Serbiens Machthaber und die Schrecken des Friedens
EINEM von der New York Times veröffentlichten Geheimbericht zufolge schätzen die US-amerikanischen Nachrichtendienste die Chancen für die Bildung eines multiethnischen bosnischen Einheitsstaates äußerst pessimistisch ein. Von den beiden Grundkonzepten, die dem Dayton-Abkommen zugrunde liegen – Vereinigung oder Teilung – scheint sich nun das zweite durchsetzen.
Keines der von den Unterhändlern im Dezember 1995 festgesetzten Ziele wurde erreicht. Zwar sind bereits einige Kriegsverbrecher vor das Internationale Tribunal in Den Haag gestellt worden, aber die Hauptschuldigen befinden sich noch immer in Freiheit. In Bosnien werden Flüchtlinge von serbischen und kroatischen Nationalisten gewaltsam an der Rückkehr gehindert. Ansätze von Pluralismus sind zu erkennen, es fehlen jedoch die Artikulationsmöglichkeiten. Auch die Wählerlisten sind noch nicht erstellt – schlechte Voraussetzungen für freie Wahlen. Ganz zu schweigen von der Aufstellung einer bosnisch-kroatischen Armee.
Auf serbischer Seite findet eine Kraftprobe zwischen dem in Pale residierenden Radovan Karadžić und seinem ehemaligen Premierminister Rajko Kasagić statt, dessen Hochburg Banja Luka ist. Es geht darum, welchen Status die bosnische Serbenrepublik haben soll und wer sie kontrolliert. Eine Schlüsselrolle spielt dabei Präsident Slobodan Milošević, der seine Entscheidungen im wesentlichen den innerserbischen Belangen unterordnet.
Von unserer Korrespondentin CATHERINE SAMARY *
„Wir müssen begreifen, daß Armut für uns alltäglich geworden ist. Es gibt keinen Krieg mehr, keine Sanktionen, aber was können wir schon erwarten?“ klagt Svetlana Lukić. Die junge Frau gehörte zu den ersten Journalisten, die vom Belgrader Fernsehen als „Feinde des serbischen Volkes“ angeprangert wurden. Sie arbeitet bei Radio B 92, dem einzigen unabhängigen Sender Belgrads. „Ich habe alles verloren“, fährt sie fort. „Ich habe mich mit meinem Vater zerstritten, weil er für Milošević gestimmt hat. Er hat sich verhalten wie viele andere Bauern, die von den Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg Land bekommen haben. Außerdem hat er bei den Partisanen gekämpft. Für ihn war Milošević ein Verteidiger Jugoslawiens. Er suchte in ihm einen Führer, einen zweiten Tito, einen entschlossenen Mann, der die Interessen der Bevölkerung vertritt – auch im Krieg. Meine Mutter hat sich genauso verhalten. Sie hat aber auch irrational reagiert: Als sie Vuk Drašković gesehen hat, mit seinem Bart und den Symbolen der Tschetniks1, lehnte sie die Opposition pauschal ab. Ein Freund von mir, ein Arzt, wurde während des Krieges mit Kroatien nach Vukovar geschickt. Voller Abscheu ist er desertiert. Er lebt jetzt in der Schweiz. Viele meiner Freunde sind fortgegangen.“
Aber Svetlana fühlt sich auch unter den Demokraten und den unabhängigen Journalisten nicht wohl. „Die Regierung beschuldigt uns, wir hätten uns dem Ausland verkauft, damit sie uns leichter zum Schweigen bringen und verleumden kann. Ich weiß tatsächlich nicht, wer mich bezahlt, und ich ertrage jene Kollegen nicht mehr, die ständig reisen. Ich habe keine Lust, für das Ausland zu schreiben – und erst recht keine Lust, gut davon zu leben, wenn alle um mich herum große Entbehrungen erleiden.“ Schließlich, nach vier Jahren, „habe ich meine Einstellung geändert“, sagt sie verbittert. „Was ist die Demokratie, wenn sie nicht für die Schwachen eintritt? Und was wollen die Vereinigten Staaten – die Welt beherrschen? Ich weiß, daß wir für die serbische Politik bezahlen müssen. Ich war Jugoslawin, man hat mich gezwungen, Serbin zu werden – und mich dann als Serbin abgelehnt.“
Die innere Zerrissenheit, die Identitätsdiffusion angesichts der Last der Vergangenheit, der Entscheidungen der Gegenwart und einer ungewissen Zukunft, dazu die radikale Verarmung, prägen das gemeinsame Los in der serbisch-montenegrinischen Föderation (der sogenannten Bundesrepublik Jugoslawien). Die jüngste Attacke Belgrads auf die unabhängigen Medien zeugt von der Nervosität der Regierung, die sich wachsender sozialer Unzufriedenheit gegenübersieht.2
Die Belegschaft von Jugoexport, einem Unternehmen im Zentrum von Belgrad (600 Arbeitnehmer), hat sich im Betrieb eingeschlossen, „um den Streikbrechern den Zutritt zu verwehren“. Draußen hängt ein großes Transparent: „Zwölf Monate ohne Lohn! Zwölf Monate Streik!“ Weil die Löhne nicht gezahlt wurden, hat man auch bei IMT in Novi Beograd, einem großen Traktorenwerk mit 6000 Arbeitern, schon seit Ende April nicht mehr gearbeitet. Sogar die offiziellen Gewerkschaften haben sich dem Streikaufruf der unabhängigen Gewerkschaften des Unternehmens angeschlossen.
Aber „die Regierung verhandelt nur mit den offiziellen Gewerkschaften“, bedauert der Vorsitzende der unabhängigen, 30000 Mitglieder zählenden Metallarbeitergewerkschaft (MSMS), der Dreher Dragan Milovanović. „Sie haben uns vage Versprechungen im Hinblick auf ein Tauschgeschäft mit China gemacht und uns aufgefordert, die Arbeit wiederaufzunehmen. Das sind nur leere Worte, der Streik wird fortgesetzt.“ Aus der serbischen Hauptstadt werden noch weitere Aktivitäten gemeldet, wenn auch ohne genaue Zahlenangaben. Doch dem Aufruf der unabhängigen Gewerkschaften, am 1. Mai „für Brot, Freiheit und Demokratie“ zu demonstrieren, haben nur einige hundert Menschen Folge geleistet.
Trotz der katastrophalen sozialen Lage verfügt die Regierung über Mittel, um die Not zu lindern: Die Mitgliedschaft bei den offiziellen Gewerkschaften wird durch materielle Vorteile (wie Naturalien) belohnt und garantiert den Arbeitsplatz; die unabhängigen Gewerkschaften stehen unter Druck und spielen nur eine marginale Rolle. Weiterhin ist die Beziehung zum Land von großer Bedeutung: Die große Masse der Bauern-Arbeiter lebt von dem, was sie auf kleinen Parzellen anbauen.
Die Opposition ist gespalten
VOR allem Slobodan Milošević erweist sich immer wieder als Meister der „totalen Flexibilität“. Seine Macht errichtete er anfangs auf einem nationalistischen Programm, das er dann (teilweise) verraten mußte, um sich an der Macht zu halten. Er profitierte zunächst von den internationalen Sanktionen (die das serbische Volk als Ungerechtigkeit und Ursache seines ganzen Elends empfand) und später von deren Aufhebung. Er konsolidierte seine Position zunächst durch eine Allianz und später durch den Bruch mit der extremen Rechten. Er bezog seine Legitimität zunächst aus dem Krieg und dann aus dem Frieden; aus dem Bruch mit Tito und der Fortführung des Sozialismus; aus seinem Kampf gegen die „internationale Verschwörung“, der in ein Übereinkommen mit den Großmächten mündete, die ihm die Normalisierung der Beziehungen zu Makedonien mit der diplomatischen Anerkennung belohnten.3
Mittlerweile könnte die Zeit allerdings gegen Milošević arbeiten, wenn der Bevölkerung bewußt wird, daß sich trotz Aufhebung der Sanktionen gegenüber Belgrad nichts an der ernsten wirtschaftlichen und sozialen Lage ändert. Der allerletzte Trumpf der Regierung ist die Spaltung einer bis vor kurzem durch den Krieg polarisierten Opposition, deren Programme diffus oder gar von übelstem Nationalismus inspiriert sind.
Soll man sich zuerst zusammenschließen, um Milošević zu bekämpfen, oder der Rekonstruktion der Gesellschaft Vorrang einräumen? Diese Frage stellt sich für die Opposition nach der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens am 14. Dezember 1995 in Paris4. Der Jurist Vojim Dimitrijević, einer der Führer der Serbischen Bürgerallianz, tendiert zur ersten Option: „Wir müssen Milošević schlagen, um jeden Preis.“ Diese Vereinigung von Intellektuellen und „Verrätern der serbischen Sache“ genießt dank ihrer kategorischen Verurteilung des Krieges, des Nationalismus und der ethnischen Säuberungen ein hohes moralisches Ansehen und errang 1993 innerhalb der Koalition der Demokratischen Bewegung Serbiens (Depos) zwei Sitze.
Dimitrijević stellt ausdrücklich fest: „In Serbien gab es keinen Runden Tisch mit der Opposition.“ Diese hat wiederholt die Institutionen boykottiert, im Herbst 1995 ist sie sogar aus Protest gegen den Maulkorb der Medien aus dem serbischen Parlament ausgezogen. Ihre Anti-Milošević-Politik stellt die Bürgerallianz jedoch vor die Frage, wie sie sich zu jenen Strömungen stellen soll, deren Vorwurf gegen Milošević lautet, er habe die serbische Sache verraten, und die sich auf die Tradition des Antikommunismus und der Tschetniks beziehen.
Der Jurist kritisiert „die sektiererische Haltung gegenüber den Tschetniks“, die er als Folge der offiziellen Geschichtsschreibung des Titoismus sieht. Er tritt für eine „versöhnliche“ Haltung ein. Nicht ganz so weit gehen zwei andere Oppositionsparteien, die Serbische Erneuerungsbewegung von Vuk Drašković und die Serbische Demokratische Partei von Zoran Djindjić (der sich vor kurzem neben dem bosnischen Serbenführer Karadžić gezeigt hat). Sie schlagen eine „Partnerschaft für Veränderung“ vor, die der Opposition eine Mehrheit im Parlament verschaffen soll, um dann eine Verfassungsänderung und Neuwahlen durchzusetzen.5
Neben den Unterschieden hinsichtlich der Beziehungen zu den nationalistischen Gruppierungen waren es vor allem sozioökonomische Fragen, die die Allianz auseinderbrechen ließen. Auf ihrem letzten Kongreß haben sich Professor Zarko Koran und zwanzig der einundfünfzig Mitglieder zählenden Führung abgespalten, unterstützt von Führern der unabhängigen Gewerkschaft Nezavisnost wie Rade Radevanović. Anfang Mai gründeten sie eine Union der Sozialdemokraten – die achte Partei, die das von den regierenden Sozialisten beanspruchte Niemandsland erobern will. Die neue Bewegung wird unterstützt von Prof. Zaga Golubović, der Vorsitzenden der Vereinigung zur „Verteidigung der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der unabhängigen Gewerkschaften“. Professor Ivo Visković, ebenfalls Anhänger der neugegründeten Bewegung, wendet sich gegen „die totale Diskreditierung des Titoismus, die einhergeht mit wirtschaftsliberalen Privatisierungskonzepten und einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber den Lebensbedingungen des Volkes“.
Aber auch die regierende Sozialistische Partei möchte ihren Anhang unter den ärmeren Schichten vergrößern und zugleich ihre Kontrolle über die Wirtschaft ausbauen, die gleichermaßen unter der Krise und der Mafia leidet. „Wir wollen die Vorteile der Marktwirtschaft auf unsere Weise nutzen“, erläutert Vizeaußenminister Zivadin Jovanović. Wir sind dabei, die aktuellen Privatisierungserfahrungen in Ungarn, Polen und anderswo auszuwerten. (...) Gewisse Gesellschaftsgruppen würden gerne kostenlos Eigentümer werden – so wie man das Autokennzeichen ändert. Das werden wir nicht zulassen. Wir sind bestrebt, die Reichtümer des Landes zu erhalten, und wenn wir verkaufen müssen, dann zu einem gerechten Preis, nicht aber, um unsere Fabriken zu schließen. (...) Die Europäische Union bietet uns Rezepte an. In einer Demokratie müßte aber eine Vielfalt von Ansätzen zugelassen sein, die nach ihren Resultaten zu beurteilen wären.“
Sarkastisch fügt der Minister hinzu: „Wer glaubt denn wirklich an die freie Marktwirtschaft? Nur die, die über kolossale Mittel verfügen.“ Jovanović vertritt ein Konzept der Wiederannäherung der Balkanstaaten, „das sie nicht vom übrigen Europa isoliert. Alle, die ihre Beziehungen wiederaufnehmen möchten, sind willkommen. Manche Republiken befürchten, wir hätten eine Neuauflage des früheren Jugoslawien im Auge. Aber das ist nicht unsere Absicht, und wir sind froh, nicht länger die Exporte von Slowenien und Kroatien subventionieren zu müssen. Man sollte aber die bestehende Infrastruktur nutzen.“
Angesichts der fälligen Privatisierungen ist jedoch das „slowenische (oder lombardische) Syndrom“ für die sozialistische Regierung genauso bedrohlich wie die Opposition, die sich in der Vojvodina oder in Montenegro vom Belgrader Zentralismus abkoppeln möchte. So kollidiert das in Montenegro beschlossene Privatisierungsgesetz mit dem weitaus restriktiveren und zentralistischeren der Föderation. Der (sozialistische) Regierungschef von Montenegro, Milo Djukanović, bemüht sich um Kredite und Investoren aus den USA, während sich die serbische Regierung den Auflagen des IWF widersetzt und kürzlich den Chef der Notenbank, Dragoslav Avramović, wegen seiner zu nachgiebigen Haltung von den Verhandlungen ausgeschlossen und schließlich suspendiert hat.
Auch die von Slobodan Milošević in Montenegro eingesetzten jungen sozialistischen Kader sind bemüht, ihren Machtspielraum – und ihre Bereicherungschancen – gegenüber Belgrad auszuweiten (im Sinne einer Föderation). Sie sind für eine Aufhebung der Visumspflicht, um den Tourismus zu fördern, sie möchten eine eigene Fluggesellschaft gründen, kurz: Sie wollen ihre natürlichen Ressourcen und ihre Küstenlandschaft möglichst devisenträchtig verwerten. Noch blockiert die Regierung in Belgrad solche Ambitionen, doch könnte sie demnächst der Bildung einer Freihandelszone zustimmen, von der sie selbst mitprofitieren würde. Demgegenüber fordert die liberale Opposition Montenegros die Unabhängigkeit.
Vor kurzem proklamierte Mile Isakov ein Manifest für die Autonomie der Vojvodina, der reichsten unter den serbischen Provinzen (mit bedeutenden Minderheiten, deren größte die ungarische ist). „Die Belgrader Opposition versteht nicht, daß man hier die Regierung viel leichter schlagen kann“, klagt der unabhängige Journalist und Abgeordnete der „Vereinigten Opposition“. „Wenn man den Leuten sagt: ,Wählt uns, dann werdet ihr weniger Steuern zahlen‘, dann können sie das nachvollziehen“, bestätigt Nenad Canak, Führer einer liberalen Partei der Vojvodina und berühmt wegen seines Widerstandes gegen die Wehrpflicht im Krieg.
Der Führer der Bauernpartei und Mitunterzeichner des Manifests für die Autonomie der Vojvodina will aus der Unabhängigkeit allerdings kein Wahlkampfthema machen. „Ich wende mich an alle Bauern, nicht bloß an die der Vojvodina. Was sie brauchen, ist eine Regierung, die die Landwirtschaft subventioniert.“ Die Landwirte, die unter Tito zu 80 Prozent Grundeigentümer geblieben sind und die durchschnittlich nur 3 Hektar Land besitzen, haben wie in Polen vorerst mehrheitlich für die Sozialisten gestimmt.
Auch die Ungarn in der Vojvodina sind gespalten. „Im Norden fordern sie territoriale Autonomie, wo wir doch alle gemeinsam für die Wiederherstellung der Autonomie der Provinz kämpfen und die unter Tito erworbenen kulturellen Rechte verteidigen sollten“, meint Nenad Canak. Tatsächlich herrscht, was diese Frage betrifft, in der im Parlament vertretenen Demokratischen Gemeinschaft der Ungarn der Vojvodina (DZM) Uneinigkeit: Der gemäßigte Flügel sieht in territorialer Autonomie keineswegs die beste Verteidigung seiner Rechte. Die Autonomie stellt sowohl für die Opposition als auch für die Sozialisten ein Wahlkampfthema dar.
Zentralismus und Autonomiebestrebungen
LETZTERE profitieren in jüngster Zeit vom Aufschwung der Union der Jugoslawischen Linken (JUL), die eng mit der Sozialistischen Partei kooperiert und dort Fuß zu fassen sucht, wo sich die Sozialisten durch ihre nationalistische Politik am stärksten diskreditiert haben: unter den nationalen Minderheiten des Sandschaks oder der Vojvodina und in den durch die Krise marginalisierten Bevölkerungsschichten. Die JUL versteht sich als Sammelbecken für verschiedene Gruppierungen und Persönlichkeiten, die sich auf den Kommunismus berufen und den serbischen Nationalismus ablehnen. Angeführt wird sie von niemand anders als Mirjana Marković, der Ehefrau von Slobodan Milošević. Damit möchte die Präsidentengattin der durch ihren Mann repräsentierten Macht eine Hintertüre offenhalten, das heißt, sie von der Verantwortung der von ihr angezettelten ethnischen Säuberungen reinwaschen.
Zur großen Enttäuschung seiner Bewunderer hat der angesehene, für seine linken Ideen und die Verteidigung des Multikulturalismus bekannte Theaterregisseur Ljubisa Ristić den Vorsitz der JUL übernommen. „Wir waren es, die den Bruch mit Šešelj erzwungen haben“, meint der sympathische, schnauzbärtige Ristić, dessen Truppe in einer stillgelegten Belgrader Fabrik auftritt.
Frau Marković spielt bei den Säuberungen und den Besetzungen hoher Posten eine bedeutende Rolle. Das mußte auch der Philosoph Mihailo Marković erfahren, der 1990 zum Vizepräsidenten der Sozialistischen Partei aufgestiegen war. Sein Widerstand gegen die politische Wende von Milošević und die von Belgrad verhängten Sanktionen gegen die bosnisch- serbischen „Brüder“ hat ihm den Zorn der Gemahlin des Präsidenten eingetragen, zumal er ihren Einfluß zu untergraben versuchte, indem er sich zum Verteidiger der Interessen der Arbeiter aufwarf – gegen die Mafia der Manager und Privatunternehmer, die die JUL für die Sache der Sozialistischen Partei einspannen will.
Klientelismus, Erpressungen (unter Einsatz des Söldnerführers Arkan), Prozesse, willkürliche Steuerforderungen: Die JUL und die SPS bedienen sich ungebrochen der alten Methoden, um die Wirtschaftseliten an die Regierung zu binden. Zugleich wollen sie sich als „links“ profilieren. Der Verlierer heißt Mihailo Marković. Und die JUL setzt ihre Kampagne fort, bemüht sich weiter um internationale Unterstützung, insbesondere in China. Die Aktion der JUL mag zwar den Bruch zwischen Milošević und Vojislav Šešelj beschleunigt haben, sie hat es aber nicht geschafft, die Erfüllung des Dayton- Abkommens zu garantieren, das heißt, Präsident Milošević zum Wortführer der bosnischen Serben zu machen.
„Wenn wir nicht der Kooperation mit der Nato zugestimmt hätten, wäre ihr Einsatz in Bosnien nicht so erfolgreich gewesen“, betont Vizeaußenminister Jovanović. Besser könnte man die pragmatische Politik der serbischen Regierung und die Bedeutung des Faktors Macht in dieser Region gar nicht beschreiben. Belgrad festigt seine Position in der Republika Srpska auf dreifache Weise: die Offensive der Sozialistischen Partei gegen die Serbische Demokratische Partei (SDS) von Karadžić, die Stationierung der serbischen Polizei und die offizielle Kontrolle der serbischen Zentralbank über das Territorium.
Jovanović faßt die Position seiner Regierung so zusammen: „Man muß die beiden Bestandteile Bosnien-Herzegowinas gleichberechtigt behandeln, freie Wahlen abhalten, den Flüchtlingen helfen und Aktionen ausländischer fundamentalistischer Kräfte unterbinden. Vielleicht“, fügt unser Gesprächspartner hinzu, „unterschätzen Sie diese Gefahr in Europa. Wir haben jahrhundertelang gegen eine Art Fundamentalismus gekämpft.“ Diese Argumentation, die die ethnischen Säuberungen in Bosnien „legitimieren“ soll, bleibt bis zur völligen Aufteilung des Landes nützlich. Und das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag? „Es hat in Belgrad ein Büro. Wir sind zur Kooperation bereit, auch wenn wir seine politischen Stellungnahmen nicht schätzen, die einem solchen Tribunal nicht zustehen.“ Und die Festnahme von Karadžić und Mladić? „Das ist eine hypothetische Frage“, schließt Jovanović.
In Umrissen erahnt man bereits die Karte des aufgeteilten Bosnien, für Belgrad ein wichtiger Trumpf für die unmittelbare Zukunft. Doch die mögliche Anerkennung der mit Waffengewalt gebildeten Republika Srpska und ihre eventuelle Vereinigung mit Serbien lassen bei den Kosovo-Albanern das Gefühl der Ungerechtigkeit wachsen. Nach der Ermordung eines jungen albanischen Studenten Ende April kam es fast zeitgleich an mehreren Orten der Provinz zu Schußwechseln, bei denen Polizisten und serbische Flüchtlinge (aus Albanien) getötet wurden. Keine Gruppe hat die Verantwortung dafür übernommen, und alle albanischen politischen Gruppen haben die Bevölkerung im albanischen Fernsehen zur Ruhe aufgerufen. Die Schüsse könnten aber auch ein Signal darstellen: Aus Verzweiflung darüber, daß ihr Problem in Vergessenheit zu geraten droht, könnte sich ein Flügel der albanischen Bewegung radikalisieren und dem Pazifismus abschwören.
Die Hälfte der albanischen Bevölkerung ist noch nicht zwanzig Jahre alt. Will man einen Ausbruch des Konflikts vermeiden, muß man unbedingt eines gewährleisten: „Diese jungen Menschen müssen in ihre Schulen und Universitäten von 1989 zurückkehren können. Die Repressionen gegen Lehrer und Schüler müssen aufhören“, betont Agim Hyseni, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaften. In den aktuellen Debatten zeichnen sich mehrere Strategien ab, die dasselbe Ziel verfolgen. Heftig kritisiert wird das Konzept des „passiven Widerstandes“, das die Demokratische Liga des Kosova und ihr Präsident Ibrahim Rugova predigen. Es sollte die Unabhängigkeit bringen, hat bisher aber nur in eine Sackgasse geführt. Adem Demaqi, der Führer der Liga für die Menschenrechte im Kosovo, verficht eine aktivere Strategie. Vor allem mit Demonstrationen soll das Ziel erreicht werden, „den Belagerungszustand aufzuheben, freie Wahlen unter internationaler Aufsicht abzuhalten und Verhandlungen über das Zusammenleben von Serben und Albanern zu beginnen.“
Um die Rechte der Albaner zu verteidigen, ohne eine Explosion auf dem Balkan zu riskieren, brauche man „eine Republik Kosova, die im Rahmen der jugoslawischen Föderation die Rechte der Kosovo- Serben schützt“. Das setze zweierlei voraus: den unverzüglichen Abschluß eines Abkommens über die Aufrechterhaltung der Grenzen und zugleich die Suche nach „einer den gesamten Balkan umfassenden Lösung der offenen Fragen“6.
Die 700000 serbischen Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien weigern sich, in jenem Gebiet ansässig zu werden, das die nationalistische Mythologie als „serbisches Jerusalem“ bezeichnet. Darin sehen manche die historische Chance einer letzten pragmatischen Wende von Slobodan Milošević – wobei sie hoffen, daß der Verzicht auf den Kosovo nicht die Gegenleistung für die endgültige Aufteilung Bosnien-Herzegowinas sein wird.
dt. Andrea Marenzeller
1 Die Tschetniks waren Widerstandsgruppen, die während des Zweiten Weltkrieges das serbische Königshaus im Exil unterstützten. Ihre Feindschaft gegen den von den Kommunisten geführten Partisanen- Widerstand dämpfte ihren Antifaschismus. Ihre radikale serbisch-nationalistische Ideologie war gekennzeichnet durch einen „historischen Revanchismus“ gegenüber den Kroaten, die pauschal als Ustascha- Faschisten angesehen wurden, und gegenüber den bosnischen Muslimen, die in ihren Augen abtrünnige Serben waren. Als zu Beginn der neunziger Jahre neue Parteien gegründet wurden, proklamierten Vuk Drašković und Vojislav Šešelj gemeinsam ein großserbisches Programm und beriefen sich auf die königstreue Tradition der Tschetniks. Drašković, der Führer der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO), ging in die Opposition; Šešelj hingegen war als Führer der Serbischen Radikalen Partei SRS bis zum Herbst 1993 de facto mit der Regierung verbündet und vertrat den extrem rechten Flügel des großserbischen Nationalismus. Šešelj stand stets treu zur Politik von Radovan Karadžić. Vuk Drašković hingegen wechselte angesichts der Kriegsgreuel in das Lager der Kriegsgegner über und sucht nach Allianzen innerhalb des demokratischen Spektrums.
2 80 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, dem steht eine dünne Schicht von Kriegsgewinnlern gegenüber. Die Löhne wurden vielfach seit Monaten nicht gezahlt. 700000 Flüchtlinge müssen durch ihre Angehörigen versorgt werden, 95 Prozent von ihnen leben mit in deren Wohnungen. Während der Sanktionen waren Entlassungen untersagt, jedoch wurden mehr als 50 Prozent der aktiven Bevölkerung in Zwangsurlaub geschickt. Vgl. „Society in Crisis: Yougoslavia in the Early '90s“, hg. von Mladen Lazić mit Unterstützung der Soros-Stiftung, Belgrad 1995.
3 Vgl. den untenstehenden Artikel über die einzelnen Phasen der Wahlen in Serbien.
4 Vgl. Svebor Dizdarevic, „Bosnie, la paix sous la démocratie“, Le Monde diplomatique, Januar 1996.
5 Siehe Nasa Borba, 30. April – 2. Mai 1996.
6 Zur Situation im Kosovo, vgl. „Conflict or Dialogue: Serbian-Albanian Relations and Integration of the Balkans“, Open Society, Soros-Stiftung, Subotica 1994.
* Dozentin an der Universität Paris IX, Dauphine, Verfasserin von „La Déchirure yougoslave“, Paris (L'Harmattan) 1994.