Eine neue Union als Rettung für den Transkaukasus?
Von unserem
Korrespondenten
VICKEN CHETERIAN *
PANTELEJMON Georgadse trägt die Uniform eines sowjetischen Generals, wenn er in seinem Büro in der georgischen Hauptstadt Tbilissi empfängt. Der weißhaarige Mann, der vor einer Karte des Kaukasus sitzt, erweckt den Eindruck, daß die Diskussion jeden Augenblick auf militärische Fragen zu sprechen kommen könnte. Der Vorsitzende der Vereinigten Kommunistischen Partei Georgiens (VKPG) war früher stellvertretender Oberbefehlshaber der transkaukasischen Grenztruppen der UdSSR. „Ich sehe die Rettung des Transkaukasus im Sieg der russischen Kommunisten“, versichert er.
Daß die Kommunisten wieder zu einer wichtigen Kraft in Rußland geworden sind, hat auch den KPs in den anderen Republiken der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) neuen Aufschwung gegeben. Ende der achtziger Jahre hatten die Flügelkämpfe zwischen Reformern und Konservativen innerhalb der kommunistischen Parteien zum Aufblühen der nationalistischen Bewegungen geführt. Die Machtübernahme durch neue Eliten – häufig alte kommunistische Funktionäre, die ihr Bekenntnis gewechselt haben – ging in Armenien friedlich vonstatten, während sie in Aserbaidschan und Georgien mit vielfachen gewaltsamen Konflikten verbunden war.1 Die überdauernden kommunistischen Parteien im Transkaukasus hielten sich bedeckt, bis ihren russischen Genossen bei den Parlamentswahlen im Dezember 1995 der Durchbruch gelang und Gennadi Sjuganow zum populärsten Kandidaten für das russische Präsidentenamt avancierte. Mit dem Beschluß der Duma vom 15. März 1996 über die – vorläufige – Wiederherstellung der Sowjetunion2 ist die Wiedererschaffung der UdSSR nicht mehr einfach ein Slogan, sondern ein Punkt auf der politischen Tagesordnung.
„Für uns reichte Armenien von Brest- Litowsk bis Wladiwostok“, sagt Sergej Badalian, Chef der armenischen KP, in Eriwan. Seiner Auffassung nach stellen die einstige UdSSR und die künftige Union weniger ein Projekt der siegreichen Arbeiterbewegung dar, sondern repräsentieren vielmehr den Willen, sich wieder mit Rußland zu vereinigen. Denn diese Idee finde in der Bevölkerung echten Widerhall. Gestern noch hätten die nationalistischen Bewegungen versprochen, daß es mit ihren Ländern aufwärts gehe, wenn sie sich von der Kontrolle durch den Kreml befreiten. Heute seien Hunderttausende nach Rußland ausgewanderte Einwohner zu verzeichnen, weil dort die Löhne wesentlich höher liegen. Nicht nur sei der angekündigte Wirtschaftsboom ausgeblieben; vielmehr würden die Arbeitsemigranten aus dem Kaukasus, ehemalige Bürger der Sowjetunion, heute in Rußland diskriminiert und als „Neger“ tituliert.
Wie soll die künftige Union aussehen? Für Pantelejmon Georgadse wird sie „eine Variante der UdSSR“ sein, „eine Union sozialistischer Staaten, auf freiwilliger Basis und mit mehr Autonomie“. – „Es ist unmöglich, das wiederherzustellen, was früher existiert hat“, meint Badalian, „aber die neue Union wird einen gemeinsamen Wirtschaftsraum haben; Finanzstrukturen und Sicherheitspolitik, Ausbildungssystem und Außenpolitik werden aufeinander abgestimmt sein.“
Einer der wichtigsten Faktoren für die Popularität der kommunistischen Parteien ist der Gegensatz zwischen der Vollbeschäftigung und dem niedrigen Preisniveau zur Sowjetzeit und den gestiegenen Preisen, niedrigen Löhnen und der allgemeinen Arbeitslosigkeit seit der Unabhängigkeit. Doch Kritik wird auch an den Strukturreformen geübt, die westliche Finanzinstitutionen den Staaten aufgezwungen haben, und an der Verteilung von Lebensmittelhilfen durch internationale Organisationen.3 Ein armenischer Kommunist, Leonid Harutunian, kritisiert beispielsweise die Politik des Internationalen Währungsfonds, insbesondere dessen „politische Kredite, deren Ziel es ist, uns und die kommenden Generationen in extremer Abhängigkeit zu halten. Sie bringen uns auf das Niveau eines Dritte-Welt-Landes.“4
In den vergangenen Jahren hat die „nationale Frage“ in den KPs der UdSSR für sehr viel Verwirrung gesorgt, denn sie waren zur Zeit der Perestroika außerstande, ethnisch-territoriale Konflikte beizulegen. Dem könnte einzig ein Sieg der Kommunisten ein Ende bereiten, versichern heute die Kommunisten im Kaukasus. „Berg-Karabach, Abchasien oder auch die Krim werden die Lösung ihrer Probleme erleben, und zwar in dem Maße, wie sie gleichberechtigte Subjekte innerhalb der neuen Union werden“, beteuert Badalian. Sind die aserbaidschanischen Kommunisten bereit, auf Berg-Karabach zu verzichten? „Zweifellos nicht sofort. Der beste Kompromiß wäre ein Berg-Karabach, das weder zu Aserbaidschan noch zu Armenien gehört, sondern sich selbst vertritt.“
Die neuen Kommunisten verzichten darauf, die Macht gewaltsam wiederzuerlangen, sie setzen sich nicht einmal an die Spitze der Massenbewegungen auf der Straße. „Die Georgier leiden an Hunger und im Winter unter der Kälte. Jedermann will Versammlungen und Kundgebungen abhalten, aber wir lassen uns nicht zu Provokationen verleiten“, unterstreicht Pantelejmon Georgadse.
Dieselbe Erklärung vernimmt man auch bei den armenischen Kommunisten, die doch mit ihren fünfzigtausend Mitgliedern die bestorganisierte Partei des Landes darstellen. Ihr Ziel bleibt es, die Macht zu erobern, doch hoffen sie, daß ihnen dies auf dem Weg der Wahlen gelingt. Gleichwohl behaupten die führenden Kommunisten, die herrschenden Eliten seien nicht bereit, ihre Posten zu räumen, notfalls griffen sie auch auf betrügerische Mittel zurück. Die Kommunistische Partei Armeniens hat bei den Parlamentswahlen im Juni 1995 12 Prozent der Stimmen erhalten, aber Baladian verweist auf zahlreiche Unregelmäßigkeiten während der Wahl; bei gleichen Chancen gewänne er, so seine Auffassung, zwischen 40 und 50 Prozent der Stimmen.
„Es sind Verräter“
EIN Teil der alten kommunistischen Funktionäre ist im Kaukasus an der Macht. In Georgien regierte Eduard Schewardnadse und in Aserbaidschan Hejdar Alijew bereits unter Leonid Breschnew. Lewon Ter-Petrosjan ist der einzige aller Präsidenten der GUS-Staaten, der früher kein bedeutender Apparatschik war. „Es sind Verräter“, prangert Georgadse mit Empörung Schewardnadse und seine Umgebung an. Dieses Konzept des Verrats ersetzt jeden Versuch, zu erklären, was sich seit Michail Gorbatschows Machtantritt ereignet hat. „Ich kann verstehen, daß Menschen ihre Einstellung ändern. Aber wenn Sie früher ein Land als Kommunist gelenkt haben und es jetzt als Antikommunist regieren, so ist das widersinnig“, lautet Georgadses abschließendes Urteil.
Indes gibt es zahlreiche Beispiele für den Brückenschlag zwischen KP-Führern und Regierungsmächtigen. Igor Georgadse, Sohn des VKPG-Vorsitzenden, war bis zum Bombenattentat gegen Präsident Schewardnadse im August 1995 verantwortlich für den georgischen Sicherheitsdienst. Er mußte seinerzeit nach Moskau flüchten, denn man maß ihm ebensoviel Verantwortung für den Mordversuch bei wie Dschaba Iosseliani, dem Anführer der paramilitärischen Mchedrioni- („Reiter“-) Milizen, der seither in Haft ist. So kam es zu heftigen Angriffen gegen die VKPG, auch Pantelejmon Georgadse selbst wurde – freilich ohne Beweise – beschuldigt, in das Komplott verwickelt gewesen zu sein.
Die Wiederausrufung der UdSSR durch die Duma hat in den Republiken der GUS eine neue antikommunistische Kampagne ausgelöst. Wenige Tage nach dem 15. März erklärte Eduard Schewardnadse bei einer Visite in Moskau, diese Resolution bedeute die „Rückkehr zu einem totalitären Regime“. Auch Alijew und Ter-Petrosjan gaben ähnliche Erklärungen ab. Es steht außer Zweifel, daß ein Sieg der Kommunisten bei den russischen Präsidentschaftswahlen zu neuen Spannungen in den transkaukasischen Beziehungen führen würde.
Die Erneuerung der kommunistischen Parteien verdankt sich zudem der ökonomischen und sozialen Krise. Wenn seit 1988 zunächst die radikalen nationalistischen Bewegungen dominierten, so ist inzwischen ein politisches Vakuum entstanden. Die Erlangung der Unabhängigkeit hat den nationalistischen Parteien den Kern ihrer Existenzberechtigung genommen. Die ethnisch-territorialen Konflikte5 mit ihrem Verlust an Menschenleben und ihren Zerstörungen haben die Popularität dieser Parteien erheblich gemindert. In den letzten beiden Jahren haben sich die Machthaber der jeweiligen Länder vor allem auf den Kampf gegen die innere Opposition konzentriert: in Armenien gegen die Daschnakzutjun-Partei (Revolutionäre Armenische Föderation), in Aserbaidschan gegen die Volksfront und in Georgien gegen die Anhänger des ehemaligen Präsidenten Swiad Gamsachurdia und die Chefs der paramilitärischen Freischärler Dschaba Iosseliani und Tengis Kitowani. Gestützt auf mächtige repressive Polizeiapparate, haben die regierenden Kreise es verstanden, jeglichen Ausdruck oppositionellen Denkens zu unterdrücken, und dies, obgleich die Unzufriedenheit über den rasanten Verfall des Lebensstandards in der Bevölkerung wächst.
Doch statt die Enttäuschung der Bürger über den „Nationalismus“ der neuen politischen Führungen für sich zu nutzen, setzen die kommunistischen Parteien Armeniens und Georgiens lieber auf einen kommunistischen Wahlsieg in Moskau. Dies, so hoffen sie, sei das beste Instrument für ihre eigene Rückkehr an die Macht.
dt. Eveline Passet
1 Siehe Ronald G. Suny, „Elite Transformation in Late-Soviet and Post-Soviet Transcaucasia, in: Timothy J. Colton, Robert Tucker (Hrsg.), „Patterns in Post-Soviet Leadership“, San Francisco und Oxford (Westview Press, Boulder) 1995. Siehe auch Jean Gueyras, „Weder Krieg noch Frieden in Berg-Karabach“, und Jean Radvanyi, „Georgien auf dem Weg in die Moderne“, Le Monde diplomatique, Januar 1996.
2 Am 8. Dezember 1991 unterzeichneten die Präsidenten Rußlands, der Ukraine und Weißrußlands den Vertrag über das Ende der 1922 gegründeten UdSSR.
3 Nach halboffiziellen Schätzungen machen internationale Zuschüsse, Hilfeleistungen und Kredite etwa die Hälfte des Budgets von Armenien und Georgien aus.
4 In der armenischen Tageszeitung Asg, Eriwan, 9. Februar 1996.
5 Siehe die Karte „Guerre et épurations“, veröffentlicht in Manière de voir, Nr. 29, Februar 1996. Manière de voir wird vierteljährlich von Le Monde diplomatique herausgegeben.
* Journalist.