14.06.1996

Megastädte

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Megastädte

Von IGNACIO RAMONET

JEDER, der den Kultfilm „Blade Runner“ (1982) von Ridley Scott gesehen hat, erinnert sich sicher an jene submarin wirkende Großstadtatmosphäre, in die die Filmhandlung getaucht ist: Los Angeles im Jahre 2019 – ein brodelnder, kaputter, lärmender Hexenkessel, in dem es von geächteten und gestrandeten Existenzen jeglicher Couleur nur so wimmelt. Allmächtig triumphiert die Gewalt. Science-fiction? Möglicherweise nein. Schon um die Jahrtausendwende wird jenes Ballungszentrum namens Los Angeles, das 1850 gerade 1620 Seelen beherbergte, 18 Millionen Einwohner zählen. Ganz zu schweigen von der ethnischen Heterogenität: Die Angelsachsen werden mit 40 Prozent hinter den Hispanos liegen, Asiaten und Schwarze 10 Prozent ausmachen. Ein Rückgang der Kriminalität ist nicht in Sicht. Jährlich sterben 28 von hunderttausend Einwohnern aufgrund von Gewalttaten – eine Folge der Armut und des geringen Bildungsstandes. Und der 670 Banden, die an die 70000 Mitglieder umfassen ...

Dieser einstige Hort einer zivilen Urbanität ist längst zum Symbol für niedrige Lebensqualität und Gesundheitsbelastung geworden. Ein Tummelplatz aller sozialen Mißstände unserer Zeit, wie Armut, Marginalisierung, Unsicherheit, Umweltverschmutzung, Häßlichkeit, Unordnung und Einsamkeit. All dies verdankt die Stadt unzweifelhaft ihrem atemberaubenden Wachstum. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten gerade 3 Prozent der Menschen in Städten; in fünf Jahren wird es mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung sein.

Auf der Suche nach Lösungen für dieses wohl schwerwiegendste Problem des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts veranstalteten die Vereinten Nationen vom 3. bis 14. Juni – zwanzig Jahre nach der Konferenz von Vancouver – in Istanbul einen Weltstädtegipfel, genannt Habitat II. Das frühere Byzanz steht hier als Symbol; es ist von 1 Million Einwohner im Jahr 1950 auf heute 8 Millionen angewachsen, ohne daß die Behörden der schwindelerregenden Entwicklung Herr geworden wären. Ergebnis: Wasser ist rationiert, Pannen bestimmen das tägliche Leben, Müllbeseitigung unterliegt dem Zufallsprinzip, öffentliche Verkehrsmittel und der Zustand der Straßen entsprechen mitnichten den Erwartungen der Bürger, die von Korruption und Schlamperei endlich die Nase voll hatten und einen Islamisten der Wohlfahrtspartei (RP) zum Bürgermeister wählten.

Eine derart blitzartige Bevölkerungsexplosion hat noch keine Stadt erfahren. London brauchte 150 Jahre für den Sprung von einer auf acht Millionen Einwohner. Dagegen werden in Lagos anstelle der 1950 noch 290000 Menschen im Jahr 2015 24,4 Millionen leben. Oder Brasilia: Die 1960 aus dem Nichts entstandene Hauptstadt hat heute bereits an die 4 Millionen Einwohner. Im Jahr 2000 werden 19 der 25 bevölkerungsreichsten Ballungsräume in den ärmsten beziehungsweise Entwicklungsländern liegen. Hier werden sich die Extreme von Reichtum und Elend der Länder konzentrieren: die umweltschädlichsten Industrien, die schadstoffhaltigsten Autos, enormer Trinkwassermangel und ein kaum mehr als Luft zu bezeichnendes Gasgemisch. Schon heute leben mehr als 600 Millionen Menschen – soviel wie die halbe Stadtbevölkerung des Südens – in Slums (3000 gibt es allein in Kalkutta), ohne Kanalisation und gesundheitliche oder soziale Versorgung. In großen Scharen fliehen die Menschen vor ländlicher Armut oder Krieg und übervölkern den Umkreis der Ballungszentren ausländischer Investoren.

DENN nach wie vor sind die Städte der Ort der Macht, des Handels, der Produktion, der Bildung, Sitz der Verwaltung und Medienriesen, Zentrum der kulturellen Kreativität und Innovation. Hier konzentrieren sich die wichtigsten wirtschaftlichen Aktivitäten eines Landes, was oft dazu führt, daß der Rest des Landes „verödet“. Bangkok etwa beherbergt 10 Prozent der thailändischen Bevölkerung, produziert aber 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Einige dieser Megastädte haben ein unglaubliches Potential: Seoul produziert alleine so viel wie die gesamte Türkei, São Paulo mehr als ganz Polen...1

In den Städten des Nordens führt die Restaurierung, Renovierung und anschließende Anhebung der Mietpreise zu einer Flucht der einfacheren Bevölkerung in die Außenbezirke – in Frankreich leben ganze 43 Prozent der Stadtbevölkerung in Vorstädten. Oft gehen soziale und ethnische Segregation Hand in Hand. Im Atlanta der diesjährigen Olympischen Sommerspiele leben 20 Prozent der (hauptsächlich weißen) Bevölkerung in den Wohnvierteln der Außenbezirke. In der Stadt selber leben 65 Prozent Schwarze, die Hälfte von ihnen unterhalb der Armutsgrenze; die sozialen Gräben reichen ins Bodenlose.

Im Norden (wo die Verarmung der Mittelschichten das Hauptproblem ist) ebenso wie im Süden ist die Stadt zu einem Archipel aus voneinander getrennten Zonen geworden. Es mehren sich Viertel, in denen die Wohlhabenden unter Wachschutz von dem sie umgebenden Elend abgeschottet leben. Immer mehr Bevölkerungsgruppen haben immer weniger miteinander zu tun: Die einen streunen herum, die anderen arbeiten, die dritten geben Befehle. Letztere haben (per Telefon, Fax oder Computer) mehr Verbindung zu ihresgleichen in den anderen Megastädten als zu ihren Mitbewohnern.

Die Globalisierung legt den Städten die Schlinge um den Hals. Der Staat scheint offenbar gewillt, getreu dem Dogma der Deregulierung die Entwicklung der Städte einem Markt zu überlassen, der ihnen den Schemel unter den Füßen wegzuziehen droht. Nicht unwahrscheinlich, daß die Millionen von Deklassierten, Ausgeschlossenen und Armen in den Städten des Nordens und Südens demnächst zu Protest und Revolte übergehen.

1 Siehe Thierry Paquot, „Le Monde des villes. Panorama urbain de la planète“. Brüssel (Complexe) 1996.

Le Monde diplomatique vom 14.06.1996, von Von IGNACIO RAMONET