12.07.1996

Staaten, Staaten, frei geraten ...

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Staaten, Staaten, frei geraten ...

Von

FRANÇOIS-GABRIEL

ROUSSEL *

IM Londoner Economist wurde vor einiger Zeit die Frage aufgeworfen, wie viele Staaten es eigentlich auf der Welt gebe, und ein Katalog vorgestellt, der die möglichen Antworten auf 168 bis 254 bezifferte.1 Es handelte sich keineswegs nur um einen Journalistenscherz; die Angelegenheit verdient genauere Betrachtung, auch wenn die Liste der Kriterien in dem Artikel offenbar nicht ganz ernst gemeint war: 168 eigene Währungen werden weltweit ausgegeben, die Internationale Organisation für Normung (ISO) hat 239 Länderkürzel aus zwei Buchstaben vergeben (und weitere 15 in einer Nachtragsliste), der Weltpostverein hat 185 Mitglieder, die eigene Briefmarken herausgeben.

Das alles sind Aspekte, die durchaus symbolische Bedeutung besitzen. Hat nicht die palästinensische Autonomiebehörde, um ihren Anspruch auf Staatlichkeit zu unterstreichen, im Dezember 1994 ihre ersten Briefmarken gedruckt? Diese können allerdings nur innerhalb des eigenen Gebietes benutzt werden, weil andere Postorganisationen sie nicht akzeptieren. Auch die „Türkische Republik Nordzypern“, die lediglich von Ankara anerkannt wird, gibt Marken aus, die für Sendungen ins Ausland nicht gelten. In Frankreich kann man auf der Post Marken von Saint- Pierre-et-Miquelon kaufen, die den Aufdruck „R.F.“ und „La Poste“ tragen, obwohl man sie nicht verwenden darf, um aus der Hauptstadt Post abzuschicken. Da sie jedoch vom Weltpostverein anerkannt sind, taugen sie – im Gegensatz zu den palästinensischen und nordzypriotischen Briefmarken – außerhalb dieses Bezirks zur Beförderung von Briefen in alle Welt.

Wir haben in Paris Botschafter, Mitglieder internationaler Organisationen und Juristen gefragt, wie viele Staaten es gibt, und von ihnen, die doch in besonderem Maße Nutznießer der Staatsidee sind, höchst unterschiedliche Antworten bekommen. Die Juristen hielten sich bedeckt und verwiesen auf die Zahl der UN-Mitglieder, dafür streuten die Angaben aus den Botschaften und Internationalen Organisationen von 155 bis 281. Von der Nuntiatur wurde die kleinste Zahl genannt – nach dem Protokoll steht der päpstliche Nuntius an der Spitze des gesamten diplomatischen Corps und kann nötigenfalls auch als Repräsentant der Botschafter auftreten. Die höchste Zahl kam von der deutschen Botschaft, die eine Liste mit 281 Namen („Länderübersicht“) vorlegte, 65 davon waren durch den Namen eines anderen souveränen Staates (in Klammern) ergänzt.

Bei dieser Aufzählung ergab sich nebenbei ein semantisches Problem: Obwohl Deutschland selbst ein „Bund von Staaten“ ist, gesteht es etwa den Vereinigten Staaten von Amerika nicht mehr als einen Eintrag in der Liste zu, womit eindeutig klar ist, wie man in Deutschland den Zusammenhang von Staat, Land und nationaler Einheit sieht. Zugleich wird in diesem Verzeichnis bei einer ganzen Reihe von Gebieten die Oberhoheit eines fremden Staates erwähnt2: Dreizehn Gebiete sind demnach abhängig von den USA, achtzehn von Großbritannien, elf von Frankreich3, acht von Spanien, fünf von den Niederlanden, je drei von Portugal, Norwegen und Australien, zwei von Dänemark, eins von Indonesien und eins von Neuseeland.

Paradoxerweise erscheinen in dieser Sparte auch die sieben Vereinigten Arabischen Emirate, und hinter jedem in Klammern „VAE“, sowie als achter Eintrag „Vereinigte Arabische Emirate“ und abermals in Klammern „VAE“. Mit anderen Worten: die Liste umfaßt jedes einzelne dieser Emirate und außerdem ihren Zusammenschluß.

Offensichtlich spielt für die deutschen Behörden die geographische Lage eine wichtige Rolle bei der Anerkennung eines Staates. Dennoch kommt es zu überraschenden Unterscheidungen: was Frankreich betrifft, so sind zum Beispiel sämtliche Inseln aufgeführt, außer jenen, die in unmittelbarer Nähe des Mutterlandes liegen. Auch gibt es keine Unterscheidung zwischen den französischen Departements und den überseeischen Gebieten, die ja durchaus unterschiedliche Unabhängigkeitsrechte genießen. Dafür wird Guyana überhaupt nicht erwähnt. Die Kriterien bleiben also etwas undeutlich: Soll man hier einen Zusammenhang zwischen der Staatsidee und der Vorstellung von einer einsamen Insel vermuten?

Auch sonst deutet vieles darauf hin, daß es Probleme mit der begrifflichen Eingrenzung gibt: da ist zum einen der hohe Anteil unbeantworteter Anfragen (ein Drittel), da sind die deutlichen Vorbehalte (eine Botschaft wollte sich nur im Rahmen eines Interviews, keinesfalls schriftlich äußern), und natürlich die erheblichen Unterschiede bei den Angaben. Die Vereinten Nationen zum Beispiel zählten zum Zeitpunkt der Untersuchung 184 Mitgliedsstaaten4, man betonte jedoch, daß man nicht berufen sei, den Begriff des Staates zu definieren, und sich darum darauf beschränke, die eingehenden Anträge auf Mitgliedschaft anzunehmen oder abzulehnen.

Am 25. November 1994 hatte Frankreich 190 Staaten anerkannt, die Schweiz dagegen 194, Rußland 172 und so weiter. Insgesamt fanden sich unter den Antworten nicht zwei, die identisch waren – wir erhielten sogar von der Unesco (183 Mitglieder) eine andere Liste als von der UNO, deren Unterorganisation sie schließlich ist.

Eine Ausnahme bildet die Antwort Israels: Der jüdische Staat gab als einziger keine Auskunft darüber, wie viele Staaten von ihm „anerkannt“ seien, sondern war vorsichtig genug, nur diejenigen aufzulisten, mit denen „diplomatische Beziehungen bestehen“ – es waren übrigens 146. Diese terminologische Zurückhaltung mag sich aus Israels eigenem Sonderstatus erklären. Festzuhalten ist auch, daß weder die Botschaft des Libanon noch die allgemeine Vertretung Palästinas auf die Anfrage geantwortet haben.

Wie uns die Botschaft Luxemburgs wissen ließ, geht man im Großherzogtum „sehr pragmatisch vor. Eine theoretische Bestimmung des Staatsbegriffs wurde bislang nicht vorgenommen, es liegt auch keine vollständige oder abgeschlossene Liste der territorialen Gebilde vor, denen staatliche Eigenschaften zuerkannt werden.“ Wobei die Diplomaten dieses Landes noch präzisieren, daß „die Anerkennung nicht notwendigerweise die Aufnahme diplomatischer Beziehungen bedeutet“ ...

Was man aus der Bandbreite der Angaben über die Zahl der Staaten schließen kann, ist nicht etwa, daß es keinen definierten Staatsbegriff gibt, sondern daß hier ein Parameter die entscheidende Rolle spielt, von dem man nicht spricht: die Anerkennung durch andere Staaten. Und dabei geht es weder um rechtliche noch um linguistische Probleme, sondern um geopolitische Strategien im jeweiligen geschichtlichen Zusammenhang.

Im Zweifelsfall entscheiden die Umstände

OB ein Staat anerkannt wird, hängt natürlich von den besonderen Umständen ab, die im internationalen Rahmen zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschen; im Einzelfall aber entscheidet sich die Frage sehr oft danach, ob die anderen Staaten, die die Anerkennung vollziehen sollen, eine eher entschlußfreudige oder eine eher abwartende Haltung einnehmen. Die Schweiz zum Beispiel verweist darauf, daß sie durch ihr Neutralitätsprinzip gezwungen sei, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen: sie muß sich damit nicht beeilen, darf aber auch nicht übermäßig lange zuwarten, um bei einem neuen Staat nicht gleich in Mißkredit zu geraten.5

Sicherlich liegt es nicht allein am Begriff des Staates, daß sich so viele Widersprüche auftun. Unter dem Titel „Die undefinierbare internationale Gemeinschaft“6 wurde in Le Monde daran erinnert, daß die verschiedenen Vorgehensweisen in der Bosnienkrise nicht zuletzt deshalb so völlig unverständlich wirken, weil „es eine Vielzahl von Institutionen gibt, die sich dazu äußern, wobei sie entweder die gleiche Position beziehen oder sich gegenseitig die Schuld zuschieben, mit immer neuen Tricks, bis man glaubt, es mit Fällen von Persönlichkeitsspaltung zu tun zu haben“. Was also soll man sich unter dem berühmten Begriff „Internationale Gemeinschaft“ vorstellen, „hinter dem sich alle verstecken“? Die Nato? Die Kontaktgruppe für Exjugoslawien? Oder zum Beispiel die fünfzehn Verteidigungsminister, die am 3. Juni 1995 in Paris zusammengekommen sind? Oder vielleicht den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen?

dt. Edgar Peinelt

* Lehrt an der Universität Paris VII – Val de Marne.

1 Vgl. Courrier international (Paris), Nr. 154, 14. Oktober 1993.

2 Dabei handelt es sich, wie ausdrücklich vermerkt wird, um „nicht selbständige“ Gebiete.

3 Die Gambier-Inseln, die Gesellschaftsinseln, Guadeloupe, die Marquesasinseln, Mayotte, Neukaledonien, La Réunion, die Hälfte von Saint-Martin, Saint-Pierre-et-Miquelon, der Tuamoto-Archipel und Wallis-et-Futuna.

4 Seit Juni 1996 ist es einer mehr, 185 Staaten also.

5 Charles-Edouard Held, „Quelques Réflexions relatives à la pratique récente de la Suisse concernant la reconnaissance de nouveaux États“, Schweizerische Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht, 3/1994, S. 221 f.

6 Le Monde, 8. Juni 1995.

Le Monde diplomatique vom 12.07.1996, von Francois-Gabriel Rousse