12.07.1996

Schlank und flexibel hinein in die Armut

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Schlank und flexibel hinein in die Armut

IM Mai 1994 befand sich die mexikanische Wirtschaftspolitik so sehr in Einklang mit dem Kanon der kapitalistischen Orthodoxie, daß die OECD Mexiko zur Belohnung als fünfundzwanzigstes Mitglied in den Club der reichsten Länder der Welt aufnahm. Sieben Monate später war das Land pleite, und der Aufstand in Chiapas weitete sich aus... In Südkorea streiken gegenwärtig die Arbeiter gegen die „Reformen“, die die OECD dem Land – als Voraussetzung für die Aufnahme – abverlangt. Denn die Wirtschaftsstrategie der Pariser Experten besteht im wesentlichen in einer „Flexibilisierung“ — die nur „Wettbewerbsfähigkeit“ und Lohnkürzungen im Auge hat.

Von SERGE HALIMI

Wäre die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nicht reif für die Privatisierung? Während anderen allenthalben Einsparungen abverlangt werden, hat sich ihr Jahresbudget (550 Millionen Mark) seit 1985 verdoppelt. Entgegen der eigenen Empfehlung, immer auf dem „neusten Stand“ zu sein, um künftige Ereignisse „antizipieren“ zu können, repetiert die Organisation ihrerseits ewiggleiche „Studien“ aus dem Gedankengut der ultraliberalen Enzykliken. Und ihre Voraussagen sind zunehmend gewagt: Zwischen Dezember 1995 und Mai 1996 mußte die OECD ihre Wachstumsprognosen für Deutschland (für das Jahr 1996!) um das Fünffache reduzieren. Da sie also auf dem Markt für Wirtschaftsanalysen kaum „wettbewerbsfähig“ ist, hätte sie sich eigentlich – würde sie die eigenen Kriterien auch einmal auf sich selber anwenden – eine „Umstrukturierung“ via Privatisierung redlich verdient.

Hinzu kommt, daß die OECD unablässig die hohe Belastung des Steuerzahlers brandmarkt: Warum aber sollte dieser dann ausgerechnet eine Organisation finanzieren, die nur eins im Kopf hat, nämlich: ihm die wenigen sozialen Rechte zu nehmen, die ihm der Markt bislang noch läßt? Könnten nicht die Unternehmer, die ohnehin zahlreiche Stiftungen unterhalten und zudem über die Gunst der meisten Wirtschaftsjournalisten verfügen, auch diese Organisation in ihre Gehaltslisten aufnehmen, und sie zu ihrem gefügigen, internationalen, ja vielsprachigen Fürsprecher ernennen.

Auf diese Weise könnten sich die sorgengeplagten Regierungen einer Organisation entledigen, von der sie ständig nur gemaßregelt werden. So erging es binnen eines Jahr: der Schweiz, weil sie die Kantonalbanken nicht privatisiert hatte, obwohl diese „keine Existenzberechtigung mehr besaßen“, den kanadischen Bundesstaaten Quebec und Ontario, weil sie im Dezember letzten Jahres hinter den gesteckten Zielen „zurückgeblieben waren und immer noch nicht die gebotenen einschneidenden Maßnahmen zur Ausgabenreduzierung ergriffen hatten“, Deutschland, weil die Tarifverhandlungen nur „enttäuschende“ Ergebnisse gezeitigt hatten und „erstaunliche Lohnerhöhungen“ mit sich brachten, Frankreich, weil es im September 1995 immer noch keine „spürbar“ härtere Gangart eingeschlagen hatte, immer noch keine „einschneidenden Kürzungen bei der Zahl der Beamten und bei den Sozialausgaben“ vorgenommen hatte und auch immer noch nicht „den Mindestlohn im Verhältnis zum Durchschnittslohn gesenkt hatte“.

Von Paris aus, wo die Organisation komfortabel residiert, erteilt sie wirklich jeder Regierung ihre – wie man sieht: oft wirkungsvollen – Sparempfehlungen. Leider gibt es aus ihrem Blickwinkel am düsteren Horizont ihrer Vorhaltungen fast keinen Lichtstrahl, außer im Großbritannien John Majors. „Wenn jeder britische Wähler ein Wirtschaftsexperte der OECD wäre, dann könnten die Konservativen mit einem Erdrutschsieg rechnen“, war vor knapp einem Monat der ironische Kommentar der Londoner Wochenzeitung The Economist.

„Die Umsetzung beschleunigen“: Unter diesem Titel formulierte die OECD ihre Ungeduld. Im Juni 1994 hatte die Organisation ihre arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen formuliert.1 Zwei Jahre später bringt sie die wichtigsten davon in Erinnerung: „Man muß die Arbeitszeit flexibler gestalten, ein unternehmerfreundliches Klima schaffen, die Lohnkosten flexibilisieren, indem man die Einschränkungen abschafft, die verhindern, daß die Löhne den ortsüblichen Bedingungen und dem Ausbildungsniveau des einzelnen angepaßt werden können, und man muß die Kündigungsschutzbestimmungen überprüfen, die verhindern, daß im Privatsektor mehr Arbeitsplätze geschaffen werden.“2 Immer wieder formuliert die OECD den zentralen Gedanken dieses ehrgeizigen – in ihren Augen nur unzureichend umgesetzten – Gesellschaftsprojekts: Wer die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen will, muß akzeptieren, daß die gesellschaftlichen Unterschiede wachsen – und diesen Prozeß notfalls gar beschleunigen.

Wo interessierte Kräfte schrankenlos walten

GENAU diese „schwierige Entscheidung“ wollen die Experten der Organisation im Namen der Beschäftigung allen Regierungen abverlangen: „In den meisten Ländern, in denen die Arbeitslosigkeit sich wieder dem Stand von vor zehn Jahren angenähert hat oder sogar darunter liegt, haben sich die Einkommensunterschiede erheblich vergrößert. In den Ländern, in denen die Systeme der sozialen Sicherung und der Transferzahlungen eine Vergrößerung der Ungleichheiten verhindern sollen, ist die Arbeitslosigkeit dagegen kaum zurückgegangen.“ Die „Studie“ räumt jeden Zweifel bezüglich der Prioritäten der OECD aus, wenn sie die Vergrößerung der Ungleichheiten als „eine Notwendigkeit der wirtschaftlichen Logik“ definiert, das Festhalten an einer adäquaten sozialen Sicherheit hingegen dem Einfluß „mächtiger Interessengruppen“ zuschreibt.

Die französische Streikbewegung im November und Dezember 1995 sowie die fast schon rituelle Koinzidenz zwischen der Ankündigung astronomischer Prämien für einige Unternehmensbosse und den Massenentlassungen waren für einige der Anlaß, die angebliche „Ausgewogenheit von Gerechtigkeit und Effizienz“ zu hinterfragen.

Die OECD bringt die Dinge auf den Punkt. Sie verweist darauf, wie irrtümlich es ist, „sich in einem bestimmten Moment auf die Verteilung der Einkommen und Gewinne“ zu konzentrieren, und erteilt uns eine virtuose Lektion in Wirtschaftspolitik. Zwar gebe es „in manchem Jahr“ zu viele Beschäftigte mit geringem Einkommen, aber, so versichert uns die OECD, „viele von ihnen gelangen in den folgenden Jahren in höhere Gehaltsstufen“. Auch für die Frage, wie sich bei solch hoffnungsvoller „Fluktuation“ auf dem Arbeitsmarkt die fortgesetzte Langzeitarbeitslosigkeit erklärt, weiß die OECD eine Antwort: „Dieses Phänomen ist auf übertrieben strenge Kündigungsschutzbestimmungen, zu großzügige Sozialleistungen, zu hohe Mindestlöhne und auf die bindende Kraft von Tarifabschlüssen zurückzuführen.“

Was tun, wenn die Ungleichheiten unerträglich bleiben, obwohl wir uns im Paradies der „Flexibilität“ befinden? „Bei der dynamischen Annäherung an Gerechtigkeit und Effizienz“, so die OECD, „muß man die Tatsache berücksichtigen, daß Einkommensunterschiede ein bedeutender Anreiz dafür sind, die Kenntnisse zu erweitern und zusätzliche Qualifikationen zu erwerben.“ Heißt das, daß die Ungleichheit die Universitäten füllt? Eine wahrhaft erschlagend dynamische Theorie des „Humankapitals“!

Bleibt ein Problem, das zwar nirgends einer Lösung entgegensieht, aber zumindest klar benannt wird: „Wenn Arbeit nichts einbringt, dann werden die Menschen keine Lust haben zu arbeiten.“ Das klingt einleuchtend. Wie aber kann man den „faulen Menschen“ „die Lust zu arbeiten“ wiedergeben und ihnen dabei möglichst so gut wie „nichts“ bezahlen? Die ultraliberalen Denker Amerikas, die wie viele andere den Nichtstuern den heilsamen „Stachel der Armut“ ins Fleisch bohren wollen, haben vorgeschlagen, daß man diesen Personen die öffentliche Unterstützung entziehen solle, um sie aus ihrer „Kultur der Abhängigkeit“ herauszuholen. Ähnlich die OECD: Damit die Sozialleistungen nicht länger in Konkurrenz zu den Niedriglöhnen gerieten, müsse man „die Großzügigkeit der Arbeitslosenversicherung und der damit verbundenen Sozialleistungen vermindern“.

Darüber hinaus, so fügt die OECD hinzu, birgt ein zu hoher Standard bei der Sozialversorgung die Gefahr, „Lohnforderungen und damit auch die Arbeitslosigkeit in die Höhe zu treiben, weil der Verlust des Arbeitsplatzes die Beschäftigten weniger teuer zu stehen kommt“. Die Analyse strotzt nur so vor hellsichtigem Zynismus: Damit die Beschäftigten selbst bei schlechtesten Arbeitsbedingungen nicht kündigen oder damit sie jede Arbeit annehmen, müsse man ihnen begreiflich machen, daß jede Phase von Arbeitslosigkeit verheerende finanzielle Folgen für sie habe. Aus diesem Grund sei es im Rahmen einer vernünftigen Beschäftigungspolitik unausweichlich, Maßnahmen zu beschließen, „die zu einer größeren Differenzierung bei den Löhnen beitragen“ und „die Großzügigkeit bei den Sozialleistungen“ einschränken helfen. An den Strukturanpassungen, die in den reichen Ländern bereits erfolgt sind, läßt sich ablesen, daß diese Empfehlungen, die eine größere Ungleichheit hervorbringen, Gehör finden.

Doch das Sekretariat der OECD hat Eile und hält die derzeitigen „Fortschritte“ für „unzureichend“. Man trete nun, so beschreibt es seine nächsten Aufgaben, „in die Phase der Überwachung der von jedem Land verfolgten Politik“.

Eines der wenigen Länder, das von einer solchen „Überwachung“ wenig zu fürchten hat, ist Großbritannien. Zusammen mit Neuseeland hat es die meisten Maßnahmen ergriffen, die „in die richtige Richtung gehen“. Eine andere „Studie“ der OECD3 macht die britischen Konservativen zu Musterschülern – und Ideengebern – der von der Organisation verfolgten Strategien. Gleichzeitig vermittelt diese Studie eine genauere Vorstellung von der „Marschroute“ und den Zielen, die den Pariser Experten vorschweben: „Aufgrund der umfassenden Reformen, die Großbritannien in den achtziger Jahren durchgeführt hat, wird das Land schon jetzt einer Vielzahl von Empfehlungen gerecht, die in der ,Beschäftigungs-Studie‘ ausgesprochen wurden. Diese Reformen haben die Mechanismen der Lohn- und Preisfestsetzung, die bis dahin zu sehr von den Marktmechanismen abgetrennt waren, ebenso modernisiert wie die Arbeitsverhältnisse und das in großen Teilen überholte System der Berufsausbildung.“ In Großbritannien gibt es heute einen der am wenigsten reglementierten Arbeitsmärkte aller OECD-Länder, und die Ausgleichszahlungen bei Einkommensverlusten sowie die Höhe der Sozialleistungen sind allgemein niedrig“.

In der „Studie“ werden einige Erfolge der britischen „Reformen“ aufgezählt: Schwächung des „Gewerkschaftsmonopols“, gestiegene Rentabilität der Unternehmen, ein Wachstum der Realeinkommen, das hinter dem der Produktivität zurückbleibt (was „dazu beiträgt, Arbeitsplätze zu schaffen“)4, „eine geringere Streikhäufigkeit“ und „eine größere Flexibilität bei Einstellungen und Entlassungen“. Und das Ergebnis: „Gegenwärtig gibt es nur wenige Fälle, in denen jemand besser steht, wenn er öffentliche Leistungen kassiert, als wenn er arbeitet.“

John Edmonds, Generalsekretär der Gewerkschaft GMB, schildert, was diese „deutlich verbesserte Situation“ für die Beschäftigten in Großbritannien bedeutet.5 Leider findet man kein Wort davon in der Untersuchung der OECD. Shirley ist neunundvierzig, arbeitet in Liverpool und möchte aus Angst vor Entlassung lieber anonym bleiben. Ihre wöchentliche Arbeitszeit beträgt neununddreißig Stunden. Sie macht morgens fünfzehn und mittags dreißig Minuten Pause. Nachmittags gibt es nur dann eine Pause, wenn die Hitze in der Fabrik unerträglich wird. An ihrer Maschine näht sie dreihundert Kleidungsstücke pro Tag und verdient brutto 113 Pfund (270 Mark) in der Woche. In Saint Helens werden Schlosserlehrlinge gesucht, denen man für eine 39-Stunden- Woche 59 Pfund (140 Mark) zahlen will. Und in diesem Großbritannien, wo man sich des Mindestlohns entledigt hat, gibt es noch viele andere, äußerst flexible Stellen: Verkäufer, die 1,98 Pfund (4,70 Mark) in der Stunde verdienen, oder Kellner, die von 19 bis 1 Uhr nachts arbeiten und in dieser Zeit 20 Pfund (47 Mark) verdienen. Und derzeit plant die Regierung Major ein weiteres Gesetz zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit: Arbeitslose, die nicht umgehend jede ihnen gebotene Arbeit (ganz gleich zu welchem Lohn!) annehmen, sollen zukünftig keine Unterstützung mehr erhalten.

Doch auch die OECD muß zugeben – und sie tut dies, ohne einen Anflug von Verunsicherung erkennen zu lassen –, daß „die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze gegenüber dem Frühjahr 1990 um 1,1 Millionen zurückgegangen ist“; daß es „nach vier Jahren Wirtschaftsaufschwung immer noch fast 950000 Personen (gibt), die mehr als ein Jahr arbeitslos sind“6; daß Großbritannien „beim Ausbildungsniveau der Sechzehn- bis Neunzehnjährigen noch hinter seinen schärfsten Konkurrenten“ liegt; daß „die Einkommensunterschiede schneller zugenommen (haben) als in den meisten anderen OECD-Ländern“. Mehr noch: Die Lohnunterschiede sind heute größer als 1886, zur Zeit der industriellen Revolution!7 Angeblich alles Zeichen der „Effizienz“, die nur dazu anregen, die eigenen „Studien fortzusetzen“.

Man muß sich den Tatsachen beugen: Alle diese pseudowissenschaftlichen Berichte, die die meisten Medien aus Überzeugung oder aus Trägheit bereitwillig verbreiten, haben auch die Aufgabe, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Dies fällt um so leichter, als man die Angelegenheit für eine „technische“ hält, die man nur zu gerne den „Experten“ überläßt.

Um dem Sozialabbau Einhalt zu gebieten, muß man die Theorie und die Ideologie in Frage stellen, auf denen er basiert. Ihm die Legitimationsgrundlage zu entziehen ist einfacher, als man glaubt.

Ein Beispiel. Zu dem Zeitpunkt, als die OECD ihre „Studien“ veröffentlichte, hat das Weltwirtschaftsforum von Davos seinen Jahresbericht über die weltweite Wettbewerbsfähigkeit erstellt8. Ein unerschwingliches Werk (685 Dollar) und ein abschreckender Anblick (Tausende von Zahlen): Es wurde alles getan, um Normalsterbliche von der Lektüre abzuhalten. Dies ist bedauerlich, denn, mehr noch als die Schlußfolgerungen, ist die angewandte Methodik dazu angetan, uns die Augen zu öffnen.

Die Schlußfolgerungen hätten auch von der OECD, vom Internationalen Währungsfonds (IWF), von der Weltbank, von der Financial Times, von der französischen Staatsbank, von Raymond Barre und anderen stammen können: All jene Länder, die „kleine, offene Ökonomien haben, in denen der Staat nur eine bescheidene Rolle spielt und die Steuerbelastung niedrig ist“, werden als besonders wettbewerbsfähig eingestuft. Ein Modell, das in Davos auch einen Namen bekommen hat: „Umschlagplatz-Wirtschaft“ (Singapur, Hongkong, Luxemburg, Schweiz) heißt es. Daneben gibt es gerade in der Alten Welt Nationen, die durch ihr nachlassendes Wachstumstempo deutlich ins Hintertreffen geraten sind: „Der Wohlfahrtsstaat ist auch für reiche Länder — wie Frankreich, Deutschland und Schweden — eine Belastung.“

Ein einziges der Länder der Europäischen Union bekommt in puncto „Wettbewerbsfähigkeit“ eine relativ gute Note bescheinigt: Großbritannien natürlich. Gleichwohl ist das seltsam. Schließlich weiß sogar ein schlechter Student der Wirtschaftswissenschaften, daß es eine objektive Größe gibt, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu bewerten: die Handelsbilanzsituation. Im Fall Großbritanniens, wo es inzwischen kaum noch Industrie gibt, schließt diese Bilanz trotz der Einkünfte aus den Erdölverkäufen mit einem großen Defizit. In Frankreich, Schweden und Deutschland gibt es im Gegensatz dazu beträchtliche Handelsbilanzüberschüsse.9 Worin also ist Großbritannien den drei anderen Länder überlegen?

Hier wird die Frage der Methodologie besonders wichtig. Für Jeffrey Sachs, seines Zeichens Professor an der Harvarduniversität und verantwortlich für den Davoser Bericht – wie in der Vergangenheit bereits für die in Bolivien und Rußland angewandte „Schocktherapie“ –, basiert die Bestimmung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit „auf Institutionen und politischen Weichenstellungen, die ein schnelles Wirtschaftswachstum ermöglichen“. Die von ihm berücksichtigten Kriterien sind: „Öffnung der Wirtschaft“, „Entwicklung der Finanzmärkte“, „Leistungsfähigkeit der politischen Institutionen“ und „Flexibilität des Arbeitsmarktes“. Nicht zu vergessen – und auch das wird mathematisch errechnet – die „Vermeidung der Lohnnebenkosten“.

Zweitausend Unternehmenschefs haben den umfangreichen Fragebogen von Jeffrey Sachs beantwortet. Dann wurde die unumstößliche Reihenfolge festgelegt. Beim Ausbildungssystem landete Großbritannien nur auf dem 35. von 49 Plätzen, beim Anteil des Nationaleinkommens, der gespart wird und für Investitionen zur Verfügung steht, auf dem 48. und vorletzten Platz. Trotzdem hat es Deutschland nach streng wissenschaftlichen Kriterien geschlagen, weil es den 5. Platz in der „Bereitschaft zu Umstrukturierungen“, den 4. Platz in der „Flexibilität bei Einstellungen und Entlassungen“ und den 2. Platz bei den „Kosten von Telefonverbindungen ins Ausland“ erreichte... Bei der Arbeiterin Shirley in Liverpool ist kein Fragebogen angekommen. Aber derleiWissenschaft ist zu hoch für sie. Und glücklicherweise wacht ja die OECD über ihr Wohl.

dt. Christian Voigt

1 Zur Analyse dieser OECD-Studie über die Beschäftigungssituation vgl. Serge Halimi, „Les chantiers de la démolition sociale“, Le Monde diplomatique, Juli 1994.

2 „Accélérer la mise en ÷uvre: le chômage dans la zone de l'OCDE 1950-1997“, OECD, Paris 1996. Die folgenden Zitate stammen aus dem gleichen Dokument. Zum Thema einer Beschäftigungsstrategie, die die Flexibilisierung der Arbeit durch eine Ankurbelung der Industrie und durch den Kampf gegen Ungleichheit ersetzt, vgl. Jonathan Michie und John Grieve Smith (Hrsg.), „Creating Industrial Capacity: Toward Full Employment“, Oxford (Oxford University Press) 1996.

3 „Etudes économiques de l'OCDE, Royaume-Uni, 1996“, OECD, Paris 1996. Die folgenden Zitate stammen aus dieser Untersuchung.

4 Der OECD zufolge sind „die Bruttolöhne im Unternehmensbereich zwischen 1991 und 1995 um 1,7 Prozent zurückgegangen, während die Arbeitsproduktivität um 8,5 Prozent gestiegen ist“.

5 John Edmonds, „Virginia Values“, The Guardian, London, 12. Juni 1996.

6 Aus den Schaubildern in „Etudes économiques de l'OCDE, Royaume-Uni, 1996“, a. a. O., geht hervor, daß der Anteil der Langzeitarbeitslosigkeit an der gesamten Arbeitslosigkeit zwischen 1991 und 1995 von 27,1 auf 43,2 Prozent gestiegen ist.

7 Siehe Stephen Machin, „Wage inequality in the UK“, Oxford Review on Economic Policy, Bd. 12, Nr. 1, S. 51. Vor 1886 gab es darüber noch keine Statistiken.

8) World Economic Forum, „The Global Competitiveness Report 1996“, Genf 1996, 245 Seiten, 685 Dollar. Die folgenden Zitate stammen aus diesem Bericht.

9 Für die Zeit von 1994 bis (einschließlich) 1996 gibt die OECD für die Handelsbilanzen der drei Länder folgende Schätzungen ab (in Milliarden Dollar): Deutschland +191,1; Frankreich +29,7; Großbritannien -56,6 („Perspectives économiques de l'OCDE, 59“, OECD, Paris, Juni 1996).

Le Monde diplomatique vom 12.07.1996, von Serge Halimi