14.06.1996

Die Propagandamaschinerie der Europäischen Kommission

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Die Propagandamaschinerie der Europäischen Kommission

Von

GÉRARD

DE SÉLYS*

DIE Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS, und besonders deren Hohe Behörde geben immer mehr Geld für Journalisten aus: Man lädt sie ein, die Debatten der Gemeinsamen Versammlung zu verfolgen und an Studientagen, Pressekonferenzen oder anderen Veranstaltungen teilzunehmen. Um die Zeitungen für sich einzunehmen, geizt das Gremium nicht mit Reisespesen für Redakteure. [...] Man bietet den Journalisten sogar einen Tagessatz an, der ihre Ausgaben für Unterkunft und Verpflegung bei weitem überschreitet. Journalisten werden animiert, Reportagen über diesen oder jenen Aspekt der EGKS zu schreiben. Die europäische Organisation kauft diese Reportagen dann und läßt sie gegen Bezahlung in Zeitschriften veröffentlichen.“1 – „Stimmt es, daß diese sogenannten Informationsfonds in Wirklichkeit dazu dienen, die Aktivitäten von Bewegungen zu finanzieren, die Propaganda für die europäische Einigung betreiben, Bewegungen, die von diesen Geldern profitieren, ohne über ihre Verwendung Rechenschaft ablegen zu müssen?“2 Diese Zitate aus Anfragen zweier Parlamentarier, des Belgiers Paul Struve (1956) und des Franzosen Christian de La Malène (1961) haben bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

In der Tat: Noch heute genießt der Großteil der 765 in Brüssel akkreditierten Journalisten großzügig bemessene Freiräume in Form von fürstlich bezahlten Reportagen, aufgebessert durch erkleckliche Spesensummen oder durch gelegentliche beziehungsweise regelmäßige Mitarbeit an den zahllosen Publikationen der aus der Hohen Behörde hervorgegangenen Kommission. Einige können ihr reguläres Journalistengehalt dadurch verdoppeln oder gar verdreifachen.

Dieses Arrangement hat der Kommission nicht nur beschönigende Worte eingebracht, sondern auch zur Verschleierung zweifelhafter Praktiken beigetragen. Am 10. Juni 1954 legte Max Kohnstamm, Generalsekretär der Hohen Behörde der EGKS, in einer vertraulichen Notiz ausführlich die Pressestrategie dieser ersten EG-Institution dar, die nach seinen Worten eine „Entwaffnung der Einigungsgegner“3 zum obersten Ziel hatte. Die Hohe Behörde gab bei dem deutsch- französischen Büro Brose & Elvinger eine Studie zur Ausarbeitung ihrer Öffentlichkeitsarbeit in Auftrag. Es gelte, hieß es darin, „Gefühle und eine unkritische Haltung zu befördern, [...] kurz, die psychologischen Bedürfnisse der Massen zu befriedigen. [...] Public relations bieten wesentlich besser als Werbung die Möglichkeit, Vorurteile auszuräumen, ja selbst Gefühle des Mißtrauens in eine Welle der Sympathie umzuwandeln.“4

Die Hohe Behörde gab daraufhin zahlreiche Filme zur Eigenwerbung in Auftrag. Gleichzeitig achtete man darauf, den Abgeordneten nur selektiv Informationen zur Verfügung zu stellen. Denn einige Mitglieder der Vollversammlung erwiesen sich als allzu neugierig: „Parlamentarier haben die Tendenz, die Arbeit der Hohen Behörde genau zu verfolgen. Dies könnte sie dazu verleiten, sich intensiver als gewünscht in die Geschäfte einzumischen. [...] Es wäre gefährlich, ihnen Informationen über interne Details zur Verfügung zu stellen“5, meinten die für Information Zuständigen der EGKS 1955.

Nach Unterzeichung des Abkommens von Rom im Jahre 1957 wurde diese Leitlinie noch verfeinert und präzisiert: Der Informationsdienst mußte „seine Gesamttätigkeit in den Dienst der Herstellung und Verbreitung eines günstigen Klimas in der öffentlichen Meinung stellen und [...] unter Einsatz aller modernen Kommunikationsmittel eine regelrechte Erziehung der Öffentlichkeit bewirken“6. Außerdem wurde im Rahmen des Informationsdienstes eine „Sprechergruppe“ eingerichtet. Ihr obliegt „die Verantwortung dafür, welche Information (zur Veröffentlichung) geeignet ist, sowie das Monopol der Auslegung“7.

Seit 1965 organisiert diese Gruppe, die dem Präsidenten der Europäischen Kommission beigeordnet ist, tägliche Treffen mit den akkreditierten Journalisten. Mittag für Mittag werden sie in einem eigens hierfür bestimmten Saal von einem Sprecher empfangen – jedoch nicht zu einer Pressekonferenz, sondern zu einem „Rendezvous“. Eine bedeutsame Unterscheidung: Denn alles, was im Verlauf einer Pressekonferenz gesagt wird, kann veröffentlicht werden; was hingegen bei einem mittäglichen „Rendezvous“ gesagt wird, möglicherweise nicht. Das schafft ein Klima der Vertraulichkeit zwischen dem Sprecher und den Vertretern der Presse. Geschmeichelt durch diese ostentative Aufnahme in der Kreis der Erlauchten, halten sich die Journalisten entsprechend an die Anweisungen zum Schweigen.

1985, nachdem Jacques Delors Präsident der Kommission geworden war, wurde dieser Pressesaal unter immens hohen Ausgaben renoviert.8 Am Tag der Wiedereröffnung stellten die Journalisten mit Erstaunen fest, daß der Raum sich in einen Theatersaal verwandelt hatte: Auf einem erhöhten Podest thront nun der Pressesprecher im hellen Licht der Bühnenscheinwerfer; die Journalisten hingegen versinken weiter unten im Halbdunkel in luxuriösen Fauteuils, und auf den winzigen Tabletts, die sie nun anstelle der großen Arbeitstische von früher zur Verfügung haben, kommen kaum mehr Notizen aufs Papier.

Da Jacques Delors klar war, daß seine Pläne eines erweiterten Marktes (aus dem Jahr 1985) zu Unzufriedenheit und Protesten führen würden, beschloß er, die Sprechergruppe zu reformieren. Der neue „Dienst des Sprechers“ hat zwei wesentliche Aufgaben: Schutz der Kommission und ihres Präsidenten und tägliche Überwachung der Resonanz der nach außen gegebenen Informationen – eine Art Effizienzkontrolle, wie sie gemeinhin nur in Propagandadiensten üblich ist.

Das Vademecum des Sprecherdienstes präzisiert: „Ziel ist es, daß jede unserer Mitteilungen9 in eine positive Darstellung der Position der Kommission mündet [...] Die Erfahrung hat gezeigt, daß im Umgang mit nicht in Brüssel akkreditierten und nicht persönlich bekannten Journalisten besondere Vorsicht geboten ist.“ Darüber hinaus ist zur „Unterstützung der Kommissionsmitglieder“ bei Kontakten mit Journalisten „bei jedem Interview ein Mitglied des Sprecherdienstes anwesend und überprüft die Einhaltung der mit den Journalisten vorab vereinbarten Modalitäten“10.

Doch trotz der Anstrengungen des Sprecherdienstes, trotz der Luxusbroschüren, die millionenfach und in sämtlichen Sprachen der Gemeinschaft gratis in Umlauf gebracht werden, zeigen die Umfragen, daß das Bild von Europa immer negativer wird und daß die europäischen Einrichtungen im besten Fall so gut wie unbekannt, im schlimmsten Fall Gegenstand wachsenden Mißtrauens sind. Nach den Volksbegehren von 1992 in Dänemark und Frankreich, die in der Kommission Bestürzung auslösten, wurde eine Expertengruppe damit beauftragt, die Informationspolitik der Kommission zu untersuchen und Vorschläge zu unterbreiten.

In ihrem Bericht kommen die Experten zu dem Schluß, „daß die öffentliche Meinung keineswegs mehr Informationen benötigt. [...] Was die Leute brauchen, ist mehr Kommunikation: stimulierende, spannende, motivierende Neuigkeiten, die sie etwas angehen: Stimuli, die sie zu Einstellungsveränderungen bewegen.“

Lügen und Verschleierungen

ZWEI vorrangige Zielgruppen werden ausgemacht: Jugendliche und Frauen. Die Jugendlichen, weil „es sich taktisch empfiehlt, dort zu agieren, wo der Widerstand am geringsten ist“. Die Frauen, weil sie „instinktiv besser und rascher als Männer die Vorzüge einer besseren Zukunft zu erfassen vermögen“. Es folgen ein paar allgemeine Richtlinien: Die EU „muß als ,gutes Produkt‘ dargestellt und propagiert werden“. Die Kommission sollte sich „menschlich präsentieren, warmherzig, sympathisch und eng an den Bedürfnissen der Mitmenschen orientiert“. Folglich wird empfohlen, ein Kommunikationsbüro einzurichten, das „unter Hinzuziehung von Experten stufenweise spezifische Kommunikationsprogramme für die jeweiligen Zielgruppen erstellt, deren Meinungsumschwung gewünscht wird“11.

Diesen Empfehlungen folgten Taten: Im Oktober 1995 beschloß die Kommission drei „große Informationskampagnen“, ausgestattet mit einem Etat von 50 Millionen Ecu (rund 11 Millionen Mark), die erste über die Wirtschafts- und Währungsunion, die zweite über das „gemeinsame Haus“ Europa und eine dritte, die sich vorwiegend an Jugendliche und Frauen wendet.

Im Januar 1994 veröffentlicht der Stab des Kommissars für Informationsangelegenheiten, João de Deus Pinheiro, ein internes Dokument, das sich zum Ziel setzt, „Innerhalb der Kommission eine Kultur des Umgangs mit audiovisuellen Medien zu begründen“. Pinheiro meint, die Kommission müsse „eigenständig schnell in der Lage sein, zu kommentieren und Vorschläge zu unterbreiten. Zu diesem Zweck muß sie detaillierte Kenntnisse über die Erwartungen der einzelnen Zielgruppen haben und über ein Arsenal an technisch effizienten Mitteln verfügen.“12 Ziel sei es, „Magazine, öffentliche Diskussionsveranstaltungen, Interviews und Spots zu produzieren“13.

Seit zwei Jahren hat sich die Kommission, vermutlich unter dem wachsenden Einfluß der „Experten von außen“, immer mehr auf die Produktion von „Ereignissen“ verlegt. Das erste war der Ministerrat der G7 vom 24. bis 26. Februar in Brüssel, der sich mit den „Datenautobahnen“ befaßte. Die Kommission entsandte dazu ihren ehemaligen Präsidenten Jacques Delors und den gegenwärtigen Präsidenten Jacques Santer sowie Dutzende ihrer Funktionäre; sie selber leistete weitreichende logistische Hilfestellung. Das zweite „Ereignis“, das vom 22. bis 24. Januar dieses Jahres stattfand, war ein Treffen zur Propagierung der Währungsunion, das voll und ganz von der „Generaldirektion für Information, Kommunikation, Kultur und audiovisuelle Medien“ (GD X) finanziert wurde. Zu den Themen der Arbeitskreise und Podiumsgespräche gehörten die „Befürchtungen der Konsumenten auf dem Weg in die Währungsunion“.

Unglücklicherweise wurde das „Ereignis“ durch einige Mißtöne getrübt. Am ersten Tag der Versammlung hatte die Kommission, um einen großen Coup zu landen, Umfrageergebnisse veröffentlicht, denen zufolge 54 Prozent der Europäer die Währungsunion begrüßen. Aber schon am nächsten Tag mußte sie unter dem Druck einiger Journalisten einräumen, daß die Umfrage ebenso ergeben hatte, daß 52 Prozent der Europäer den Behauptungen der Kommission, die Währungsunion werde Arbeitsplätze schaffen, keinerlei Glauben schenken. Einen weiteren Tag später, als die Kommission auf wiederholtes Nachfragen die Umfrageergebnisse in vollem Umfang publizierte, erfuhr die Öffentlichkeit, daß 57 Prozent der Europäer vor der Konversion ihrer Währung in den Euro Angst haben ...

Das Zurückhalten oder die Verschleierung von Informationen ist nun aber keineswegs ein Privileg der Kommission. Der Ministerrat, das eigentliche gesetzgebende Organ der EU, der hinter verschlossenen Türen tagt, hatte am 6. Dezember 1993 gemeinsam mit der Kommission einen „Verhaltenskodex“ festgelegt, der zur Gewährleistung von Transparenz beitragen sollte. Beide verpflichteten sich darin, den Zugang der Öffentlichkeit zu ihren Dokumenten zu erleichtern. Gestützt auf diese Zusicherungen richtete der englische Journalist John Carvel, ein Mitarbeiter des Guardian, am 2. Februar 1994 eine schriftliche Anfrage an den Ministerrat und beantragte Einsicht in die Protokolle mehrerer Ratssitzungen aus dem vorangegangenen Herbst. Nachdem der Rat seine Anfrage zweimal abschlägig beschieden hatte, legte Carvel am 19. Mai 1994 bei der ersten Instanz des Europäischen Gerichtshofs Klage ein, unterstützt von Dänemark, den Niederlanden und dem Europäischen Parlament.

Der Ministerrat erklärte, daß die Positionen der einzelnen Minister grundsätzlich „vertraulich behandelt werden müssen, insbesondere dann, wenn die Ratsmitglieder im Interesse einer Einigung gezwungen sind, sich von diesen zu entfernen und in einigen Fragen gar die ihnen auf nationaler Ebene erteilten Weisungen hintanzusetzen.“14. Mit anderen Worten: Wenn ein Minister gegenüber seinen europäischen Kollegen sich nicht an die ihm von seiner Regierung aufgetragenen Weisungen hält, so muß dies vertuscht werden, um einen Sturm der Entrüstung im eigenen Land zu verhindern.

Am 19. Oktober 1995 entschied das Gericht, die Weigerung des Ministerrats sei unzureichend begründet, und widerrief dessen Entscheidung. Am 30. April dieses Jahres jedoch wies der Europäische Gerichtshof letztinstanzlich beide Parteien ab, mit dem Argument, daß „es den europäischen Institutionen in Fragen der inneren Organisation erlaubt ist, eigenständig über den Zugang der Öffentlichkeit zu ihren Dokumenten zu verfügen“15. Gerade mal zwei Jahre hat die „Transparenz“ gelebt – auf dem Papier!

dt. Barbara Kleiner

1 Anfrage Nr. 32 von Paul Struve, Mitglied der Vollversammlung, 4.Juni 1956, Anhang zum Journal der EGKS, 19. Juli 1956, Luxemburg, S. 238 und 239.

2 Schriftliche Anfrage Nr. 117 von Christian de La Malène an die Europäische Wirtschaftskommission, Anhang zum Journal der Europäischen Gemeinschaft, 15. März 1961, Luxemburg, S. 480.

3 Max Kohnstamm, „Notiz über die Organisation des Informationsdienstes der Obersten Aufsichtsbehörde“, Luxemburg, 10. Juni 1954, Generalarchiv der Europäischen Kommission (GA), Brüssel, 1, Nr. 940. S. 3-16.

4 Hanns W. Brose und Francis Elvinger, „Public Relations, Bedeutung, Einsatz, Ziele“, Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt/M., Paris, April 1955, GA Brüssel, 13, Nr. 68, S. 157-175.

5 Reinaldus Renckens, „Zu Fragen der Presse und der Information“, 5. Sitzung am 20. Oktober 1955, GA Brüssel, 13, Nr. 69, 5. November 1955, S. 84.

6 „Notiz über die Organisation des Nachrichtendienstes“, GA Brüssel, 2, Nr. 1594, 20. Oktober 1958, S. 39-44.

7 Jacques-René Rabier, „Notiz über Roger Reynaud“, GA Brüssel, 2, Nr. 1594, Luxemburg, 6. Mai 1958, S. 2-4.

8 Die Kommission hat sich stets geweigert, die Renovierungskosten exakt zu beziffern!

9 Die täglichen Presseinformationen sind über den Rapid-Dienst bei der Kommission oder unter dem Schlagwort „Europa“ im Internet zugänglich.

10 „Vade-Mecum“, Pressesprecherdienst, Mai 1989. Dokument zum internen Gebrauch, nicht registriert.

11 „Reflexionen über die Informations- und Kommunikationspolitik der EG“, Bericht der Expertengruppe (Leitung: Willy De Clercq), März 1993.

12 „Informationspolitik und Öffentlichkeitsarbeit der Kommission: Einsatz von audiovisuellen Mitteln“, Mitteilung von João de Deus Pinheiro, Europäische Kommission (GD X), 18. Januar 1994.

13 Für 1996 beläuft sich das Budget der Generaldirektion X (GD X) auf 106,3 Millionen Ecu (ca. 228,2 Millionen Mark), 50 Millionen davon für die drei „vorrangigen Kampagnen“. Jede der 22 weiteren Generaldirektionen der Kommission zweigt einen Teil ihres Budgets für ihre eigene Informationspolitik ab, diese Zahlen werden aber nicht veröffentlicht. Das Budget des Sprecherdienstes, der rund 75 Mitarbeiter beschäftigt, wird geheimgehalten.

14 Entscheid der Europäischen Gemeinschaft in erster Instanz (Zweite erweiterte Kammer), Akte T-194/94, 19. Oktober 1995, S. 11-13.

15 Entscheid des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 30. April 1996, Akte C 58/94.

* Journalist, Verfasser von „Privé de public. A qui profitent les privatisations?“, Brüssel (EPO) 1996.

Le Monde diplomatique vom 14.06.1996, von Gerard de Selys