14.06.1996

Boulevard der Intoleranz — Frankreich entdeckt den Fremdenhaß

zurück

Boulevard der Intoleranz — Frankreich entdeckt den Fremdenhaß

OFFENSICHTLICH können derzeit nur Hungerstreiks, Kirchenbesetzungen, der Druck breiter Aktionsbündnisse sowie öffentliche Demonstrationen die französischen Behörden dazu bewegen, die persönliche Situation eines Ausländers im Einzelfall zu überprüfen. Normalerweise wird er gleich abgeschoben; momentan finden monatlich rund tausend solcher Verfahren statt. Die französische Regierung hat die schärfsten Einwanderungskontrollen aller EU-Staaten eingeführt und reagiert unter dem Druck anstehender Wahlen immer stärker auf die fremdenfeindlichen Impulse einer krisengeschüttelten Gesellschaft. Die läßt immer mehr Menschen, nachdem sie zunächst ausgeschlossen wurden, nunmehr kriminalisieren und gerichtlich verfolgen.

Von CHRISTIAN DE BRIE

Also hatten Le Pen und die Front National doch recht. Seit Jahren prangern sie unentwegt die Bedrohung an, die jene „unerwünschten Immigranten“ für Frankreich darstellten, weil sie „uns ein Vermögen kosten“, „die Sozialversicherung ruinieren“, „den Franzosen die Arbeit wegnehmen“, „Städte und Dörfer in Beschlag nehmen“, „die Gefängnisse überfüllen, vergewaltigen und morden“, weshalb man „schnell handeln“ müsse, „solange noch Zeit ist“.1

Nur wenig nuancierter artikulieren sich die parlamentarische Mehrheit und ihre Vertreter in einer Reihe von jüngst veröffentlichten Berichten. Seit den Parlamentswahlen vom März 1993 hatte diese Mehrheit – eine der konservativsten in der gesamten Geschichte der französischen Republik2 – schon häufig Gelegenheit, ihren Fremdenhaß zu artikulieren, nicht zuletzt bei der Verabschiedung der nach dem damaligen Innenminister Pasqua benannten Gesetze.3 Jetzt ist jedoch in den Manifestationen ihres Sicherheitsfanatismus und Unterdrückungswahns gegenüber den Einwanderern ein neuer Abschnitt eröffnet, und der führt, nach Ansicht des sachkundigen Führers der Rechtsradikalen, „unzweifelhaft in die richtige Richtung“.

Was die parlamentarische Mehrheit zu diesem Thema von sich gibt, stinkt derart zum Himmel, daß sich viele Fraktionsmitglieder mit Grausen abwenden. Vorläufig distanzierte sich die Regierung zwar von solchen Äußerungen, doch gleichzeitig lanciert sie eine Reihe von Gesetzesvorlagen, die im gleichen Geiste formuliert sind. Welche Ziele die jetzige Mehrheit auch immer verfolgt, die vorgeschlagenen Maßnahmen beschleunigen eine Entwicklung, die dem vagabundierenden Fremdenhaß eine regelrechte Prachtstraße baut. Und es ist unschwer zu ahnen, wer diese Straße am stärksten frequentieren wird, falls sich kein breiter Widerstand organisiert.

Am 9. April 1996 unterbreiteten die Abgeordneten Jean-Pierre Philibert (Republikanische Partei, PR) und Suzanne Sauvaigo (Rassemblement pour la République, RPR) dem Präsidenten der Nationalversammlung den Bericht eines sechs Monate zuvor konstituierten parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Thema illegale Einwanderung und unrechtmäßiger Aufenthalt von Ausländern in Frankreich.4 Die Abgeordneten schlagen darin einen schier unglaublichen Katalog von 46 ausschließlich repressiven Maßnahmen vor: systematische Erfassung der Fingerabdrücke aller ausländischen Besucher, polizeiliche Erfassung der sie beherbergenden Personen, Verlängerung des vorläufigen Gewahrsams auf bis zu 45 Tage und andere mehr. Selbst die grundlegenden Verfassungsrechte werden in Frage gestellt: Das Recht auf medizinische Versorgung soll für alle sich illegal im Lande aufhaltenden Ausländer auf notärztliche Dienste reduziert werde; das Recht auf Ausbildung soll Kindern verwehrt werden, deren Eltern nicht legal im Lande weilen; der Schutz Minderjähriger soll im Fall straffälliger ausländischer Kinder aufgehoben werden, um damit den Weg zu ihrer Abschiebung freizumachen.

Der geplante Kahlschlag in den Freiheitsrechten, der die Rechte der illegalen und legalen Einwanderer wie auch die der Franzosen betrifft, ist ebenso erschreckend wie das offensichtliche Ressentiment gegenüber der angeblichen Laxheit der Richter bis hin zum Verfassungsgericht. Die auch vom Ausschußvorsitzenden Philibert dramatisierte Dringlichkeit wird zudem in einer Tonart vorgetragen, die von repressivem Übereifer zeugt.5

Hilfeleistung – eine Straftat

DIE bei der Befragung insbesondere der Vertreter von Menschenrechtsorganisationen in den Ausschuß- Hearings6 zutage getretene Aggressivität äußerte sich etwa in dem Argwohn, daß die Einwanderer „einzig und allein nach Frankreich kommen, damit ihre hier geborenen Kinder eines Tages die französische Staatsbürgerschaft bekommen können“. Das ist in der Tat ein unverzeihliches Verbrechen, gegen das die Kommission zu ihrem großen Bedauern keine Handhabe finden konnte. Man bedauerte auch, daß die Präfekten nicht überprüfen können, ob die ausländischen Studenten „wirklich“ ihr Studium absolvieren, und erst recht nicht, wie „ernsthaft“ sie dieses tun. Also sollte die Polizei wohl am besten ihre akademischen Kenntnisse überprüfen. Die Kommission findet es auch ungünstig, daß Ausländer einfach so eine Ehe eingehen können, ohne daß der Standesbeamte, als eine Art öffentlicher Ehezensor, kontrollieren könnte, ob der Schritt auch angemessen ist. Der Bericht geht sogar noch weiter: Er erörtert die Schwierigkeit, ein „äußeres Kennzeichen des Ausländerstatus“ einzuführen, das die Kontrolle von in Frankreich lebenden oder reisenden Ausländern ermöglichen würde. Man kann sich ausmalen, wieviel leichter die Arbeit der Polizei und der Zollbehörde wie auch von Denunzianten aus der Bevölkerung würde, wenn der „Ausländerstatus“ durch die Bestimmung auffälliger morphologischer Merkmale näher bestimmt wäre und man das Tragen eines Abzeichens sowie eines computerlesbaren Codes zur Pflicht machen könnte.

Gleichzeitig unterbreitete ein anderer Abgeordneter der Regierungsmehrheit namens Henri Cuq (RPR) dem Ministerpräsidenten einen Bericht zur Situation in den Ausländerwohnheimen. Darin werden die dort lebenden ausländischen Arbeiter beschuldigt, sich nach Ethnien getrennt in „Gemeinschaftsdörfern“ zusammenzuschließen und „parallelwirtschaftliche Systeme“ zu organisieren, die unter anderem handwerkliche Aktivitäten, die Lieferung von billigen Speisen und Kleidern und den Nachweis von günstigen Betten und Mieten einschließen, sich also „regelrechte Situationsvorteile verschaffen“.7 Jeder wird einsehen, daß unsere nationale Wirtschaft einer solchen Konkurrenz auf Dauer nicht gewachsen wäre, daß die Zusammenrottung von Leuten aus dem gleichen Dorf eine unzumutbare Verletzung des republikanischen Integrationsmodells ist und daß kaum jemand die Frage von „Situatonsvorteilen“ auf dem Wohnungsmarkt besser beurteilen könnte als unser Premierminister Juppé8. Neben dem Abriß etlicher Wohnheime werden folgende dringliche Maßnahmen angeregt: Verbot jedweder informeller wirtschaftlicher Tätigkeit, verstärkte Kontrollen (Pförtner, Gucklöcher, Kameras ...), besondere Arrestzentren, um die „systematische“ Abschiebung der illegalen Heimbewohner zu beschleunigen.

Im selben April erfolgte der nächste Schritt mit der Veröffentlichung des Berichts des parlamentarischen Untersuchungsausschusses über Hinterziehung und Mißbrauch9, verfaßt von den Abgeordneten Gérard Leonard (RPR) und Charles de Courson (Union pour la démocratie française, UDF). Der Bericht enthüllt Unglaubliches: Entgegen einer weitverbreiteten Meinung sei die in Frankreich häufigste Hinterziehungsart, die den Staat am teuersten zu stehen komme, nicht der Steuerbetrug. Auch Steuerhinterziehung komme vor, gewiß, doch sie sei weitaus geringer – allenfalls ein Drittel oder Viertel des bislang geschätzten Umfanges. Der Großteil der Hinterziehungen – zwei Drittel – resultiere aus Schwarzarbeit ..., deren erste Nutznießer die Ausländer seien.

Wer im Visier ist, steht also fest: „höchste Priorität“ hat die Jagd auf Ausländer, deren Papiere nicht in Ordnung sind. Schwarzarbeit und illegale Einwanderung machen den Großteil des Berichts aus, dessen voreingenommener und verbissener Ton und die mangelnde Ernsthaftigkeit ebenso enthüllend sind wie seine seichten analytischen Methoden.

Die beiden Berichterstatter scheinen die Anzahl ausländischer Arbeiter ohne reguläre Papiere, die allen Schätzungen von Hinterziehungen zugrunde liegt, genauestens zu kennen. Da wundert man sich, daß sie der Polizei noch keine Namensliste übergeben haben.

Die Briefkastenfirmen und obskuren Konten in den Steuerparadiesen können dagegen weiter unbehelligt für ihre Kunden aus Unternehmer- und Politikerkreisen arbeiten und ihnen mit Gewinntransfers, Geldwäsche und gefälschten Rechnungen dienen. Auch die großen Gauner der Immobilienspekulation – Banken, Versicherungen, Baulöwen, die in den letzten paar Jahren etwa 300 Milliarden Franc unterschlagen haben – werden gewiß mit Freuden erfahren, daß die wahren Schuldigen die ausländischen Schwarzarbeiter sind, die von ihren Vertragsfirmen auf den Baustellen zu Hungerlöhnen beschäftigt werden.

Zwar ist es gewiß undenkbar, daß die Vorschläge dieser Berichte in der jetzigen Form umgesetzt werden. Doch der Weg ist geebnet, ein neuer Schritt in Richtung Fremdenhaß vollzogen, und zwar ausgerechnet durch die Volksvertreter. Hinter verschlossenen Türen kalkuliert die Regierung die voraussehbaren Reaktionen, bevor sie ihre bereits feststehenden Pläne auspackt.

So steht für den Sommer eine Gesetzgebung ins Haus, die das bereits äußerst repressive Repertoire der Pasqua-Gesetze durch die Übernahme bestimmter Vorschläge der Philibert-Sauvaigo-Kommission noch verschärfen wird. Inzwischen hat der in den Ausschüssen liegende Gesetzentwurf von Justizminister Toubon zur Terrorismusbekämpfung einen neuen Begriff geprägt: „Hilfeleistung zum unrechtmäßigen Aufenthalt eines Ausländers“. Dieses Delikt soll fortan strafrechtlich verfolgbar sein, wobei auch noch die Familienmitglieder eines Betroffenen haftbar gemacht werden können. Familie und Freunde eines Ausländers ohne gültige Papiere werden auf diese Weise entweder zu Denunzianten oder zu Komplizen, die sich des Delikts der Hilfeleistung und der Solidarität schuldig machen. Seit der Vichy-Zeit ist kein ähnlich widerlicher Gesetzesmechanismus erfunden worden.

Der Gesetzentwurf über jugendliche Straftäter unterwirft diese nunmehr einer Prozedur der „kurzfristigen Vorführung“, die stark an die Prozedur bei „In-flagranti- Delikten“ erinnert (unmittelbare Vorführung), die zahlreiche Abgeordnete auch für Minderjährige einführen wollten. Eine neue Bestimmung über Bürger ohne festen Wohnsitz nimmt zwar die Zigeuner aus, doch immer mehr Bürgermeister gehen mit der Zeit und erlassen Verordnungen, die – Reichen wie Armen – das Betteln mit Hunden oder den längeren Aufenthalt in Parkanlagen oder auf der Straße verbieten.

Verschärfte Kontrollen, schrittweise Vernetzung

FRANKREICH verfügt bereits über ein beeindruckendes Arsenal an Strafmaßnahmen. In den letzten zehn Jahren hat ein Dutzend neuer Gesetze die aggressive Haltung gegen die Einwanderung verstärkt: Die Gesetze vom Juli 1984 begrenzen die Familienzusammenführung und die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Sie enthalten auch eine Wartezeit von sechs Monaten zwischen dem Datum der Heirat und der Erlangung der Staatsbürgerschaft durch den ausländischen Ehepartner. Die Pasqua-Gesetze vom September 1986 verschärfen die Formalitäten insbesondere zum Erhalt eines Einreisevisums. Gleichzeitig wird die Abschiebung durch unmittelbare Rückführung über die Grenze im Fall einer Ordnungswidrigkeit beschleunigt. Die Wartezeit bis zur Einbürgerung nach der Heirat wird auf ein Jahr verlängert. Die Gesetze vom Dezember 1991 und Februar 1992 bestrafen die Arbeitgeber und Vermittler illegaler Fremdarbeiter. Das Gesetz vom Juli 1993 verändert den Staatsbürgerstatus der in Frankreich geborenen Kinder ausländischer Eltern und verlängert die Wartezeit bis zur Einbürgerung nach der Eheschließung auf zwei Jahre. Die Pasqua- Gesetze vom August 1993 verschärfen die Identitätskontrollen, schränken die Familienzusammenführung noch weiter ein und erschweren die Bedingungen zur Erlangung des Asylbewerberstatus. Das Gesetz vom Dezember 1994 schafft Wartezentren für Ausländer im Bereich von Häfen und internationalen Flughäfen. Dazu kommen die Maßnahmen des Schengener Abkommens, das von sieben EU-Ländern unterzeichnet wurde (Frankreich, Deutschland, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Spanien, Portugal). Das Abkommen installiert ein gemeinsames System der Eintritts- und Aufenthaltskontrolle für Ausländer. Das Maß ist voll.

Die Gesetzgebung enthüllt überdies nur zum Teil das Ausmaß der Maßnahmen und Praktiken, die unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die Einwanderung die Freiheiten aller Bürger einschränken. Dazu trägt insbesondere eine ständig intensivierte polizeiliche Zusammenarbeit bei – auf nationaler Ebene zwischen der Zentraldirektion zur Kontrolle der illegalen Einwanderung und zur Bekämpfung der Beschäftigung von illegalen Fremdarbeitern (Dicilec)10 sowie dem Zoll und der Gendarmerie; und auf europäischer Ebene durch die schrittweise Vernetzung einer systematischen Personenerfassung in den Bereichen Einwanderung, Asyl, Drogen und Kriminalität. Es ist bezeichnend, daß diese Probleme alle in einen Topf geworfen werden. Von der Ende März in Turin eröffneten EU-Regierungskonferenz zur Schaffung eines „gemeinsamen Sicherheitsraums“ werden sie als ein Block behandelt. Damit sind wir eher auf dem Weg zu einem Europa des big brother als zu einem Europa der Freiheiten.

Die wiederholten Vorschläge zur Schaffung von Computerkarteien sind ein sicherer Indikator für freiheitseinschränkende Vorhaben. Deshalb wundert es kaum, daß die oben erwähnten Abgeordneten der verschiedenen Untersuchungsausschüsse eine Reihe neuer Karteien einführen wollen: eine Kartei der Asylbewerber, eine der Gastgeber von Ausländern, eine europäische Kartei gefälschter Personalpapiere –, während sie gleichzeitig für Polizei und Gendarmerie die Karteien der Asylbewerberbehörde Office français de protection des refugiés et apatrides (Ofpra) zugänglich machen wollen, und vor allem die Computerdatei der Fingerabdrücke. Diese Informationsquellen ergänzen die bereits bestehenden: die Verwaltungskartei der Ausländer in Frankreich (AGDREF), die Fahndungskartei (FPR), die automatisierte Kartei der Fingerabdrücke (FAED), die digitalisierte Personalausweiskartei, das digitalisierte System der Visaerfassung, das internationale Verzeichnis der Visumsanträge (RMV), die Eurodac-Kartei, das Computersystem zur Erfassung der Pässe, die Verwaltungskartei der Berufungsverfahren von Flüchtlingen (Sagrer), das Schengener Informationssystem (SIS) ...

Man fragt sich, wie ein Ausländer oder irgend jemand sonst sich ohne gültige Papiere überhaupt noch bewegen kann, bedenkt man dazu noch alle anderen eingesetzten Mittel wie zum Beispiel das wildwuchernde Telefonabhörsystem – mehr als 100000 angezapfte Leitungen pro Jahr nach Angaben der Nationalen Kommission zur Kontrolle der Sicherheitsüberwachungen (CNCIS)11 – oder die Schaffung neuer Polizeibehörden, die von den gewonnenen Erfahrungen profitieren. So wurden der Antikriminalitätsbrigade (BAC) ihre vorsintflutlichen Gummiknüppel durch Luftgewehre mit Gummimunition ersetzt; deren durchschlagende Wirkung bekamen während der Intifada bereits die palästinensischen Kinder zu spüren, die durch sie verkrüppelt wurden oder schwere Hirntraumata erlitten.

Nur ignorante Schwätzer können leugnen, daß Frankreich gemeinsam mit seinen europäischen Partnern bereits seit 1974, seit mehr als zwanzig Jahren, seine Grenzen für Einwanderer dicht gemacht hat. Jenseits bestimmter Formen der Familienzusammenführung oder der Erlangung eines provisorischen Flüchtlingsstatus gibt es für einen Ausländer aus einem sogenannten sensiblen Land – so nennt man scheinheilig die armen Länder – praktisch keine Möglichkeit mehr, sich auf Dauer in Frankreich niederzulassen. Eine bemerkenswerte Ausnahme bilden eine Reihe von Despoten samt ihrer Familien, die mit offenen Armen empfangen werden.

Abschiebung des Asylrechts

WÄHREND die Möglichkeiten der Familienzusammenführung immer geringer werden – 20000 Einreisen im Jahr 1994 –, ist das Asylrecht faktisch bereits abgeschafft und die französische Tradition der Aufnahme politischer Flüchtlinge nur noch Legende. Es gibt 23 Millionen Flüchtlinge auf der Welt. Würde man sie auf die verschiedenen Länder im Verhältnis zu deren Bevölkerungsgröße verteilen, müßte Frankreich 230000 Flüchtlinge aufnehmen. Würde man sie analog zum jeweiligen Bruttosozialprodukt verteilen, müßten wir mindestens eine Million Menschen beherbergen. Tatsächlich aufgenommen hat Frankreich im letzten Jahr ganze 4600 Asylanten. Und es werden jedes Jahr weniger. Dadurch sinkt natürlich die Zahl der Anträge: 1994 stellten 25000 Flüchtlinge einen Antrag (doppelt so viele waren es in Holland, 127000 in Deutschland). 1990 waren es noch 55000 (193000 in Deutschland).12 In der traditionellen Heimat des Asylrechts praktiziert man eine wahre Antiflüchtlingspolitik: unauffällige Abschiebung über unsere Grenzen.

In Frankreich sind 3,6 Millionen Ausländer als Einwohner registriert, davon stammen 1,3 Millionen aus den EU-Ländern und 1,6 Millionen aus Nord- und Schwarzafrika. Man kann wahrlich nicht behaupten, daß sich „hier das ganze Elend der Welt sammelt“. Auch auf europäischer Ebene stimmt dieses Bild nicht: Auf 343 Millionen Einwohner kommen im Europa der Zwölf 10 Millionen Ausländer.13 Es gibt nicht die geringste Gefahr einer „Invasion“. Die einzige Schwelle, die in Europa jemals überschritten wurde, ist die der Intoleranz.

Angesichts dessen bleibt zur Rechtfertigung der Fremdenfeindlichkeit nur noch die illegale Einwanderung, die sich dafür um so besser eignet, als niemand – außer unseren missionarischen Hellsehern, den Abgeordneten de Courson und Leonard – ihren wahren Umfang kennt. Nach Angaben des Leiters der Abteilung Bevölkerung und Migration beim Ministerium für Stadtentwicklung und Integration schwanken die Schätzungen zwischen 50000 und 1 Million, und es sei nicht möglich, sich genauer festzulegen.14 Fest steht nur, daß es offensichtlich immer noch zu wenige illegale Einwanderer gibt, denn die Ausländergesetze tun alles, um ihre Zahl zu vermehren, indem sie zum Beispiel immer mehr ausländische Eltern französischer Kinder zur Abschiebung verdammen, ohne daß sie ihren Status legalisieren könnten.15

In Frankreich reisen jährlich etwa 300 Millionen Menschen auf dem Luft-, Land- oder Seeweg ein und aus. Es gibt 600 internationale Flughäfen und eine 7660 Kilometer lange Grenze. Es ist lächerlich, so zu tun, als könnte eine ständige Verschärfung der Polizeikontrollen ohne Verletzung der staatsbürgerlichen Freiheiten eine illegale Einwanderung völlig verhindern, deren Umfang wir nicht einmal bestimmen können. Es ist natürlich weitaus schwieriger, seine Wahlversprechen einzuhalten und den Ursachen dieser Situation zu Leibe zu rücken: der Unterentwicklung und ungleichen Verteilung der Reichtümer im Süden, der chronischen Arbeitslosigkeit und dem immer weiter sinkenden Einkommen der hiesigen Arbeitslosen. Denn es sind ja nicht nur die illegalen Einwanderer, die schwarz arbeiten. Und zwar aus gutem Grund: „Zwei Drittel derer, die Arbeitslosengeld beziehen, erhalten weniger als 4000 Franc im Monat. Ein Drittel bekommt sogar weniger als 3000 Franc. Vom Mindestgehalt für Einsteiger in die Arbeitswelt [Revenu Minimum d'Insertion – RMI] ganz zu schweigen! Es ist etwas beschämend, wenn Überprivilegierte ein großes Geschrei darüber anstimmen, daß solche Arbeitslosengeld- und Sozialhilfeempfänger ab und zu schwarz arbeiten!“16 Vielleicht will die politische Rechte die Probleme regeln, ohne dafür bezahlen zu müssen. So hat sie zum Beispiel das Geld für ein groß als soziale Maßnahme angekündigtes Notprogramm zur Unterbringung von Obdachlosen aus dem Topf zur Finanzierung der Ausländerwohnheime genommen. Das ist offenbar ihre Methode: Man greift auf der einen Seite den Armen in die Tasche, um damit auf der anderen Seite andere Arme zu unterstützen.17

Der Motor zur Stigmatisierung der Opfer, zur Produktion von Illegalen, zur Kriminalisierung der Armen, die bald als Sündenböcke der Republik dienen sollen, läuft bereits rund und wird demnächst auf volle Touren kommen. Manche sind derzeit etwas zu überschwenglich im Vorgriff auf eine deutlich absehbare Zukunft, wenn sie etwa mitten in Paris auf der Straße einen Obdachlosen verbrennen oder einen jungen Marokkaner in der Seine ertränken. Die nationale Beratungskommission über die Situation der Menschenrechte hat zwar für 1995 einen quantitativen Rückgang rassistischer Aktionen festgestellt. Sie hat aber auch bemerkt, daß diese Handlungen immer schwerwiegender werden und zum Tod von sechs Menschen geführt haben.18

Viele Abgeordnete der politischen Rechten fürchten um ihren Sitz bei den Wahlen von 1998, da die Front National in ihren Bezirken an Einfluß gewinnt. Es sind genau solche Abgeordnete, die sich bemühen, die Rechtsradikalen mit noch schärferen repressiven Maßnahmen zu überholen. Doch Bewegungsfreiheit und Aufenthaltsrecht stellen, wie alle anderen Freiheiten, in einer Demokratie grundlegende Rechte dar – und nicht von der Macht zugestandene Privilegien, die man einfach verschachern kann, damit ein paar politische Honoratioren überleben. Das Parlament und die Regierung haben den Auftrag, die ungehinderte Ausübung dieser Freiheiten zu schützen; die Bestrafung von Mißbräuchen, die gegen die Freiheit der anderen oder die öffentliche Ordnung verstoßen, ist Aufgabe der Gerichte. Eine Gesetzgebung, die die Ordnung über die Freiheit stellt und präventive Polizeikontrollen über die Rechtswegegarantie, ist antidemokratisch; sie muß entschlossen bekämpft werden.

dt. Christiane Kayser

1 Rede von Le Pen in der Mutualité (Paris) am 13. April 1996.

2 Die politische Rechte verfügt über 480 von 577 Abgeordnetensitzen.

3 Siehe Le Monde diplomatique, Mai und Juli 1993, Dezember 1994, Oktober 1995; sowie „Le temps des exclusions“, Manière de voir, Nr. 20, November 1993.

4 „Immigration clandestine et séjour irrégulier d'étrangers en France“, Untersuchungsausschuß der Nationalversammlung, Bericht Nr. 2679.

5 Le Monde, 17. April 1996.

6 Insbesondere bei der Befragung von Danièle Lochak, der Vorsitzenden des Groupe d'information et de soutien des travailleurs immigrés (Gisti).

7 Le Monde, 11. April 1996.

8 Juppé und seine Familie sind als Nutznießer in den Wohnungs- und Mietskandal der Pariser Stadtverwaltung verwickelt. (Anm. d. Übers.)

9 „Rapport de mission parlementaire sur les fraudes et les pratiques abusives“, April 1996.

10 Vormals Police de l'air et des frontières (PAF).

11 Le Monde, 29. März 1996.

12 Ofpra, zit. im Bericht Philibert-Sauvaigo.

13 Eurostat, Europäische Gemeinschaft, Brüssel, Juni 1993.

14 Bericht Philibert-Sauvaigo, op. cit.

15 Le Monde, 17. April 1996.

16 Jean-Jacques Dupeyroux, „Indifférence et xénophobie“, Libération, 9. Mai 1996.

17 „Situation et devenir des foyers de travailleurs immigrés“, Bericht an den Premierminister von Henri Cuq, April 1996.

18 „La lutte contre le racisme et la xénophobie, Commission consultative des droits de l'homme“, Bericht 1995, Paris (La Documentation française) 1996.

Le Monde diplomatique vom 14.06.1996, von Christian de Brie