Bretter, die die Zeit bewahren
■ Vom 9. Juli bis zum 3. August feiert das Theater-Festival in Avignon seinen fünfzigsten Geburtstag. Ein guter Anlaß, um über das Verhältnis von S
Vom 9. Juli bis zum 3. August feiert das Theater-Festival in Avignon seinen fünfzigsten Geburtstag. Ein guter Anlaß, um über das Verhältnis von Staat und Kultur nachzudenken und daran zu erinnern, welche enorme politische Rolle dem in der Gesellschaft verwurzelten und die Demokratie belebenden „théÛtre populaire“ im Sinne Jean Vilars zukommt. Zumindest bei all jenen, die für ein öffentlich subventioniertes Theater eintreten, ist der Wille spürbar, die Stellung dieser Kunstform in der heutigen Gesellschaft neu zu überdenken, zumal diese ehemals selbstverständlichen „öffentlichen Einrichtungen“ heute überall in Europa in ihrer Existenz bedroht sind. Zwar ist in verschiedenen Ländern das engagierte Theater, das seine Kraft aus der Geschichte wie aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit bezieht, nach wie vor lebendig, aber meist handelt es sich um einzelne, eigenständige Initiativen außerhalb der offiziellen Institutionen. Das Theater – und ganz besonders das „staatlich geförderte Theater“ – stellt sich heute mehr denn je der Frage nach seiner eigenen Notwendigkeit und Perspektive. Solche Phasen des Zweifels sind fruchtbar. Sie ermöglichen Neubestimmungen, Experimente, sogar Neubegründungen.
Von
JEAN-CHRISTOPHE
BAILLY *
DIE alte Formulierung Pindars, wonach „die Dichtung ins Zentrum gestellt wird“, deutet auf den Beginn von etwas, das man den öffentlichen Gestus der Literatur nennen könnte, denn das „Zentrum“, von dem hier die Rede ist, meint nichts anderes als jenen öffentlichen Raum, den die Menschen miteinander teilen – die Polis. Dieser Gestus hat seinen Ursprung nicht in etwas Außerliterarischem – etwa in einer geäußerten Meinung –, sondern hängt direkt mit der Entstehung einer Vorstellung von Text zusammen.
Ein Text ist eine Schrift, die nicht auf Offenbarung fußt – ein Akt eines einzelnen, der sich im Raum der Polis öffentlich macht und dem Urteil preisgibt. Die offenste und weitreichendste Form dieser „Bürgeröffentlichkeit“, die mit der mythisch-unkritischen Organizität des Epos brach, war von Anfang an das Theater. Das „Zentrum“, in das die Dichtung gestellt wird, erobert gemeinsam mit dem Theater einen Ort – im ganz materiellen Sinne des Wortes. Die Bühne ist so in gewisser Weise das sichtbar gemachte Zentrum, der Ort, an dem die in das Zentrum gestellte Dichtung vorgetragen wird.
Die gesamte Geschichte des westlichen Theaters ist diesem Ursprung verpflichtet, dieser offenkundigen und direkten Verbindung zwischen Bühne und Polis. Sobald das Theater zu sich selbst fand (sobald etwas „Zentrales“ im gesellschaftlichen Leben dem beherrschenden Einfluß der Religion abgerungen werden konnte), hat es sich an diese Verbindung erinnert.
Der Hof des spanischen „corral“, das Globe Theatre im elisabethanischen London, Schillers „Bretter, die die Welt bedeuten“, das russische „Künstlertheater“ zu Beginn dieses Jahrhunderts, der dialektische Raum der Brechtschen Verfremdung oder Antonin Artauds Theater der Grausamkeit – alle diese Ausprägungen, mit ihren jeweiligen Techniken und Vorstellungen, sind Ausdruck des Wunsches, dieser „zentrierenden“ Wirkung der Dichtung wieder habhaft zu werden, sich das Theater als aktiven Mittler dieser Wirkung zurückzuerobern.
Bei all den zahlreichen Theateraktivitäten und einer Pluralität der „Zentren“, die oft bloßen Nischen ähneln, haben wir Mühe, den Akt dieser Aneignung oder den damit einhergehenden Willen zur Erschütterung wahrzunehmen. Doch in ihrer lebendigen Wirklichkeit unternimmt die dramatische Darstellung – wenn auch oft nur dem Anspruch nach – jedes Mal aufs neue das uralte magische Spiel: im vergänglichen Kreis von Zeugen der Welt die Welt zu vergegenwärtigen.
Derzeit weist das Theater in ganz Europa zwar erhebliche Unterschiede auf und ist zudem durch einen gewissen akademischen Aufführungsstil permanenter Bedrohung ausgesetzt, doch es ist nach wie vor ein Experimentierfeld der Erfahrung. Dabei läge die Frage durchaus nahe, wie es dazu kommt, daß das Theater immer noch weiterbesteht, und warum es nicht als Hort abgelebter Traditionen oder als Museum abgelegter Gewohnheiten, sondern als Laboratorium und Brennpunkt des Gesellschaftlichen empfunden wird.
Alle technologischen Tricks und Möglichkeiten, die den Theatern in unterschiedlichem Ausmaß zur Verfügung stehen, ändern daran im Grunde nichts und bedeuten keine substantielle Modifizierung dessen, was die eigentliche Stärke des Theaters ausmacht: die Tatsache, daß diese Kunst allein auf der Fragilität der nicht reproduzierbaren lebendigen Aufführung beruht, oder, anders gesagt, daß sich in ihr alles in „Echtzeit“ abspielt.
Daß wir Zeit auf dem Theater in ihrer unmittelbaren Form erfahren, ist zweifellos auch der Grund, warum sie uns manchmal so lang wird, und doch verleiht gerade diese ihre Stärke oder Unschuld der theatralischen Wirkung ihre Konsistenz und erklärt, daß es nach wie vor die Kraft nicht verloren hat, Menschen zu versammeln. In einer Epoche der konservierten Zeit, der generellen Reproduzierbarkeit und des Kultur-Recyclings hat das Theater nichts anderes zu bieten als die „geatmete“ Realität. Eine seltsame, verschleierte Realität, die sogar „irreal“ erscheinen mag, aber in der das Handeln immer unmittelbar, vergänglich, öffentlich und lebendig ist.
Das gilt für die Bühne wie für die verschiedenen Formen der Wandertheater, die sich jeden Ort zur Bühne machen. Ich will ein Beispiel nennen: Vor zwei Jahren, im September 1994, hatte das Festival in Parma dem Tsai-Theater die Ausstellungsräume der Villa Magnani Rocca zur Verfügung gestellt, wo sich unter anderem Werke von Albrecht Dürer, Fra Filippo Lippi, Giovanni Battista Tiepolo, Francisco José de Goya sowie eine bedeutende Sammlung von Bildern Giorgio Morandis befinden. Die vereinbarte Spielregel bestand darin, so zu tun, als wäre das Zeitalter des virtuellen Ausstellungsbesuchs längst angebrochen und als sei es folglich verboten, die Bilder als wirkliche anzusehen. Der Rundgang wurde deshalb als heimlicher Besuch organisiert – mit Schauspielern als Führer, die eigens für diesen Anlaß verfaßte Texte rezitierten, im wesentlichen aber die Bilder mit Taschenlampen an- und ausleuchteten. Das Erlebnis dieser verstohlenen, aufmerksamen und kritischen Besichtigung entspricht dem eigentlichen Theatererlebnis. Auf diese Weise erhellt uns das Theater die Welt.
Eine Theateraufführung mit der ihr eigentümlichen Dauer und dem ihr eigentümlichen Raum hat für alle, die sie versammelt – Schauspieler, technisches Personal und Zuschauer – stets Ereignischarakter. Weniger deshalb, weil jede Aufführung sich von der andern unterscheidet, da sie einer Unzahl von Störungen unterliegt, sondern weil diese Fragilität Teil ihres Wesens ist und sich verkörpert in der lebendigen Ausdrucksform einer sich verströmenden Choralität, wo der leichteste Atemhauch und die geringfügigste Geste einen Sinn, das heißt ein Gewicht haben: Die Körper und die Stimmen der Schauspieler, Farben und Stoffe der Kostüme, die Schminke, die Beleuchtung, die Akustik, die Accessoires, die Ausstattung – alles, was auf der Bühne erscheint und vor sich geht, ergibt das bewegte Bild einer ungewöhnlichen, sensiblen Textur, deren Nerven offen liegen und deren Wirkungen der Zuschauer direkt wahrnimmt.
Das Zentrum als kritische Instanz
DIE Bühne ist tatsächlich vor allem der Ort unendlicher Verantwortung, wo alles zählt und alles zu Buche schlägt. Überall gibt es Nachlässigkeit, doch im Theater zeigt sie sich überdeutlich. Ob es darum geht, für ein altes Stück eine geeignete Form zu finden, um es wieder „ins Zentrum“ zu rücken, oder darum, sich mit einer Aufführung rückhaltlos ins Abenteuer eines neuen Textes zu stürzen – die Forderung nach Präzision und Sorgfalt bleibt immer die gleiche.
Das Seltsame aber ist, daß das Theater bei alledem in einem Schwebezustand stillen Staunens verharrt, in dem es allabendlich die Kraft einer Erscheinung annimmt. Daran liegt es sicher, daß es weiter wirkt und selbst noch in den schwierigsten Situationen so etwas wie ein Pulsschlag des gesellschaftlichen und politischen Lebens ist. Welche Bedeutung ihm etwa in Rußland bis heute zukommt, erklärt sich daraus, daß selbst in den düstersten Jahren das Theater immer noch dafür gesorgt hat, daß es einen Ort gab, an dem etwas anderes als der offizielle Diskurs öffentlich zur Sprache kam und zu hören war – und sei es auch in dem begrenzten Rahmen der wieder und wieder aufgeführten klassischen Stücke. Dieser Abstand zwischen dem herrschenden Diskurs jedweder soziopolitischen Formation (dem dogmatischen Diskurs der Diktaturen oder dem Konsens-Dogma der Demokratien) und der Kraft des gesprochenen Wortes macht das Theatererlebnis aus. Ohne diesen Abstand, ohne den lebendigen Atem, den es, heftig oder sanft, in die öffentlich gehaltene Rede einführt, hört das Theater sofort auf, ein Erlebnis zu sein oder etwas mit Kunst zu tun zu haben, und schließt sich statt dessen anderen Formen der narzißtischen gesellschaftlichen Reproduktion an: sich zu zeigen oder sich zu exhibitionieren, ohne sich zu sehen, das ist es, was allabendlich das Boulevardtheater vorführt, das vom Theater nichts weiter beibehalten hat als ein bißchen Glitter und ein wenig körperliche Präsenz – wenngleich in obszöner Form.
Der Begriff „künstlerisches Theater“ ist zuallererst ein politischer Begriff. Er enthält jene Vorstellung von einer Mitte, von der Rückkehr der Dichtung ins Zentrum, auf die Bühne als den Ort der Kritik. Das jeweilige „Zentrum“ kann ganz klein sein, dezentral, abgelegen – worauf es ankommt, das ist der Wille der Dichtung, sich dort an einer Tradition zu messen mit dem Versuch, deren Formen in Bewegung zu bringen, und es ist das Verlangen, daß auf den Brettern die Welt in den Stimmen in Flammen steht.
Wie in jeder Kunstform wird das Zentrum durch Ränder getragen: Ränder oder Institutionen, die begriffen haben, daß ohne Experimentieren die Kunst, der sie dienen sollen, verloren gehen würde. In diesem Punkt ist die Situation von Land zu Land verschieden, doch der zweifache Druck sowohl des marktwirtschaftlichen Pragmatismus wie auch des Wunsches, den Staat von der Unterstützung kritischer Instanzen in seinem Innern zu entbinden, ist überall spürbar. Es ist für jedermann klar, daß künstlerisches Theater und Marktmechanismen einander ausschließen und daß es zwischen ihnen nur Kampf geben kann.
Das heißt nicht, daß künstlerisches oder experimentelles Theater automatisch publikumsfeindlich ist – die Erfahrungen der Nachkriegszeit in Frankreich, aber auch das große Echo, das als „schwierig“ geltende Produktionen häufig auslösen, widerlegen eine solche Gleichsetzung; es bedeutet jedoch, daß alle Spekulationen über das vermutliche Publikum eines Schauspiels bei der Theaterarbeit, wo man sie leider immer häufiger hört, unterbleiben sollten. Im übrigen hat, soweit ich weiß, kein Schauspieler besondere Freude daran, vor leerem Haus zu spielen. Was aber die Forderung angeht, Regisseure und Autoren sollten es sich zum Ziel setzen, die Säle zu füllen, so gibt es eine Schwelle, die man nicht überschreiten kann, ohne das eigentliche Ziel jeder echten Kreativität aufzugeben, und schlimmer noch, ohne die kritische Instanz jenes Zentrums zu zerstören, in dem der Text pulsiert.
Aber welcher Text, kann man sich mit Recht fragen, welche Dichtung, hier und heute? Die Notwendigkeit künstlerischen oder kritisch inspirierten Theaters darzulegen, enthebt einen nicht des Nachdenkens darüber, wie der Bezug zur Geschichte beschaffen sein soll, den das Theater zu übernehmen hat. Von Anfang an steht das Theater in Beziehung zur Geschichte, konstituiert sich der Theatertext auf die eine oder andere Weise in diesem Verhältnis, auch dann noch, wenn er in die Innerlichkeit oder in die Märchenwelt abschweift. Schematisierend kann man zwei grundsätzliche Richtungen dieser Beziehung festhalten: einerseits gibt es eine Kontinuität des Epischen – die Kunst, die Identifikation mit dem Helden auszuspielen, indem man sie in der ganzen menschlichen Komplexität der Komparsen entfaltet (darin ist Shakespeare König); und andererseits gibt es die Dimension des Chors, der die Geschichte eher von ferne aufgreift, in ihren Auswirkungen, ihren manchmal fast schon verhallten Echos.
Zeitlich in unserer Nähe erscheint Bertolt Brechts Konzeption des dialektischen Theaters als der Wille, diese beiden Kontinuitäten, die seit der Antike zusammen dargestellt worden sind, in einem einzigen Prozeß zu verschmelzen, der episch und kritisch zugleich ist, wobei eine Instanz gewissermaßen die andere bedingt.
Was sich im Zuge unserer ureigensten historischen Erfahrung (dem Versiegen der „großen Erzählung“, dem Ende der Prophezeiungen vom Teilen, dem heftigen Drama der Sehnsucht nach kommunitären Lebensformen) herauszukristallisieren scheint, ist ein Theater, eine Theaterdichtung, die dieses Zerbrechen zeigen könnte, die sich unter Aufgabe jeder epischen oder kritischen Haltung als solcher einer gleichsam ratlosen, fröhlichen Choralität öffnen würde: der Sprache der Besiegten sozusagen (jedenfalls nie wieder der der Sieger), aber dabei deren eigener Wahrheit, deren eigener Widerstandslinie folgend.
Die Bruchlinien des Puzzles akzentuieren
DIE Anfänge dieser Sprache kann man, wie mir scheint, bis auf Georg Büchner zurückführen, der mit „Woyzeck“ die Statue des idealistischen Theaters vom Sockel stürzt und die kleine Brise auf die Bühne wehen läßt, mit der sich die einsame Erzählung ankündigt, indem er die Sprache derer erfindet, die nichts haben, die nicht sprechen können, aber von einem inneren Drang zum Sprechen getrieben werden. Aus dem so erzielten Realitätseffekt (der nichts mit dem „Realismus“ zu tun hat), haben wir immer noch keine Konsequenzen gezogen, und allzu zaghaft nur hat das Theater sich der Schlagkraft solcher Worte geöffnet.
Zweifellos ist das einer der Gründe, weswegen es so oft aus Literatur schöpft, die keine Theaterliteratur ist, sogar aus ethnographischen Untersuchungen oder aus der Philosophie – als ob die Erzählungen, die dort eingeflochten sind, der Bühne ein Manna lieferten, das weder das traditionelle Repertoire noch die heutigen Texte bereitstellen, es sei denn, letztere werfen direkt die Frage nach ihrem Verhältnis zur Geschichte, die Frage nach dem Zentrum auf: nicht von außen als Problem, sondern von innen, aus der eigenen Zwangslage heraus, das heißt, auch durch das Wiederaufgreifen alter Mythen und alter Figuren, die es als Spuren oder Sprengkörper wirken läßt, als echte antipsychologische Minen, die im Gedächtnis des Theaters schlummern, so wie es Heiner Müller verstanden hat, der sich ihrer als Materialien bediente.
Auf jeden Fall stellt die Werkstätte des experimentellen Theaters, wenn man es leben läßt, eine große Offenheit und Öffnung dar, und zwar vor allem deshalb, weil wir uns in einer Phase befinden, in der die Formen, weit davon entfernt, eine feste Prägung zu finden, überhaupt erst gesucht werden und zwischen reinem Monolog und der Choreographie verstreuter Stimmen, zwischen Strenge und Phantasmagorie hin und her schwanken. Vorbei ist es offenbar mit dem Theater als institutionellem Genre (mit seinen Ritualen, seinen Pingpongdialogen, seinen abgedroschenen, psychologisch überzeichneten Personen, seinen ferngelenkten Auf- und Abtritten, seinem lautstarken Pathos).
Alles andere als ein literarisches Genre, wäre das Theater also nur die Lebendigkeit eines agierten und gesprochenen, geatmeten oder getanzten Textes: keine bloße dramatische Bearbeitung eines literarischen Textes, sondern ein ganzheitliches Theater mit einer eigenen, ihm innewohnenden Stille, einem eigenen Gedächtnis, einer eigenen Gestik, einem eigenen Witz; ein Theater, das den erst im Entstehen begriffenen Text ins Zentrum stellt. Und dieser Text würde, statt die Puzzleteile zu einem geschlossenen Bild zusammensetzen zu wollen, mutwillig die Bruchlinien des Puzzles akzentuieren.
Das Gehäuse der Welt ist geborsten, oder: Was die Welt im Innersten zusammenhielt, ist kaputt und unbrauchbar. Das ist der Eindruck, den die kleine Theaterbühne vermitteln sollte: Welttheater, immer noch und immer wieder, aber das Theater einer Welt, wie sie geworden ist und mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit zwischen Drama und Glückseligkeit dahinrast, so geschwind, daß wir der Verweildauer der theatralen Zeit bedürfen, um sie uns vorzustellen.
dt. Sigrid Vagt
* Schriftsteller, Verfasser von „ThéÛtre et histoire contemporains“ (zusammen mit Georges Lauvaudant), Arles (Actes Sud) 1996.