12.07.1996

Die virtuelle Welt der Brüsseler Sozialpolitik

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Die virtuelle Welt der Brüsseler Sozialpolitik

SEI es auf den Gipfeltreffen der G7 in Lille und Lyon oder kürzlich beim EU-Gipfel in Florenz: Nie zuvor haben die Regierenden vor der Öffentlichkeit derart viel Aufhebens um ihre Beschäftigung mit der Arbeitslosigkeit und der sozialen Frage gemacht. Das soziale Europa, wie es ständig beschworen, doch nie – oder fast nie – in die Tat umgesetzt wird, ist das ewige „Godot“ einer völlig nach Marktkriterien konstruierten Gemeinschaft. Wenn Unternehmer und Finanzwelt dem politischen Profil der EU bislang ihren Willen aufzwingen konnten, liegt ein Teil der Schuld auch bei den Gewerkschaften, insofern sie die europäische Dimension allzu selten in ihre Strategien einbezogen haben.

Von HUBERT BOUCHET *

Der europäische Einigungsprozeß hat dem Westen des Alten Kontinents den Frieden gebracht. Dem ist so, und dies ist keineswegs gering zu achten. Die Politiker, die in den fünfziger Jahren das Wagnis unternahmen, ein institutionelles Europa auf die Beine zu stellen, handelten im Geist eines Aristide Briand und seiner Parole „Nie wieder Krieg“ (Rede vor dem Völkerbund in Genf am 5. September 1929).1 Warum aber muß diese Verheißung ausgerechnet für jene Menschen in Enttäuschung umschlagen, die doch ihre Früchte ernten sollten: für die junge Generation von heute? Denn es ist eine schmerzliche Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit besonders drastisch gerade jene Altersgruppen trifft, deren Eltern unter den Kriegen der Vergangenheit am meisten gelitten haben. Ein Beispiel: In Spanien sind von den unter Fünfundzwanzigjährigen ohne weiterführende Schulbildung 45 Prozent arbeitslos. Dieser Jugend ist zwar ein Krieg erspart geblieben, doch sie bezahlt für die Utopie der europäischen Einheit einen unverhältnismäßig hohen Preis.

Nicht daß dieser Umstand – wie auch die allgemeine Situation von 18 Millionen Arbeitslosen und rund 53 Millionen Armen innerhalb der Europäischen Union – bei offiziellen Debatten totgeschwiegen würde, das nicht, doch man begnügt sich mit beschwörenden Gesten. So wurde die angekündigte Überwindung des „sozialen Bruchs“ von Jacques Chirac kaum sechs Monate nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Sein Eintreten für einen nebulösen „dritten Weg“, der Globalisierung und gesellschaftliche Stabilität auf einen Nenner bringen soll, auf dem Beschäftigungsgipfel der G7 vom April in Lille hatte nur 48 Stunden lang Bestand: Kaum hatte der ihn begleitende Arbeitsminister Jacques Barrot die nordfranzösische Metropole verlassen, bekannte er sich auch schon als Anhänger einer Flexibilisierung der Arbeit nach angelsächsischem Vorbild.

Beim gesamteuropäischen Gipfeltreffen fehlte es ebenfalls nicht an feierlichen Warnungen. EU-Kommissionspräsident Jacques Santer etwa erklärte am 29. April 1996 in Brüssel, daß „der gegenwärtige Zustand einfach unhaltbar ist, weil angesichts von 18 Millionen Arbeitslosen der Zusammenhalt unserer Gesellschaftsordnung akut gefährdet ist“; er sprach sich dafür aus, den EU-Gipfel in Florenz am 21. und 22. Juni zur Annahme seines „Vertrauenspakts für Beschäftigung in Europa“ zu bewegen. Nur widerstrebend stimmten die Fünfzehn zu, und dies ohne neue Mittel freizugeben. Ein Blick auf den Inhalt des Dokuments verrät, daß es in keinem Punkt – von einigen nützlichen Maßnahmen abgesehen, die jedoch das Übel nicht an der Wurzel packen – von der Logik abweicht, die das gegenwärtige Desaster verursacht hat.

Unter anderem ist davon die Rede, die Mittel der EU-Strukturfonds auf beschäftigungsfördernde Aktivitäten zu konzentrieren und vor allem die Kapazitäten des gemeinsamen Marktes durch die Schaffung eines europäischen Gesellschaftsrechts besser zu nutzen; des weiteren soll ein gesetzlicher Rahmen für technologische Neuentwicklungen geschaffen und die Stromwirtschaft vollständig liberalisiert werden. Die prekäre Beschäftigungssituation liefert Brüssel also einen höchst willkommenen Vorwand, seine Offensive gegen Unternehmen der öffentlichen Hand weiter voranzutreiben. Der jüngste Streich ist die am 20. Juni in Luxemburg beschlossene Aufhebung der Monopolstellung von Electricité de France (EDF), die ein Ende des Tarifausgleichs zur Folge hat!

Die Santer-Initiative beinhaltet ebenfalls die Umsetzung von Entscheidungen des Essener Gipfels vom Dezember 1994 über die Einleitung von vierzehn Projekten europaübergreifender Transportnetze. Dazu muß man wissen, daß die Kommission keinen leichten Stand gegenüber den Regierungen hat, die durch eine vollmundige Verkündung gemeinsamer „Entscheidungen“ noch keineswegs auch auf deren Umsetzung verpflichtet sind. Der Europapokal der Inkohärenz gebührt zweifellos der französischen Regierung, die am Vorabend der am 29. März eröffneten Turiner Regierungskonferenz ihren Partnerländern ein Memorandum unterbreitete, das insbesondere die Wiederaufnahme von „Großprojekten“ vorsieht, deren Finanzierung anschließend vom französischen Finanzminister Jean Arthuis verweigert wurde. In Florenz haben die fünfzehn Staats- und Regierungschefs nicht einen Ecu für diese Projekte bewilligt, aber natürlich wortreich versichert, daß man nach wie vor daran arbeiten werde...

Schließlich wird im Entwurf von Jacques Santer auch wieder die alte Litanei heruntergebetet, die sich zudem durch alle Verlautbarungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zieht: Die mutmaßliche Ursache für die Arbeitslosigkeit liege in der fehlenden „Flexibilität“ des Arbeitsmarktes und in den hohen Lohnkosten. Und dann werden die europäischen Sozialpartner – der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und die Vereinigung der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände Europas (Unice)2 – aufgefordert, gemeinsame Vorschläge zum Santer-Entwurf zu unterbreiten. Allein dadurch ist also die ganze Problematik bereits auf die von der Unice gewünschte Ebene verschoben. Warum wurde beispielsweise nicht vorgeschlagen, über die Verkürzung der Arbeitszeit und die Umverteilung der Einkommen zu diskutieren?

Die Schieflage des Santer-„Bündnisses“ ist damit unübersehbar geworden. Denn man drängt die Regierungen, die politischen Weichen für so seriöse Vorhaben wie Deregulierung, Wirtschafts- und Währungsunion zu stellen, ohne mit dem gleichen Nachdruck die soziale Frage anzugehen. Man wolle den noch ausstehenden Ergebnissen eines Dialogs nicht vorgreifen, lautete die Ausrede, doch dieser Dialog ähnelt jenen Bahnradfahrern, die versuchen, möglichst lange auf der Stelle zu treten und am Schluß die Nase vorn zu haben. Die Unice hat es in der Tat nicht eilig. Während ihre Repräsentanten alle Welt hinters Licht führen, indem sie die Gewerkschaftsvertreter in Auseinandersetzungen um zweitrangige Themen verwickeln, bringen die Firmenbosse ihre Geschäfte unter Dach und Fach und entfalten eine wirkungsvolle Lobbytätigkeit, der vor allem der Runde Tisch europäischer Industrieller (ERT) dient. So hält man die Galerie bei Laune, während die entscheidenden Dinge diskret hinter den Kulissen geregelt werden.

Der Europäische Gewerkschaftsbund trägt seinerseits zu dieser Abkopplung des Sozialen vom Politischen bei, insofern seine Satzung eine Konsenspflicht vorsieht, die allen Entscheidungsprozessen ein Schneckentempo aufzwingt. Der EGB erstickt am Gebot der Einigkeit.3 Mit welcher Zauberformel ließe sich in Brüssel eine nicht bloß künstliche Einigkeit unter den Gewerkschaften erreichen, die ja schon in ihren Ländern zutiefst gespalten sind? Derzeit steckt die Organisation in der Zwangsjacke eines laschen gemeinsamen Nenners. Das paßt natürlich der EU- Kommission und der Unice hervorragend in den Kram, die ja ihrerseits über eigene Kanäle verfügen, um sich untereinander abzusprechen.

Sollte die Aussicht auf Verhandlungen über das soziale Europa nicht dazu beitragen, die unterschiedlichen Ansätze und den Pluralismus der Ländergewerkschaften auch auf europäischer Ebene zur Geltung zu bringen? Eine synkretistische Fusion abzulehnen bedeutet noch längst nicht, daß man keine gezielten Aktionen beschließen und gemeinsam durchführen kann. Die Existenz mehrerer großer Gewerkschaftsverbände, die in der Runde der Fünfzehn und darüber hinaus soziale Forderungen erheben, könnte womöglich entscheidend dazu beitragen, ein europäisches „Bürgerbewußtsein“ zu entwickeln, das bislang nur fiktiv vorhanden ist.

Die Bilanz der Sozialvereinbarungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften innerhalb der EU ist schnell gezogen: Es gibt nur eine! Es handelt sich um das Recht auf einen (unbezahlten) Erziehungsurlaub von drei Monaten, der vor dem achten Lebensjahr des Kindes in Anspruch genommen werden muß. Nach der Unterzeichnung einer Rahmenvereinbarung zwischen den Sozialpartnern im Dezember 1995 wurde vom Ministerrat am 3. Juni 1996 eine entsprechende Entschließung verabschiedet, wenn auch nur von vierzehn Ländern, denn Großbritannien hat die Sozialcharta des Maastrichter Vertrages nicht unterzeichnet.

Die andere einigermaßen bedeutsame soziale Entschließung ermöglicht die Bildung europäischer Betriebsräte in Unternehmen, die mehr als tausend Angestellte beschäftigen und in mindestens zwei Staaten vertreten sind. Sie wurde im September 1994 vom Ministerrat verabschiedet, ohne daß ihr – wegen der ablehnenden Haltung der Arbeitgeberseite – eine Einigung zwischen EGB und Unice zugrunde lag. Ein unbezahlter Erziehungsurlaub und eine Einrichtung zur Information und Beratung von Angestellten, die deutlich weniger Kompetenzen hat als die entsprechenden Einrichtungen in Frankreich – auch das ist gewiß nicht schlecht, aber doch nicht unbedingt eine revolutionäre Errungenschaft!

In Bereichen, in denen London gemäß der Einheitlichen Europäischen Akte (die es ohne jede Einschränkung unterzeichnet hat) über ein Interventionsrecht verfügt, sind Blockierungen ebenso vorprogrammiert wie in Fällen, in denen Einstimmigkeit gefordert ist. So haben kürzlich die Vertreter John Majors bei drei Entscheidungsvorhaben ihr Veto eingelegt: einmal, als 1997 zum „Europäischen Jahr gegen Rassismus“ proklamiert werden sollte, sodann im Zusammenhang mit der gleichberechtigten Beteiligung von Frauen und Männern an Entscheidungsprozessen und schließlich in der Frage, wie man die Vergleichbarkeit von Berufsabschlüssen verbessern kann. Nicht verhindern konnten sie jedoch, daß mit qualifizierter Mehrheit ein gemeinsamer Beschluß angenommen wurde, der für Arbeiter im Ausland die Anwendung der sozialen Bestimmungen des Gastlandes vorsieht, insbesondere im öffentlichen Sektor und im Baugewerbe.

Zu dem mangelnden politischen Willen kommen also die völlig überzogenen Blockademöglichkeiten, die den Konservativen jeglicher Couleur zugestanden wurden. Zugestanden von wem? Von denen, die die Verträge (Einheitliche Akte und Maastrichter Vertrag) ausgehandelt haben; die aus deren Geltungsbereich bewußt die Fragen der Löhne und des Rechts auf Mitbestimmung, auf Streik und Aussperrung ausgeklammert haben, während sie zugleich eine Einstimmigkeitsregel – also ein Vetorecht – in Sachen Sozialversicherung, Kündigungsschutz und Arbeitnehmervertretung in den Betrieben und so weiter einbauten. In gewissem Sinne haben die europäischen Regierungen – darunter auch die des sich als links oder sozialdemokratisch definierenden Lagers – streng darauf geachtet, daß sich mit den Verträgen kein soziales Europa schaffen läßt, wogegen sie dem Europa der Kapitalwirtschaft Tür und Tor öffneten. Damit haben Regierungen, die in ihren eigenen Ländern durchaus keine Politik des Thatcherismus betrieben, gemeinsam eine ultraliberale europäische „Konstruktion“ in die Welt gesetzt.

Wie Ezra Suleiman, Direktor des Zentrums für Europastudien der Universität Princeton, zu Recht bemerkt: „Das neoliberale Europa wurde durch einen Diskurs legitimiert, der die damit verbundenen Belastungen zu mildern versprach, indem den Bürgern zum Ersatz ein gleichermaßen unangreifbares wie unrealisierbares Ziel in Aussicht gestellt wurde: das soziale Europa. Man hat also unter Berufung auf ein soziales Europa ein neoliberales Europa geschaffen. Man hat mit anderen Worten ein Europa errichtet, wie es sich die Bürger mehrheitlich gerade nicht wünschten, indem man ihnen versicherte, man werde gleichzeitig oder doch binnen kurzem etwas zustande bringen, was für die allermeisten akzeptabel wäre.“4 Eine Art „Godot“, auf das man schon seit gut vierzig Jahren wartet ...

Kann womöglich die laufende Regierungskonferenz mit einem vierten Vertragswerk etwas schaffen, was drei Verträge (Rom, Einheitliche Akte, Maastricht) versäumt haben? Jacques Chirac, der bei der Proklamierung hehrer Absichten noch nie knauserig war, hat gefordert, eine Charta der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte zu erarbeiten und ihr die Sozialcharta des Maastrichter Vertrages einzugliedern. Da ließen sich noch ganz andere Vorschläge formulieren, deren Realisierung ein Indiz dafür wäre, ob die Kluft zwischen Reden und Handeln sich erweitert oder nicht.

Leider besteht kein Anlaß zu übermäßigem Optimismus. Schließlich hat Europa bislang seine sozialen Errungenschaften nicht etwa ausgebaut, sondern war zunehmend mit dem Abriß dessen beschäftigt, was in vielen der einzelnen Länder mühsam aufgebaut worden ist; dazu gehören etwa ein breites Sozial- und Dienstleistungswesen und eine relative Beschäftigungssicherheit. Die Europäische Union hat eine Globalisierung gefördert, die ohne sie bei weitem nicht so leicht vorangekommen wäre. Und sie hat dabei auf eine Ideenwelt zurückgegriffen, der die Geschichte und die politische Praxis längst den Garaus gemacht hatten: auf die Vorstellung nämlich, die ökonomische Dimension sei von der sozialen zu trennen, erstere gehe der letzteren voraus, sei also ihre notwendige und hinreichende Voraussetzung.

Mit ihrer Verlagerung in einen europäischen, dann in einen globalen Kontext ist die gewerkschaftliche Arbeit schwieriger geworden und hat auch erheblich an Substanz verloren. Die Internationalisierung der Unternehmen hat die Arbeitnehmervertretungen in immer weitere Ferne gerückt, bis sie schließlich nur noch „virtuelle“ Entscheidungszentren waren. Heute passiert es immer seltener, daß ein Gewerkschafter noch einen wirklichen Entscheidungsträger zu Gesicht bekommt. Der Gesprächspartner auf Arbeitgeberseite ist zumeist nur der Erfüllungsgehilfe einer schwer zu fassenden Macht, wenn diese denn überhaupt noch identifizierbar ist. Auf diese Weise erobert sich die mörderische Ausprägung eines blinden, von unsichtbarer Hand gesteuerten und zunehmend wahnhafte Züge annehmenden Wettbewerbs immer größere Herrschaftsbereiche.

dt. Christian Hansen

1 Vgl. Gérard Bossuat, „Les Fondateurs de l'Europe“, Paris (Belin) 1994.

2 Der EGB vereinigt 59 Arbeitnehmerorganisationen aus 28 Ländern. Nach wie vor nicht aufgenommen ist insbesondere die französische CGT.

3 Die andere Arbeitgeberorganisation, der Europäische Zentralverband der Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung, spielt aufgrund seiner Zusammensetzung zwangsläufig eine immer unbedeutendere Rolle.

4 Ezra Suleimann, „Europe et capitalisme“, Le Monde, 18. April 1996.

* Generalsekretär des Verbandes der leitenden Angestellten und Ingenieure in der Gewerkschaft Force ouvrière.

Le Monde diplomatique vom 12.07.1996, von Hubert Bouchet