternoster

ATATÜRKS Devise lautete „Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt“. Für die Offiziere, die sich daran noch gebunden fühlten, wurden die Probleme nicht kleiner, seit auch dem türkischen Militär die Doktrin der Militärakademie von West Point eingeimpft wurde: Bekämpfung innerer und äußerer Feinde in einer Welt permanenter Spannungen. Doch selbst nach vierzig Jahren enger Zusammenarbeit mit der Nato hält ein Teil des Offizierskorps an gewissen Traditionen fest. Wie wirksam dieses Erbe ist, zeigte sich etwa, als der Chef des Generalstabs, General Necip Torumtay, in einer kritischen Phase des Golfkriegs nicht bereit war, eine zweite Front gegen den Irak zu eröffnen. Obwohl durchaus proamerikanisch eingestellt, zog er es vor, auf dem Gipfel seiner Karriere den Abschied zu nehmen – aus Protest gegen die Verantwortungslosigkeit einer Zivilregierung, die sich zunehmend auf Fernsehreden beschränkte, und gegen einen Präsidenten Özal, der seine verfassungsmäßigen Rechte überschritt und öffentlich erklärte, der Irak werde bald zusammenbrechen und die Türkei könne davon erheblich profitieren. Man müsse sich jetzt engagieren, meinte Özal immer wieder, dann werde man „das Dreifache des Einsatzes“ gewinnen.

Als General Torumtay erfuhr, daß Washington die türkische Regierung mit dem Versprechen köderte, ihr die Kontrolle über die nordirakischen Ölgebiete zu überlassen, erläuterte er dem Präsidenten seine Vorbehalte: Die Sicherheit der Türkei sei rundum gefährdet, wenn ein erheblicher Teil der Streitkräfte in den Irak entsandt werde, um dort die „zweite Front“ zu eröffnen. Zudem wolle Washington der türkischen Armee offenbar eine neue Rolle zuweisen. Der Übergang von Verteidigungsaufgaben zu offensiven Einsätzen außerhalb der nationalen Grenzen sei aber mit den Grundprinzipien dieser Armee nicht zu vereinbaren – und er meinte damit offensichtlich die kemalistischen.

Sein Nachfolger, Generalstabschef Dogan Güres, war eher bereit, dem neuen, von Washington vorgegebenen Kurs zu folgen. Zunehmend wurden neue Angriffswaffen oder Systeme gekauft, die für Einsätze über große Entfernungen gedacht sind – etwa Flugzeuge, die sich in der Luft auftanken lassen. Kennzeichen für die neue Orientierung sind auch die Abkommen mit Albanien und Makedonien und die Entsendung von Militärberatern in diese Länder, aber auch die amerikanisch-türkisch-albanischen Manöver in der Adria, die nichts mit zu Nato-Aufgaben zu tun hatten. Auch die Operationen im Nordirak vom März 1995 lassen sich als erste praktische Einübung der neuen Rolle verstehen.

Es entspricht dieser Strategie, daß sich, im Rahmen der Operation „Provide Comfort“, Truppen des westlichen Bündnisses in der Südtürkei aufhalten. Ursprünglich hatte man sie auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert, um die Kurden zu schützen, die vor den Truppen Saddam Husseins flohen, aber inzwischen haben sie sich dort eingerichtet und es zu ihrer Aufgabe erklärt, das Gebiet nördlich des 36. Breitengrads zu überwachen. In Kreisen der türkischen Armee wird die fortdauernde Präsenz der „Provide Comfort“- Einheiten offen kritisiert.

Der Unmut wuchs, als der General der Gendarmerie Esref Bitlis am 17. Februar 1992 bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz in Südostanatolien ums Leben kam. Bitlis, einer der fähigsten und klügsten Offiziere seiner Generation, galt als Kandidat für das Amt des Generalstabschefs. Er trat für eine eigenständigere türkische Militärpolitik ein und machte keinen Hehl aus seiner Ablehnung der „Provide Comfort“-Operation; überdies hatte er Zweifel am harten Kurs gegen die Kurden geäußert. Die Art, wie die Untersuchung des Absturzes geführt wurde, hat zu anhaltenden Spekulationen Anlaß gegeben.

Ebenso seltsam erscheint ein weiterer Zwischenfall, der sich am 14. April 1994 ereignete: zwei Hubschrauber, die hohe US-amerikanische und türkische Militärs von einer Verhandlungsmission im Nordirak zurückbrachten, wurden von F-15-Jagdflugzeugen abgeschossen. Alle Maschinen waren mit hochmodernen elektronischen Erkennungssystemen amerikanischer Herkunft ausgerüstet – ein Identifikationsproblem war eigentlich auszuschließen. Im Untersuchungsbericht wurde als Ursache schließlich ein „Syndrom spontaner Mordlust“ der amerikanischen Piloten angeführt ...

Gleichzeitig vollzog sich ein Wandel des Feindbildes. Traditionell galten der Norden, der Nordosten und Thrakien (also die Grenze zu Griechenland) als mögliche Schauplätze militärischer Konfrontation. Doch nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die Gefahrenzone, aus Sicht der USA, nach Süden verlagert. Das beunruhigt die türkischen Militärstrategen, die davor warnen, das Gefahrenpotential der Kaukasusregion unterschätzen, wo die Russen ihre militärische Präsenz wieder zu verstärken begonnen haben. Die jüngste Entwicklung scheint ihnen recht zu geben: Der Kreml hat die im Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) vereinbarte Reduzierung der Waffensysteme an den Grenzen Rußlands inzwischen wieder in Frage gestellt. Aber wie viele denken noch wie der General Torumtay - in einer Armee, die gleichwohl ihre „kemalistische“ Ideologie noch immer pflegt, und sei es nur, um den Zusammenhalt der Institution zu festigen, deren Geschlossenheit in einer Zeit politischer Umwälzungen und ideologischer Spaltungen bedroht ist.

Im Grunde wurde der Keim der Veränderung bereits Ende der vierziger Jahre gelegt. Damals wurde eine neue Luftabwehrbrigade gebildet, im Koreakrieg kämpften dann türkische Bataillone unter US-amerikanischem Kommando, und im Laufe des folgenden Jahrzehnts entsandte das Pentagon rund zehntausend Militärberater. Türkische Offiziere wurden zu langen Schulungskursen in die USA geschickt, oder sie übernahmen hohe Funktionen im Nato-Hauptquartier in Brüssel (so auch General Torumtay); sie veranstalteten gemeinsame Manöver mit verschiedenen anderen Mitgliedsstaaten und nahmen im Rahmen internationaler Streitkräfte an Einsätzen wie etwa in Somalia oder in Bosnien teil.

Der Zugang zu den Militärakademien ist durch strenge Aufnahmeprüfungen geregelt. Geprüft werden die intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten der Kandidaten, aber man achtet auch auf die Herkunft, damit unter den Offizieren alle Provinzen vertreten sind. Die meisten Bewerber kommen aus einfachen Verhältnissen, für sie bedeutet die Militärlaufbahn die Chance, einen Beruf zu erlernen und sozial aufzusteigen.

Seit Anfang der siebziger Jahre wird bei der Ausbildung der Offiziersanwärter mehr Gewicht auf technische Kenntnisse und Fachwissen gelegt. In Sprachlabors, von denen die zivilen Oberschulen nur träumen können, lernen sie eine oder zwei Fremdsprachen; die höheren Ränge belegen neben ihrer militärischen Ausbildung Kurse des renommierten Polytechnikums von Ankara, einer Kaderschmiede der technischen Intelligenz. Nach wie vor herrscht jedoch preußische Disziplin.

Die Karrieresoldaten neuen Typs sind ebenso gut ausgebildet wie gebildet und beherrschen die „zivilen“ Umgangsformen. Sie sollen ein Vorbild für die gesamte Gesellschaft darstellen – aber sind sie wirklich beliebter und angesehener als die ältere Generation, die in ihren Persianermützen immer ein wenig ungehobelt wirkte? Die neue militärische Elite gibt sich unauffälliger, aber sie genießt offensichtlich nicht das Prestige ihrer Vorgänger. Man assoziiert sie eher mit der repressiven Politik von 1971 und 1980, und mit den Generälen, die sich bereichert haben oder sich für ihre treuen Dienste von den großen Firmen mit bequemen Direktorenposten versorgen ließen.

Schließlich hat General Memduh Tagmaç, der Generalstabschef von 1971, selbst erklärt, der damalige Staatsstreich habe zum Ziel gehabt, die sozialen Ansprüche einzudämmen, „die der wirtschaftlichen Entwicklung nicht angemessen waren“. Mit anderen Worten: Es ging darum, die Arbeiterbewegung zu zähmen, die mit dem mächtigen Gewerkschaftsverband DISK im Rücken einen größeren Anteil am wirtschaftlichen Reichtum forderte. Und es ging darum, ihre politische Vertretung, die Türkische Arbeiterpartei (TIP), zu verbieten, die sich auf den „wissenschaftlichen Sozialismus“ berief. Sie zählte damals immerhin eine halbe Million Anhänger und war mit fünfzehn Abgeordneten im Parlament vertreten.

Daß Behice Boran, die Vorsitzende der Partei, zusammen mit zahlreichen Gewerkschaftern und Intellektuellen ins Gefängnis gesteckt wurde, hat das öffentliche Bewußtsein geprägt. Auch die drei Führer linker Jugendorganisationen, die damals an den Galgen kamen, sind nicht vergessen: Sie werden als legendäre Volkshelden verehrt, als ehrenwerte Banditen in der Tradition der Auflehnung gegen die ungerechte Herrschaft. Der Bruch zwischen Militär und Zivilbevölkerung vollzog sich schließlich mit dem Putsch von General Kenan Evren im Jahre 1980.

Ein militärisch-industrieller Komplex

DIESE Entwicklung hat auch damit zu tun, daß die Armee mit ihren rund 500000 Mann (davon mehr als 400000 Wehrpflichtige) sich inzwischen als Wirtschaftsunternehmen betätigt. In den letzten 20 Jahre ist ein militärisch-industrieller Komplex entstanden, der die Streitkräfte heute zu einer der drei stärksten Unternehmensgruppen des Landes macht. Da ist zum Beispiel der Hilfsfonds OYAK, der 1961 von der Regierung Inönü gegründet wurde, um die Lebensbedingungen der Militärangehörigen zu verbessern. Ursprünglich handelte es sich um eine bescheidene Solidaritätseinrichtung, die von den Beiträgen ihrer Mitglieder lebte und günstige Darlehen vermittelte, bei der Wohnungssuche half und in eigenen Einkaufszentren verbilligte Produkte anbot. Die Mitglieder führen auch heute noch 10 Prozent ihres Soldes ab, doch inzwischen ist OYAK ein gewaltiges Unternehmen mit einem Umsatz von umgerechnet fast 6 Milliarden Mark (1994).2

OYAK hält einen Aktienanteil von 49 Prozent an den türkischen Autofabriken von Renault und von 80 Prozent an der Vertriebsgesellschaft Renault-MAIS, ist der größte Zementhersteller des Landes und engagiert sich auf vielfältige Weise in der Landwirtschaft und in der Nahrungsmittelbranche, in Hochbau und Tourismus, im Versicherungs- und Bankwesen. Zur Zeit verhandelt man mit ausländischen Investoren über den Bau eines Wärmekraftwerks und eines Hafens, außerdem willman ein Stahlwerk erwerben.

Der Hochschullehrer Zafer Uskül umschreibt die Lage so: „Sie sind für die Landesverteidigung zuständig, aber zugleich haben sie gemeinsam mit ausländischen Geschäftspartnern erhebliche Gelder investiert. Natürlich ist ihnen an Verhältnissen gelegen, unter denen sich diese Investitionen gut amortisieren.“

Die kemalistische Ideologie stört nur bei dieser neuen ultraliberalen Orientierung der Türkei, die von Turgut Özal im Schulterschluß mit der Weltbank betrieben wurde. Also mußte sie zunächst diskreditiert werden – das geschah durch ehemaligen Generalstabschef, der sich zum Staatspräsidenten machte ... General Kenan Evren verriet, wissentlich oder nicht, das kemalistische Erbe, als er sich auf Kemal Atatürk berief, um eine Politik der Repression zu rechtfertigen.

Inzwischen hält auch ein Teil der Intelligenz den Kemalismus für überholt: Er verstelle den Weg in eine zivile Gesellschaft, heißt es. Man spricht von einer „Zweiten Republik“, die sich aus dem „engen Korsett des Kemalismus“ befreien müsse, um sich mit der (osmanischen) Geschichte des Landes zu versöhnen und gegenüber dem politischen Islam zu öffnen.

Diesen Weg verfolgten sowohl die Putschisten als auch Turgut Özal. Die Generäle sahen zu, wie Koranschulen, islamische Bruderschaften und religiöse Lehreinrichtungen entstanden, wie deren Absolventen Zugang zur Universität erhielten. Und sogar in die Verwaltungshochschule aufgenommen wurden, was den Islamisten einmal die Unterwanderung des Staatsapparats erleichtern wird, weil aus dieser Hochschule die Provinzpräfekten hervorgehen. Özal betrieb unterdessen die Politik der wirtschaftlichen Öffnung – er führte die Türkei ins Zeitalter der Globalisierung. Da wirtschaftliche und politische Öffnung allerdings selten zusammenfallen, hat Özal das berüchtigte Antiterrorgesetz unterzeichnet. Unter seiner Präsidentschaft strömte aber auch das saudische Kapital ins Land, das die Aktivitäten und Einrichtungen der Islamisten finanziert.

Ausgerechnet nach dem Sieg der Refah-Partei bei den Kommunalwahlen im März 1994 bekam der Kemalismus wieder etwas Auftrieb: Selbst in eher unpolitischen Kreisen berief man sich plötzlich auf die Ideen Atatürks, weil man wohl spürte, daß der Laizismus und die bürgerlichen Freiheiten gefährdet waren. Im übrigen hat die Gesellschaft offenbar begriffen, daß die Rettung nicht von der Armee kommen kann – auch wenn in ihr die Kemalisten wieder die Oberhand zu haben scheinen, nachdem General Dogan Güres (der enge Berater von Tansu Çiller) 1994 aus dem Generalstab ausgeschieden ist und einige Anhänger mit in den Ruhestand genommen hat.

Das Militär bewahrt trotz aller Erschütterungen seinen institutionellen Zusammenhalt und grenzt sich gegen alle für extremistisch gehaltenen Strömungen ab. Weder der Linken noch den Islamisten ist es gelungen, einen Fuß in das Militär hineinzukriegen. Am 11. Dezember wurden 43 zumeist junge Offiziere aus der Armee ausgeschlossen, weil sie mit einer einflußreichen islamistischen Bruderschaft in Verbindung standen; damit mußten in den letzten Jahren über 300 Mann den Dienst quittieren.4

Daß diese Säuberungen über die Bühne gingen, obwohl Ministerpräsidentin Çiller zu vermitteln suchte, macht deutlich, wie empfindlich die Armee auf den Vormarsch der Islamisten reagiert: Diese Entwicklung bedroht die Grundlagen der Republik, zu deren Verteidigung sie sich berufen fühlt. Und so dürften viele Militärs nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, wie sich die Politiker in der Öffentlichkeit auf den Koran berufen und sich für ihre religiösen Phrasen beklatschen lassen, wie sie die Gläubigkeit der Menschen für ihre Ziele ausnutzen und sich gleichzeitig an die Vorstellung klammern, daß „die Armee einen Staat, der auf die Scharia gegründet ist, niemals zulassen wird.“

„Wir wollen nicht ständig die Dreckarbeit machen und uns dann noch vorwerfen lassen, wir seien dabei nicht sanft genug vorgegangen“, lautet der bittere Kommentar eines Obersten. „Soll doch der Verfassungsgerichtshof einschreiten, wenn die Refah die Scharia zum Gesetz machen will.“

Auch in der Kurdenfrage zeigt sich die Staatsmacht hilflos. Bereits 1993 hatte der höchste Repräsentant der Armee klargemacht, daß die Streitkräfte nichts gegen eine „politische Lösung“ hätten. Für die anhaltenden Untätigkeit der zivilen Macht gab es damit keine Entschuldigung mehr, aber um zu einer „politischen Lösung“ zu kommen, hätte das Parlament sich einigen und dann handeln müssen. Das aber ist bis heute nicht geschehen. Der einzige parlamentarische Vorstoß war der „Kurdenbericht“, den die Sozialdemokraten 1990 vorlegten – er stieß auf den erbitterten Widerstand des Staatspräsidenten Özal (der sich gleichzeitig seiner kurdischen Abstammung rühmte). Özals Mutterlandspartei (ANAP) ging sogar soweit, die Verfasser des Berichtes als „Separatisten“ zu denunzieren.

Selbst der berühmte Brief, in dem Özal kurz vor seinem Tod im Februar 1993 den Premierminister Demirel aufforderte, das Problem endlich gründlich zu analysieren, enthält noch den Vorschlag, „20 gepanzerte Hubschrauber vom Typ Cobra und wenigstens 20 bis 30 Sikorsky-Helikopter zu kaufen, die Truppen und schwere Waffen transportieren können.“ Und es war derselbe Turgut Özal, der 1987 die speziellen Eingreiftruppen (Milizen) schuf, die bis heute das größte Hindernis für eine Normalisierung in der Region darstellen und die manchmal sogar mit der Armee aneinandergeraten.

„Die politische Planung ist nicht Sache der Armeeführung“, meint ein Oberstleutnant, nachdem er sich über den „Scheißjob“ beschwert hat, den die Armee in der verfahrenen Situation erledigen soll. „Die Armeeführung hat die Aufgabe, eine Strategie zur Durchsetzung vorgegebener Ziele zu entwickeln. Aber die Zivilisten schieben die ganze Verantwortung auf das Militär. Und dann beklagen sie sich über den Nationalen Sicherheitsrat (der dem Ministerpräsidenten untersteht) und seine Einflußnahme. Dabei könnten sie selber durch das Parlament seine Auflösung beschließen.“

Die Politiker neigen immer noch dazu, sich bei ihren eigenen Machtspielchen auf das Militär zu berufen. So hat Mesut Yilmaz unlängst seine Kontaktgespräche mit den Islamisten unter Berufung auf „Druck von seiten des Militärs“ abgebrochen. Doch die Offiziere haben ihre Lehren aus der Vergangenheit gezogen: Präsident der Republik ist heute wieder Süleyman Demirel – der Mann, den sie bereits zweimal gestürzt haben.

dt. Edgar Peinelt

1 Ohne Rücksprache mit der Regierung in Ankara sagten die USA damals der Sowjetunion zu, daß sie, als Gegenleistung für den Abzug der russischen Raketen von Kuba, ihre Raketenstützpunkte in der Türkei abbauen würden.

2 Diese Zahl nannte Fuat Avci, der Generaldirektor der OYAK, in einem Interview mit der Tageszeitung Türkiye, am 18. Juni 1995.

3 Zitiert nach der Wochenzeitschrift Newroz (Istanbul), 29. Oktober 1994.

4 Celestine Bohlen, „Islam: A Sore Spot for Turkish Army“, International Herald Tribune, 2. April 1996.

* Journalistin

Le Monde diplomatique vom 14.06.1996, von Nur Dolay